diskussion – Sozialer Widerstand https://swiderstand.blackblogs.org Für die soziale, antipolitische und antinationale Selbstorganisation des Proletariats! Thu, 06 Feb 2025 16:50:17 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://swiderstand.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1128/2022/05/cropped-28385945-32x32.png diskussion – Sozialer Widerstand https://swiderstand.blackblogs.org 32 32 Neue Broschüre: Weltkapitalismus und globaler Klassenkampf https://swiderstand.blackblogs.org/2025/01/04/neue-broschuere-weltkapitalismus-und-globaler-klassenkampf/ https://swiderstand.blackblogs.org/2025/01/04/neue-broschuere-weltkapitalismus-und-globaler-klassenkampf/#respond Sat, 04 Jan 2025 22:51:15 +0000 https://swiderstand.blackblogs.org/?p=802
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Einleitung

Der Weltkapitalismus

I. Der globale Kapitalismus ist die Interaktion der Nationalkapitale

1. Die Nationalkapitale

2. Die globale sozialökonomische Interaktion der Nationalkapitale

II. Die geschichtliche Herausbildung des Weltkapitalismus

1. Kleinbürgerliche Warenproduktion

2. Handelskapital

3. Vorindustrielle kapitalistische Warenproduktion

4. Der Industriekapitalismus als herrschendes Produktionsverhältnis

5. Die relativ selbständige Herausbildung bürgerlicher Nationalstaaten in Eurasien

6. Kapitalistischer Imperialismus und nationale „Befreiung“

7. Krieg und Frieden im Weltkapitalismus

8. Die Herausbildung eines internationalen Finanzsystems

9. Kapitalistisches Patriarchat und bürgerliche Frauenemanzipation

III. Die krisenhafte globale Vermehrung der Nationalkapitale

1. Kapitaluntervermehrungskrisen

2. Zyklische Krisen während der beschleunigten Kapitalvermehrung

3. Die strukturelle Profitproduktionskrise

4. Die Todeskrise des globalen Staatskapitalismus

5. Die Verschärfung der strukturellen Profitproduktionskrise im 21. Jahrhundert

6. Die permanente biosoziale Reproduktionskrise

Klassenkampf, institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung und mögliche Weltrevolution

I. Der reproduktive Klassenkampf

1. Kapitalvermehrung und Klassenkampf

2. Konspirativ-illegaler Alltagsklassenkampf

3. Der Klassenkampf erwerbsloser ProletarierInnen

II. Institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung und kommunistische Bewegung

1. Gewerkschaften

2. Vormarxistischer Kommunismus

3. Marx und Engels

4. Sozialdemokratie, Marxismus-Leninismus und Trotzkismus

5. Rätekommunismus

6. Der italienische „Linkskommunismus“

7. Der Anarchismus

8. Der antipolitische und gewerkschaftsfeindliche Kommunismus

III. Die mögliche soziale Weltrevolution

1. Die revolutionäre Situation

2. Die revolutionäre Klassenkampforganisation

3. Die revolutionäre Selbstaufhebung des Weltproletariats

Konspirativ-illegaler Alltagsklassenkampf

Die Lohnabhängigen sind auf den Arbeitsmärkten, auf denen sie ihre Arbeitskräfte vermieten, und auf den Konsumgütermärkten, auf denen sie die Waren und Dienstleistungen für ihre biosoziale Reproduktion kaufen und mieten, kleinbürgerliche Marktsubjekte. Diese Kleinbürgerlichkeit der ProletarierInnen nimmt mit der zunehmenden Fettschicht der Kapitalvermehrung und mit dem Anstieg der Löhne – auch als Folge des proletarischen Klassenkampfes – zu. Auch gilt: Je qualifizierter Arbeitskräfte sind, umso kleinbürgerlicher sind sie auch in der Regel.

Als kleinbürgerliche Marktsubjekte konkurrieren ProletarierInnen auch untereinander um Jobs und seltene Konsumgüter, zum Beispiel in den Städten um bezahlbare Mietwohnungen. Als Konkurrenzindividuen sind ProletarierInnen auch empfänglich gegenüber Chauvinismen wie Nationalismus, Rassismus und Sexismus. Nationalität, Hautfarbe, biologisches Geschlecht, soziale Geschlechterrolle und individuelle Geschlechtsidentität – alles wird zum Identitätskostüm im permanenten Kampf Aller gegen Alle.

Als Ausbeutungsobjekte produzieren die ProletarierInnen den Mehrwert für die Bourgeoisie und ihr eigenes Elend. Einigen Lohnabhängigen ist die Entfremdung und Ausbeutungsobjektivität durchaus bewusst. Andere blenden sie aus und kompensieren sie mit ProduzentInnenstolz und Unternehmenspatriotismus. Mensch ist auf die eigene Leistung und auf „die Firma“ stolz. Auch ProduzentInnenstolz und Unternehmenspatriotismus nehmen in der Regel mit der Qualifikation der Lohnabhängigen zu. Sie gehen oft mit einer sozialdarwinistischen Abgrenzung gegenüber den proletarischen Unterschichten einher

Innerhalb der Privathaushalte, in denen sich ProletarierInnen biosozial reproduzieren, sind ProletarierInnen ebenfalls kleinbürgerlich. Sowohl als Singles als auch als Beziehungs- und Familienmenschen. Auch in vielen proletarischen Kleinfamilien weltweit reproduziert sich das Patriarchat. Dieses kommt darin zum Ausdruck, dass die meisten innerfamiliären biosozialen Reproduktionstätigkeiten von den Frauen verrichtet werden. Auch nicht wenige proletarische Familien sind durch körperliche, psychisch-emotionale und sexualisierte Gewalt geprägt. Die meiste körperliche und sexualisierte Gewalt geht dabei von den Männern aus. Es gibt aber auch Frauen, die „ihren“ Männern durch Psychoterror zusetzen, oder sie gar körperlich misshandeln. Die bürgerliche Kleinfamilie ist oft ein asoziales Gewaltverhältnis.

Das sexuelle Elend auch von Lohnabhängigen kommt planetar in der Prostitution, einer Ware-Geld-Perversion, zum Ausdruck. Es sind hauptsächlich Männer, die gegen Geld Frauen oder andere Männer ficken. Lohnabhängige Frauen, die Callboys mieten, stellen eine Minderheitstendenz in der Prostitution dar.

Auch als StaatsbürgerInnen sind ProletarierInnen kleinbürgerlich. In den politischen Demokratien ermächtigen sie als Stimmvieh die BerufspolitikerInnen den Staat zu regieren oder systemloyal in ihm zu opponieren. BerufspolitikerInnen – egal ob regierend, opponierend, mittig, links oder rechts – sind grundsätzlich objektiv strukturelle Klassenfeinde des Proletariats. Sie leben vom politisch angeeigneten Mehrwert und organisieren gesamtgesellschaftlich-staatlich die kapitalistische Ausbeutung der Lohnarbeit. Indem ProletarierInnen in freien Wahlen – in denen weder die kapitalistischen Produktionsverhältnisse noch der Staat als politischer Gewaltapparat der Kapitalvermehrung zur Wahl steht – die BerufspolitikerInnen dazu ermächtigen, entweder den Staat zu regieren oder systemloyal in ihm zu opponieren, trinken sie noch den Kakao, durch den sie gezogen werden. Viele proletarische UnterschichtlerInnen spüren das instinktiv oder wissen dies ganz genau – auch Dank der materialistisch-dialektischen Gesellschaftsanalyse – und wählen deshalb nicht mehr.

Nur im und durch Klassenkampf ist das Weltproletariat tendenziell und potenziell revolutionär. Im globalen Klassenkampf entfaltet sich der Widerspruch zwischen den kleinbürgerlichen und den revolutionären Tendenzen des planetaren Proletariats. Nur im und durch Klassenkampf können sich die Lohnabhängigen selbst für ihre Interessen und Bedürfnisse und gegen den strukturellen Vermehrungszwang des Kapitals – durch den sie selbst zu verschwinden drohen – organisieren. Und dies geschieht bereits während des konspirativ-illegalen Alltagsklassenkampfes.

Durch innerbetriebliche Sabotage machen ProletarierInnen zum Beispiel das kaputt, was sie kaputt macht: Die kapitalistischen Produktionsmittel als Zerstörungsmittel der Bourgeoisie. Das tat zum Beispiel der Mähdrescherfahrer Tad in den USA: „Ich bekam Arbeit bei einer Firma, die im Sommer von Texas bis North Dakota der Weizenernte folgt. Die Mähdrescher, die wir benutzten, stammten aus einer Modellreihe und waren von International Harvester geliehen. Acht oder zehn von uns arbeiteten sich in breiter Front durch die Felder, testeten die neuen Modelle aus, schauten wie sie funktionierten.

Alle waren wir ziemlich jung, zwischen vierzehn und vierundzwanzig, und hätten uns eigentlich lieber verpisst, als zwölf Stunden am Tag auf diesen Kisten zu sitzen. Ein- oder zweimal die Woche hatten wir die Mähdrescher geschrottet, was bedeutet, dass wir so viel Korn geschnitten, bis die Motoren heiß liefen und die Zylinder überfordert waren. Wir legten zwei oder drei Maschinen lahm. Die wurden dann ausgemustert, und wir konnten das Feld verlassen. Vertreter von International Harvester kamen angerückt, zerlegten die Maschinen und versuchten herauszukriegen, was zum Teufel da eigentlich abging.

Wir haben es mit Absicht gemacht, weil wir so Pausen machen konnten. Wir hatten unseren Spaß an den Vertretern, mit ihren Krawatten und Klemmbrettern. Wir lachten uns ins Fäustchen. Die Firma war sehr betroffen, hatte sie doch einige Millionen Dollar investiert. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass wir irgendwas damit zu tun haben könnten. Wie die meisten Arbeitgeber hielten sie ihre Angestellten für dümmer, als sie sind. Ich denke, dass dies bei nicht gewerkschaftlich organisierter Gelegenheitsarbeit fast immer so abläuft. Sie gehen einfach davon aus, dass wir solche Tricks nicht anwenden. Bei diesem Job steckten alle Arbeiter unter einer Decke. Wir konnten in den Hotelräumen abhängen, während sie an den Mähdreschern rummachten.“ (Sabotage. ArbeiterInnen aus den USA erzählen ihre Version des alltäglichen Klassenkampfes, Berlin 1993, S. 46.)

Wir sehen, dass „die nicht gewerkschaftlich organisierten“ Mähdrescherfahrer im Kampf gegen das Kapital sehr gut organisiert waren. Sie wurden nicht von Gewerkschaftsbonzen desorganisiert, sondern organisierten sich selbst gegen das Kapital. Indem sie durch Sabotage an den kapitalistischen Produktionsmitteln ihre eigenen Bedürfnisse befriedigten, zeigten sie, dass die menschliche Arbeitskraft zwar Teil des produktiven Kapitals ist, sich aber gegen die unbegrenzte Kapitalisierung zu Wehr setzen kann. In diesem alltäglichen Klassenkampf der Mähdrescherfahrer können wir tendenziell den Kampf der Menschen gegen ihre eigene proletarische Existenz sehen, die bescheidenen Anfänge des sozialrevolutionären Selbstaufhebungsprozesses der ArbeiterInnenklasse.

Der proletarisierte Mensch, welcher diesen Kampf führt, hat sich oft noch nie mit revolutionärer Theorie beschäftigt. Er weiß oft nicht, dass er einen in Ansätzen revolutionären Kampf führt. Er tut es einfach, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Unser nachmarxistischer und nachanarchistischer Kommunismus ist ein theoretischer Ausdruck dieses alltäglichen Klassenkampfes. Durch unsere theoretische Wiederspiegelung machen wir das für das bürgerliche Auge Unsichtbare sichtbar, die unbewussten sozialrevolutionären Tendenzen bewusst. Dadurch nehmen wir praktisch und theoretisch bewusst am alltäglichen Klassenkampf teil.

Für sozialrevolutionäre ArbeiterInnen heißt es, das Bewusstsein am Arbeitsplatz zu revolutionieren zu helfen, wie weit das eben möglich ist. Und diese Möglichkeiten sind von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz verschieden. Diese Revolutionierung des Bewusstseins ist nicht nur durch Diskutieren zu vermitteln, sondern auch durch Initiative zur kollektiven Sabotage der alltäglichen Lohnarbeit, oder durch individuelle Sabotage Vorbild und Beispiel im praktischen Kampf gegen bürgerlichen Arbeitsethos und Leistungsideologie zu sein, so wie der US-amerikanische Computer-Techniker Dexter es beschreibt: „Ich sitze gerade an meinem Arbeitsplatz und tippe das in meinen MacIntosh. Ich könnte auch arbeiten. Wenigstens sieht es so aus, als würde ich arbeiten. Bei meinem Job ist es ganz selbstverständlich, dass ich was in den Computer eingebe. Wie auch immer, in den letzten vier Jahren, seit ich hier bin, habe ich höchstens ein Drittel meiner Zeit mit Arbeiten verbracht.

Mein Job besteht darin, alle möglichen technischen Texte, wie Gebrauchs- und Reparaturanweisungen sowie ähnliche technischen Beschreibungen zu formulieren und zu formatieren. Dafür muss ich regelmäßig mit Hardware- und Softwareingenieuren, Physikern und Marketingleuten sprechen. Die ganze Technik und auch die Leute finde ich faszinierend und außerdem gefällt mir das Feld technischer Kommunikation. Aber trotzdem finde ich immer schnell einen Weg, mich vor der Arbeit zu drücken. Ich habe mir eine ganze Reihe von Fähigkeiten des Desktop Publishing angeeignet, so dass ich die Arbeit von einer Woche in zwei Tagen erledigen kann. Die zwei Tage verteile ich natürlich über die Woche, d. h. ich schaffe das, was sie von mir erwarten, und manchmal auch ein bisschen mehr. Es zahlt sich halt aus, fleißig auszusehen.

Ich interessiere mich für alles, und dieses Interesse vervielfacht sich jeden Tag. Wäre ich allein und hätte genug Geld, würde ich eine Menge kreatives Zeug machen, und dabei alle möglichen Medien benutzen. Aber die Gesellschaft unterstützt solche kapriziösen und unverantwortlichen Denker wie mich natürlich nicht. Also muss ich diesen Mangel der Gesellschaft irgendwie umgehen und kann trotzdem meine Rechnungen bezahlen, indem ich meine Projekte während der Arbeit mache. In den letzten vier Jahren habe ich hier eine Novelle, Teile eines wissenschaftlichen Buches einer großen Verlagsgesellschaft, zwei Reiseerzählungen und zahllose kleinere Sachen geschrieben. Ich habe mir Computerdesign, -musik und -animation während der Arbeit angeeignet und sogar ein Computerspiel geschrieben. Insgesamt habe ich sicher tausend Arbeitsstunden damit zugebracht, meine Projekte zu machen, mit ganz anständiger Entlohnung.

Bei der Arbeit habe ich meistens mit Graphik oder Text zu tun. Das gilt aber auch für meine eigenen Projekte. Ich bin nicht besonders vorsichtig. Zuviel Vorsicht führt zu Paranoia, und Paranoia stört den schaffensfrohen Geist. Meine KollegInnen reagieren unterschiedlich. Manche glauben an die alte Arbeitsethik und meinen, du solltest die ganze Arbeitszeit für die Firma rackern. Andere hätten es auch gerne so wie ich gemacht, fanden aber nicht die Zeit dazu. Meine Chefs haben nie was gemerkt, und die KollegInnen tolerieren, was ich mache, und bewundern mich. Meist sind sie auch so mit ihren eigenen Sachen beschäftigt, dass sie sich nicht um meine kümmern. Die Chefs sind zufrieden, weil ich genauso viel oder sogar etwas mehr schaffe als verlangt.“ (Sabotage, a.a.O., S. 16.)

Dieses Beispiel geht über das Beispiel der Mähdrescherfahrer sowohl hinaus und gleichzeitig zurück. So widersprüchlich kann die Dialektik des alltäglichen Klassenkampfes sein. Der Computer-Techniker Dexter übt keine Sabotage an den Produktionsmitteln, sondern eignet sie sich produktiv an. In der Zeit, wo er seine Privatarbeiten am Computer erledigt, hört dieser praktisch auf Kapitaleigentum zu sein, auch wenn er das offiziell weiterhin bleibt. Dieses offizielle Belassen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zeigt die reproduktive Grenze des alltäglichen Klassenkampfes an. Auch dass seine Aktion individuell erfolgt und nicht kollektiv, ist gegenüber den Mähdrescherfahrern ein Rückschritt, auch wenn er für einige seiner KollegInnen ein Vorbild darstellt und die individuelle Aktionsform durch den objektiven Arbeitsprozess bedingt ist.

Weiterhin ist festzuhalten, dass der Computer-Techniker Dexter im Gegensatz zu vielen anderen Lohnabhängigen sich in einer sehr günstigen Ausgangssituation befindet. Er muss keinen offensichtlichen Kampf gegen das Kapital führen, um seine Bedürfnisse nach privater Kreativität befriedigen zu können. Aber die offensichtliche kollektive Aneignung und Veränderung der Produktionsmittel ist der eigentliche sozialrevolutionäre Prozess.

In unseren Beispielen des alltäglichen Klassenkampfes hatten wir sowohl eine Form, bei der das Produktionsmittel informell und tendenziell für die eigene Bedürfnisbefriedigung angewendet wurde, als auch eine, in denen sie als Mittel der kapitalistischen Ausbeutung und Zerstörungsmittel der ArbeiterInnen zerstört wurden. Beide Formen sind auch in der bewussten sozialrevolutionären Aktion nötig: Aneignung der Produktionsmittel bei Abstreifung ihrer kapitalistischen Funktion (z. B. Computer), aber auch die Zerstörung von kapitalistischen Produktionsmitteln, für die es auch in einer klassenlosen Gesellschaft keine vernünftige Nutzung geben kann (zum Beispiel Kohle- und Atomkraftwerke).

Auch die Befreiung vom Kapitalfetisch, die Erkenntnis, dass die Trennung der ProduzentInnen von den Produktionsmitteln weder natürlich noch gottgewollt ist, sondern Ausdruck sozialer Verhältnisse, indem Produktionsmittel zu produktivem Kapital werden, was durch soziale Aktionen aber zu ändern ist, setzt sich schon tendenziell im alltäglichen Klassenkampf durch. Doch erst die bewusste sozialrevolutionäre Aktion und Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse kann den Kapitalfetisch für immer aufheben. Die tendenzielle Aufhebung des Kapitalfetischs kann mit einer teilweisen Verinnerlichung dieses Kapitalfetischs auch bei den klassenkämpferischen proletarischen Subjekten verbunden sein. Der Klassenkampf ist die Bedingung zur Überwindung des Kapitalfetisches, aber bedeutet eben nicht automatisch dessen Überwindung. Eine Arbeiterin kann während der Arbeitszeit unheimlich viel Pausen machen, für sich selbst massenhaft Dinge herstellen und nebenbei noch Betriebseigentum klauen wie ein Rabe, aber dennoch die kapitalistische Produktionsweise für unveränderlich halten. Das ist ein Ausdruck der objektiv-subjektiven Widersprüche, durch den der alltägliche Klassenkampf geprägt ist, und erst durch die Selbstbefreiung der proletarischen Subjekte in der sozialen Revolution gelöst werden können.

Sozialrevolutionäre Gruppen können die mögliche Radikalisierung des reproduktiven Klassenkampfes zur sozialen Revolution geistig und praktisch unterstützen, indem sie gegenüber den verschiedenen Spielarten des Sozialreformismus die Bedeutung von Aneignung und Sabotage für den proletarischen Widerstand gegen die kapitalistische Technokratie betonen. Dieser Klassenkampf ist gegen das kapitalistische Eigentum an Produktionsmitteln gerichtet und kann von Kapital, Staat und Gewerkschaftsbürokratie weder verrechtlicht noch institutionalisiert werden.

Im Jahre 2008 kam bei Sonderzahl in Wien das Buch Lexikon der Sabotage. Betrug, Verweigerung, Racheakte und Schabernack am Arbeitsplatz von Bernhard Halmer und Peter A. Krobath heraus, welches einen recht guten Einblick in den konspirativ-illegalen Alltagsklassenkampf gewährt. In ihm kommen die sabotageleistenden Lohnabhängigen selbst zu Wort. Zum Beispiel ein ehemaliges Zimmermädchen auf einem Luxusdampfer. Die Arbeit war so organisiert, dass immer ein Zimmermädchen eine Suite saubermachen sollte. Es war sogar verboten, sich untereinander zu helfen. Doch das ehemalige Zimmermädchen berichtete, wie sie mit einer Kollegin zusammen zu zweit die Suiten reinigten, wodurch sie viel schneller fertig wurden. Für dieses eigenmächtige Verändern der Arbeitsorganisation wurden sie bestraft. Aber sie nahmen die Strafen mit einem Lächeln hin und putzten weiter die Suiten zu zweit. Schließlich hörte die Chefin auf, die beiden zusammenarbeitenden Zimmermädchen zu bestrafen. Auch andere Zimmermädchen putzten schließlich die Suiten zu zweit. Dadurch hatte der Alltagsklassenkampf die Arbeitsorganisation verändert. (Bernhard Halmer, Peter A. Krobath, Lexikon der Sabotage. Betrug, Verweigerung, Racheakte und Schabernack am Arbeitsplatz, Sonderzahl, Wien 2008, S. 77-81.)

Die Form der illegal-konspirativen Änderung der Arbeitsorganisation durch das klassenkämpferische Proletariat, die zugleich die Produktion unterbricht, stellt das eigenmächtige Machen von Pausen dar. Im oben genannten Buch wird dafür ein besonders amüsantes Beispiel von einem Computerfachmann geschildert. Er hatte mit neun Kollegen den Auftrag für eine Supermarktkette, Kassen aus Südkorea umzubauen. Sie wurden nach der Arbeitszeit bezahlt und nicht kontrolliert. So wurde schon mal die Mittagspause auf drei Stunden ausgeweitet oder auch sonst mal die Arbeitszeit für drei Stunden unterbrochen. Während der Zeit hatten die Kollegen viel Spaß, zum Beispiel während sie mit Hubstablern um die Wette fuhren oder Mäuse fütterten. (Ebenda, S. 14.)

Die Änderung der Arbeitsorganisation durch den konspirativ-illegalen Alltagsklassenkampf des Proletariats kann nur die Ausbeutung und Entfremdung der kapitalistischen Produktionsweise abmildern, aber nicht grundsätzlich aufheben. Das kann nur die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats.

Das Proletariat und das lohnabhängige KleinbürgerInnentum produzieren in der Regel Warenkapital, das dann auf den Märkten in Geld umgetauscht wird. Sie produzieren also in der Regel Geld, genauer: mehr Geld, als die kleinbürgerliche/kapitalistische Produktion von Waren und warenförmigen Dienstleistungen kostet. Viel wird auch im Kapitalismus für die Mülltonne produziert. Denn in diesem System zählen in der Regel nur zahlungsfähige Bedürfnisse als Nachfrage. Menschen, die bestimmte Bedürfnisse haben, aber nicht über das nötige Geld verfügen, um sich die Waren beziehungsweise warenförmigen Dienstleistungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse zu leisten, gehen leer aus. Gleichzeitig werden Waren auf dem Müll befördert, weil sich für sie keine KäuferInnen finden ließen. Auch der Müll als unverkäufliche Waren ist kapitalistisches Eigentum, dessen Aneignung illegal ist. Denn das unentgeltliche Verteilen von unverkäuflichen Waren würde die Preise senken. Deshalb gehört das Vernichten von unverkäuflichen Gütern, während gleichzeitig unzählige Bedürfnisse wegen Mangel an Geld unbefriedigt bleiben, unentrinnbar zur Logik der Warenproduktion. Besonders Lebensmittel werden weggeschmissen wegen der Hygienevorschriften, obwohl sie noch verzehr- und genießbar sind.

Die unentgeltliche Aneignung von Waren – egal ob von potenziell verkäuflichen oder von nicht mehr verkaufbaren „Müll“ – beziehungsweise die Sabotage am reibungslosen Verkauf der Waren innerhalb der Warenproduktion gehört zum illegalen Klassenkampf des Proletariats. Im Lexikon der Sabotage können wir beispielsweise lesen, wie eine Lagerarbeiterin, die sehr frustriert über den niedrigen Lohn, die Langeweile, das alltägliche Arbeitsklima aus Hetze, Stress und Unfreundlichkeiten durch die Chefs war, den Verkauf der Waren, Babysachen, sabotierte. Bei der Verpackung der Waren forderte sie die Kunden durch beigepackte Zettel auf, bei dieser Firma nicht weiter zu bestellen. (Ebenda, S. 21/22.)

Im oben erwähnten Buch Lexikon der Sabotage erzählt uns zum Beispiel eine „Vorregalbetreuerin“ aus einem Supermarkt, wie sie konspirativ-illegal sich den Lebensmittel-Müll, also unverkaufte Waren, für den familiären Verzehr aneignet. Während ihre Oma noch bei diesem Supermarkt arbeitete, konnte diese noch legal unverkaufte Lebensmittel mit nach Hause nehmen. Als sie selbst dort ausgebeutet wurde, war dies bereits verboten. Doch sie eignete sich den noch genießbaren „Müll“ der Warenproduktion konspirativ-illegal an, indem sie sich von einem Bekannten den General-Müllraumschlüssel der Müllabfuhr besorgte. Und sie beschädigte die Verpackung von Lebensmitteln, die sie sich selbst aneignen wollte. Wenn sie dann weggeschmissen wurden, griff sie zu. (Ebenda, S. 85-87.) Bei dieser Aktion wurde der Verkauf von Waren sabotiert. Güter konnten genossen werden, ohne dass dafür Geld bezahlt werden musste.

Im Buch kommt auch ein Kellner einer Catering-Firma zu Wort, dem das viele Wegschmeißen von noch verzehrbaren Lebensmitteln tierisch auf die Nerven ging. Einmal als wieder sehr viel weggeschmissen werden sollte, hörte er und seine KollegInnen nicht mehr auf ein anwesendes Chefchen, sondern verteilten die Lebensmittel, die eigentlich weggeworfen werden sollten, kostenlos am Bahnhof. (Ebenda, S. 37.) Das war eine solidarische Aktion, die schon nicht mehr konspirativ war, sondern offen die Anweisungen der Chefetage missachtete. Damit gaben sie ein Beispiel, wie die Warenproduktion grundsätzlich durch das klassenkämpferische Proletariat aufzuheben ist. Durch den Alltagsklassenkampf kann der Wahnsinn der kapitalistischen Warenproduktion nur abgemildert beziehungsweise sabotiert und dessen Gesetze für kurze Zeit teilweise aufgehoben werden. Nur die revolutionäre Aufhebung der Warenproduktion und die Herausbildung einer globalen unmittelbaren Bedarfsproduktion, zerschlägt endgültig die Ware-Geld-Beziehung.

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Für die globale Vernetzung von revolutionären AnarchistInnen und antileninistischen KommunistInnen! https://swiderstand.blackblogs.org/2024/07/31/fuer-die-globale-vernetzung-von-revolutionaeren-anarchistinnen-und-antileninistischen-kommunistinnen/ Wed, 31 Jul 2024 03:49:40 +0000 https://swiderstand.blackblogs.org/?p=758 Die massenmörderische Krisen- und Kriegsdynamik des globalen Kapitalismus schreit geradezu nach einer planetaren Vernetzung der revolutionären AnarchistInnen und antileninistischen KommunistInnen. Das Weltproletariat wird erbarmungslos von der Weltbourgeoisie verheizt. Der Klassenkampf des Proletariats wird noch immer innerhalb des reproduktiven Rahmens des Kapitalismus geführt, dessen Perspektive für die ProletarierInnen nur Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, staatliche Elendsverwaltung, eine sich vertiefende ökosoziale Kriese und Krieg beziehungsweise einen asozialen Frieden bedeuten kann.

Die globale institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung (Gewerkschaften und politische Parteien) ist der bürokratische Ausdruck der den Kapitalismus reproduzierenden Grenzen des proletarischen Klassenkampfes. Die bürgerlich-bürokratischen Partei- und Gewerkschaftsapparate integrierten sich mehrheitlich in den Kapitalismus und wurden Fleisch von seinem Fleische. Anarchosyndikalismus und Parteimarxismus (Linke Sozialdemokratie, Marxismus-Leninismus, Trotzkismus und Linkskommunismus) sind entweder selbst Teil des kapitalistischen Problems oder außerstande eine revolutionäre Alternative zu Kapital, Staat und institutionalisierter ArbeiterInnenbewegung zu entwickeln.

Letzteres trifft besonders auf den Linkskommunismus zu. Er ist aufgrund seines Antiparlamentarismus, seiner Gewerkschaftsfeindlichkeit und seiner Ablehnung der nationalen Befreiung/Selbstbestimmung zu radikal, um sich in den Kapitalismus zu integrieren, aber zu parteimarxistisch-ideologisch borniert, um den konterrevolutionären Charakter des staatstragenden Bolschewismus ab 1917 zu erkennen und zu begreifen, dass die politische Partei grundsätzlich eine bürgerlich-bürokratische Organisationsform ist, die nur den Kapitalismus reproduzieren, aber eben nicht revolutionär überwinden kann. Das peinliche Rumgeeiere in der Staatsfrage – der berühmt-berüchtigte „Halbstaat“, den die LinkskommunistInnen in der Revolution aufmachen wollen –, ist eine antirevolutionäre Tendenz. Erstens kann es nur ganze Staaten geben und zweitens sind die immer konterrevolutionär!

Eine globale Vernetzung der revolutionären AnarchistInnen und antileninistischen KommunistInnen als organisatorisch-inhaltliche Alternative zu Anarchosyndikalismus und Parteimarxismus ist also absolut notwendig. Die Antipolitisch-Sozialrevolutionäre Tendenz (AST) strebt mittelfristig eine globale Föderation dieser revolutionären Kräfte an.

Keine bürokratisch-zentralistische und ideologisch-dogmatische „Internationale“!

Wir streben keine bürokratisch-zentralistische Internationale an, mit einem riesigen globalen Apparat, der die einzelnen Sektionen in den verschiedenen Nationen anführt. Nein, die globale Vernetzung der revolutionären AnarchistInnen und antileninistischen KommunistInnen, die wir mittelfristig und geduldig mit euch zusammen aufbauen wollen, soll klar und eindeutig mit der bürokratisch-zentralistischen und ideologisch-dogmatischen Tradition der parteimarxistischen (sozialdemokratischen, marxistisch-leninistischen und trotzkistischen) vier Internationalen brechen. Selbstverständlich soll sie sich auch von internationalen anarchosyndikalistischen und linkskommunistischen Zusammenschlüssen unterscheiden.

Die globale Vernetzung soll die unterschiedlichen theoretisch-kulturellen Ursprünge und Traditionen nicht einebnen, sondern produktiv zusammenführen. Sie soll praktische Gemeinschaftserlebnisse von Individuen und Kleingruppen sowie die inhaltliche Diskussion zwischen ihnen ermöglichen und damit Vereinzelung überwinden. Ganz auf der kollektiven Solidarität der Individuen und Gruppen beruhen. Einzeln und frei wie ein Baum, dabei geschwisterlich wie ein Wald!

Natürlich ist dabei auch eine Beliebigkeit zu verhindern. Die Vernetzung von revolutionären Gruppen und Individuen kann kein Selbstzweck, sondern muss die gemeinsame praktisch-geistige Vorbereitung auf die mögliche Weltrevolution sein.

Diskussionsgrundlage für einen inhaltlichen Minimalkonsens einer globalen Föderation von revolutionären AnarchistInnen und antileninistischen KommunistInnen

Damit die globale Vernetzung der revolutionären AnarchistInnen und antileninistischen KommunistInnen eine klare organisatorisch-inhaltliche Alternative zu Parteimarxismus und Anarchosyndikalismus werden kann, muss sie auf klaren Grundprinzipien beruhen. Die AST schlägt zur Diskussion folgende Punkte vor.

1. Für die revolutionäre Aufhebung der Warenproduktion. Die Warenproduktion basiert auf global voneinander getrennten kleinbürgerlichen und kapitalistischen Wirtschaftseinheiten, die ihre Produkte mittels der Ware-Geld-Beziehung austauschen müssen. Das Geld ist der verselbständigte Ausdruck des Tauschwertes. Basis des Tauschwertes ist der Produktionswert, die durchschnittliche, gesellschaftlich notwendige Herstellungszeit einer Ware. Je höher der Produktionswert einer Ware ist, umso höher ist in der Regel auch ihr Tauschwert. Außerdem wird der Tauschwert auch durch die Marktkonkurrenz aus Nachfrage und Angebot bestimmt.

Indem das sich revolutionär selbst aufhebende Proletariat die Produktionsmittel und die soziale Infrastruktur in gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt überführt und den Staat zerschlägt, schafft es die Voraussetzungen für die Aufhebung des Tauschwertes. Überwindung des Tauschwertes heißt, dass in der klassen- und staatenlosen Gemeinschaft die Produkte nicht getauscht – auch nicht durch einen Naturaltausch ohne Geld! – sondern gesamtgesellschaftlich kollektiv-solidarisch verteilt werden. Die Individuen sind keine passiven Objekte der gesamtgesellschaftlichen Leitung und Planung der Produktion sowie der Verteilung der Produkte, sondern deren aktive Subjekte.

RevolutionärInnen kritisieren jegliche „Vergesellschaftung“ innerhalb von Warenproduktion und Staat als Scheinalternative. GenossInnenschaften und „selbstverwaltete“ Betriebe innerhalb des Kapitalismus sind im besten Falle kleinbürgerlich-kollektive Formen der Warenproduktion und gehen fließend in Kapitalgesellschaften über.

2. Für die revolutionäre Zerschlagung aller Staaten. Staaten sind grundsätzlich sozialreaktionäre Gewaltapparate von Klassengesellschaften. Im Kapitalismus sind die Staaten die politischen Gewaltapparate der Kapitalvermehrung. Es kann keine „progressiven“ oder „sozialistischen“ Staaten geben. Das sich selbst revolutionär aufhebende Proletariat muss den Staat zerschlagen! Die „Halbstaaten“ einer angeblichen „Übergangsgesellschaft“, die der Linkskommunismus herbeiphantasiert, kann es nicht geben. Zwischen dem kapitalistischen Staat und der klassen- und staatenlosen Gemeinschaft gibt es keine staatsförmige „Übergangsgesellschaft“, sondern „nur“ die mögliche revolutionäre Zerschlagung des Staates! Den Staat zu zerschlagen, heißt die gesamtgesellschaftlich-kollektive Organisation des Lebens ohne Gewaltapparate und BerufspolitikerInnen.

Da das Proletariat eines Landes, einer Gruppe von Ländern, eines Kontinents unmöglich mit der sozialen Revolution warten kann, bis ihre Klassengeschwister weltweit so weit sind, kann die Weltrevolution nur eine permanente Kette der Zerschlagung der Nationalstaaten sein. In der Weltrevolution wird es also sowohl schon mögliche klassen- und staatenlose Gemeinschaften als auch noch kapitalistische Staaten geben. Der revolutionäre Kampf gegen die Konterrevolution – sowohl von marodierenden Banden als auch von Staaten – beruht auf der kollektiven Militanz des sich selbst revolutionär aufhebenden Proletariats beziehungsweise der klassen- und staatenlosen Gemeinschaft, aber nicht auf von der Gesellschaft getrennten Gewaltapparaten. Letztere wären der reproduzierte Staat. In der Praxis wird es schwer werden, notwendige revolutionäre Gewalt gegen die Konterrevolution auszuüben, ohne den Staat zu reproduzieren. Aber der reproduzierte Staat ist die Konterrevolution! Deshalb kompromissloser Kampf gegen die linkskommunistische Ideologie von dem „Halbstaat“ in der angeblichen „Übergangsperiode“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus! Die Weltrevolution ist erst zu Ende, wenn alle kapitalistischen Staaten revolutionär zerschlagen sind.

3. Gegen die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung (Gewerkschaften und politische Parteien). Gewerkschaften sind der bürokratisch entfremdete Ausdruck des reproduktiven Klassenkampfes des Proletariats innerhalb des Kapitalismus. Im frühen Kapitalismus ging die Bourgeoisie noch total repressiv gegen den proletarischen Klassenkampf vor. Streiks und Gewerkschaften waren absolut verboten. Doch große Teile der herrschenden Klasse erkannten in einem sozialen Lernprozess – auch aufgrund des Druckes des klassenkämpferischen Proletariats – dass in einer Klassengesellschaft der Klassenkampf nicht effektiv absolut zu verbieten ist. So wurde in den verschiedenen Staaten der reproduktive Klassenkampf und die Gewerkschafen unter bestimmten Bedingungen legalisiert. Der Klassenkampf wurde verrechtlicht und damit tendenziell entradikalisiert. Die Gewerkschaften wurden durch das durch staatliche Gesetze regulierte Tarifvertragssystem, gesetzlich-sozialpartnerschaftliche Betriebsräte und das Sitzen von Gewerkschaftsbonzen in den Aufsichtsräten der Konzerne zu Co-Managerinnen der kapitalistischen Ausbeutung.

Die meisten Gewerkschaften sind durch einen antagonistischen Klassengegensatz geprägt. Auf der einen Seite die bürgerlich-bürokratischen Apparate der hauptamtlichen FunktionärInnen – die sozial nicht (mehr) zum Proletariat gehören – und auf der anderen die ehrenamtlichen FunktionärInnen und die lohnabhängige Basis als Manövriermasse. Die Haupttendenz der Gewerkschaftsapparate ist es, sich vollständig in den kapitalistischen Staat zu integrieren.

Gewerkschaften können grundsätzlich nur einen reproduktiv-sozialreformistischen Klassenkampf um höhere Löhne, für kürzere Arbeitszeiten und eine geringere Arbeitsintensität sowie gegen die Angriffe von Kapital und Staat innerhalb des Kapitalismus, aber eben keinen revolutionären für die klassen- und staatenlose Gesellschaft führen. Selbstverständlich gibt es zwischen ihnen große Unterschiede. So gibt es total sozialreaktionäre Gewerkschaften, die völlig in die jeweiligen Staaten integriert sind und auch deren imperialistischen Kriege unterstützen, aber auch Basisgewerkschaften, die gegen Aufrüstung, Waffenhandel und Krieg einen pazifistisch-reformistischen Klassenkampf führen.

Die Behauptungen des Anarchosyndikalismus, es könne revolutionäre Gewerkschaften geben und er würde sie aufbauen, hat er durch seine eigene Praxis widerlegt. Durch seine Anpassung an das Tarifvertragssystem, gesetzlich-sozialpartnerschaftliche Betriebsräte und das reformistische Bewusstsein der Mehrheit des Proletariats wurde der Anarchosyndikalismus selbst zu einer Strömung des globalen Gewerkschaftsreformismus. Gewerkschaften sind die Organisationsform des reproduktiven Klassenkampfes innerhalb des Kapitalismus, aber eben keine revolutionären zur dessen Zerschlagung. Gewerkschaften können nicht revolutionär und revolutionäre Klassenkampforganisationen (siehe Punkt 5) keine Gewerkschaften sein!

In nichtrevolutionären Zeiten können RevolutionärInnen einfache Mitglieder von Gewerkschaften sein. Aber sie dürfen keine neben- oder hauptamtlichen Funktionen in ihnen übernehmen. Gewerkschaften müssen grundsätzlich durch revolutionäre Klassenkampforganisationen, die sich allerdings erst möglicherweise in der sozialen Revolution herausbilden können, ersetzt werden. Berits im reproduktiven Klassenkampf innerhalb des Kapitalismus entwickelt sich die proletarische Selbstorganisation als Alternative zur Gewerkschaftsbürokratie (siehe Punkt 5). Völlig in den kapitalistischen Staat integrierte Gewerkschaftsapparate, die auch imperialistische Kriege unterstützen, müssen aktiv in der sozialen Revolution zerschlagen werden!

Politische Parteien bildeten sich ab dem 19. Jahrhundert zu zwar nicht absolut notwendigen, doch weit verbreiteten Basiseinheiten der bürgerlichen Politik. Parlamentarische Demokratien sind pluralistische Mehrparteiendiktaturen. In ihnen konkurrieren die politischen Parteien in Form von freien Wahlen um die Beherrschung des Staatsapparates. Freie Wahlen machen aus ProletarierInnen Stimmvieh, dass ihre strukturellen KlassenfeindInnen, die BerufspolitikerInne,n dazu ermächtigt, entweder den kapitalistischen Staat zu regieren oder systemloyal zu opponieren. Neben den Demokratien gab und gibt es noch faschistische und marxistisch-leninistische (siehe Punkt 4) Einparteiendiktaturen.

Politische Parteien sind klassengespalten in bürgerlich-bürokratische Apparate aus hauptamtlichen FunktionärInnen sowie BerufspolitikerInnen und -ideologInnen auf der einen und der kleinbürgerlich-proletarischen Basis auf der anderen Seite. Mensch kann zwischen kleinbürgerlich-radikalen Protest-/Aufstandsparteien und großbürgerlichen Systemparteien unterscheiden.

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich sozialdemokratische Massenparteien als politischer Flügel der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Einige von ihnen betrogen sich selbst und das Proletariat mit einer „revolutionären“ Ideologie, die aber nicht mit ihrer Praxis des parlamentarischen Sozialreformismus übereinstimmte, sondern diese verschleierte. Sie nahmen an Wahlen teil und integrierten sich immer stärker in das parlamentarische System. Die bürgerlich-bürokratischen Apparate der sozialdemokratischen Parteien strebten als Haupttendenz an, von der Bourgeoisie voll anerkanntes Regierungspersonal des kapitalistischen Staates zu werden.

Für die europäische Sozialdemokratie kam dieser Moment im Jahre 1914, den Beginn des Ersten Weltkrieges und der europäischen revolutionären Nachkriegskrise (1917-1923). Die meisten europäischen sozialdemokratischen Parteien unterstützten den Ersten Weltkrieg auf der Seite ihres jeweiligen Nationalstaates. Nur pazifistische und radikale Teile der Sozialdemokratie waren gegen die Kriegsbeteiligung. Während der europäischen revolutionären Nachkriegskrise wurde die Sozialdemokratie – besonders die deutsche SPD – offen konterrevolutionär, die blutig das klassenkämpferisch-revolutionäre Proletariat niederschlug. Heute ist die Sozialdemokratie vollständig in den Kapitalismus integriert.

Infolge der europäischen revolutionären Nachkriegskrise spaltete sich der radikale Flügel der Sozialdemokratie weltweit sowohl als Partei-„Kommunismus“ als auch als Rätekommunismus ab. In einigen Nationen entstanden marxistisch-leninistische Parteidiktaturen (siehe Punkt 4). In hochentwickelten privatkapitalistischen Demokratien integrierten sich marxistisch-leninistische und trotzkistische Parteien in das parlamentarische System. Indem Marxismus-Leninismus und Trotzkismus an parlamentarischen Wahlen teilnehmen, helfen sie dabei die Demokratie als Diktatur des Kapitals praktisch-geistig zu reproduzieren und die ProletarierInnen zum Stimmvieh abzurichten und braven demokratischen StaatsbürgerInnen zu erziehen.

Die sich vernetzenden Gruppen des revolutionären Anarchismus und des antileninistischen Kommunismus lehnen die politische Partei als Organisationsform des klassenkämpferischen Proletariats und der revolutionären Minderheiten ab. Ihre Kleingruppen sind weder Gewerkschaften noch politische Parteien und sie streben es auch nicht an, es zu werden.

4. Revolutionärer Antileninismus. Die politische Machtübernahme der bolschewistischen Partei im Oktober 1917 – nach dem alten russischen Kalender – stellte keine „proletarische Revolution“ dar, wie der Parteimarxismus einschließlich des Linkskommunismus behauptet, sondern der Prologder staatskapitalistischen Konterrevolution. Das sozialreaktionäre Lenin-Trotzki-Regime zerschlug die Sowjets als Organe der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats. Ab der Verstaatlichung der Großindustrie im Frühsommer 1918 war es staatskapitalistisch. Es folgten weitere sozialreaktionäre politische Machteroberungen von marxistisch-leninistischen Parteiapparaten und die Herausbildung staatskapitalistischer Regimes in Euroasien, Afrika und auf Kuba.

Die ultrazentralistischen und überbürokratischen staatskapitalistischen Produktionsverhältnisse begünstigten die ursprüngliche, nachholende und beschleunigte Industrialisierung von einstigen Agrarnationen, aber auf Dauer konnten sie nicht der Konkurrenz des hochentwickelten Privatkapitalismus standhalten, weshalb sich in den marxistisch-leninistischen Staatsparteien proprivatkapitalistische Reformfraktionen entwickelten und die politische Macht eroberten. Diese transformierten dann den Staats- in den Privatkapitalismus. In der Sowjetunion und in Osteuropa zerfielen die marxistisch-leninistischen Parteidiktaturen. In China, Vietnam und auf Kuba wurde und wird das Kapital unter der Herrschaft der marxistisch-leninistischen Parteien privatisiert.

5. Für die klassenkämpferische Selbstorganisation und die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats. Das Proletariat kann nur in klassenkämpferischer Selbstorganisation seine Interessen und Bedürfnisse gegen Kapital und Staat durchsetzen. Die klassenkämpferische Selbstorganisation richtet sich bereits im reproduktiven Klassenkampf innerhalb des Kapitalismus gegen die bürgerlich-bürokratischen Gewerkschaftsapparate. Besonders in längeren Arbeitsniederlegungen, die offiziell von den Gewerkschaften geführt werden, entwickeln sich teilweise Formen der Doppelherrschaft. Auf der einen Seite die Selbstorganisation der Basis und auf der anderen die bürgerlich-bürokratischen Gewerkschaftsapparate. Die höchste Form nimmt die Selbstorganisation der Lohnabhängigen im reproduktiven Klassenkampf in gewerkschaftsunabhängigen wilden Streiks an. Ist die Arbeitsniederlegung relativ kurz und sind die Belegschaften verhältnismäßig klein, reicht oft bereits die informelle Selbstorganisation der Lohnabhängigen. Dauert der wilde Streik jedoch länger und/oder stehen größere beziehungsweise mehrere Belegschaften in ihm, dann werden offizielle Organe der klassenkämpferischen Selbstorganisation, gewerkschaftsunabhängige Streikkomitees, notwendig.

Revolutionäre Kleingruppen orientieren sich auf die klassenkämpferische Selbstorganisation des Proletariats, lehnen aber den Anspruch auf dessen „Führung“ ab. Ihre Funktion ist es praktisch-geistige Impulse zur Radikalisierung des Klassenkampfes zu geben. Wohl wissend, dass der Hauptimpuls zur Radikalisierung des Proletariats dessen eigener praktischer Kampf ist. RevolutionärInnen lehnen jede Stellvertreterpolitik gegenüber dem Proletariat einschließlich des Guerillakrieges getrennt vom Klassenkampf ab.

In außerordentlichen Situationen kann sich der proletarische Klassenkampf zur sozialen Revolution radikalisieren. Dann ist die revolutionäre Klassenkampforganisation notwendig. Wir verstehen darunter die Organisation der Revolution. Diese wird sowohl durch die informelle Aktion des Proletariats als auch durch offizielle Organe der klassenkämpferischen Selbstorganisation geprägt sein. Die Aufgabe der revolutionären Klassenkampforganisation wird die Aufhebung der Warenproduktion (Punkt 1) und die revolutionäre Zerschlagung des Staates (Punkt 2) sein. Gelingt dies, dann transformiert sich die revolutionäre Klassenkampforganisation in die klassen- und staatenlose Gemeinschaft. Die revolutionäre Klassenkampforganisation ist also die Selbstaufhebung des Proletariats als Prozess.

Diese revolutionäre Organisation des Proletariats kann nur die Warenproduktion aufheben und den Staat zerschlagen, wenn sie ganz auf der kollektiv-solidarischen Selbstorganisation der Klasse ohne bürokratische Apparate und BerufspolitikerInnen beruht. Hauptamtliche Gewerkschafts- und ParteifunktionärInnen sowie BerufspolitikerInnen haben in der revolutionären Klassenkampforganisation des Proletariats nichts zu suchen! Revolutionäre Kleingruppen der vorrevolutionären Zeit gehen in der revolutionären Klassenkampforganisation auf. Diese kann nur die klassen- und staatenlose Gesellschaft gebären, wenn sie bereits mit deren Organisationsprinzipien schwanger geht.

Wir wissen nicht, wie die zukünftige revolutionäre Klassenkampforganisation aussehen wird. Die ArbeiterInnen- und Soldatenräte der europäischen revolutionären Nachkriegskrise (1917-1923) waren nur potenziell und tendenziell revolutionär. Sie hatten sich noch nicht das klare Ziel der Aufhebung der Warenproduktion und der revolutionären Zerschlagung des Staates gestellt. Und sie wurden zum Beispiel in Russland zuerst von menschewistischen und „sozialrevolutionären“ BerufspolitikerInnen deformiert, die versuchten die Sowjets in den proprivatkapitalistischen Staat zu integrieren. Später wurden bolschewistische BerufspolitikerInnen in den Sowjets immer stärker. Die Bolschewiki forderten demagogisch: „Alle Macht den Sowjets!“ Als sie dann mit Hilfe der Sowjets die politische Macht erobert hatten, zerschlugen sie diese als Organe des selbstorganisierten Klassenkampfes. Daraus gibt es nur eine Lehre zu ziehen: BerufspolitikerInnen raus aus der revolutionären Klassenkampforganisation! Allen politischen Parteien – auch den linkskommunistischen – und Gewerkschaften einschließlich der anarchosyndikalistischen, die die Führung des revolutionären Proletariats anstreben, muss ordentlich auf die Finger geklopft werden!

6. Revolutionäre Kritik des Antifaschismus. SozialrevolutionärInnen bekämpfen die Demokratie kompromisslos – so wie alle anderen Staatsformen. Sie kämpfen gegen FaschistInnen, Nazis sowie Militärputsche und -diktaturen, aber verteidigen niemals die Demokratie. So wie der Antifaschismus im Zweiten Weltkrieg und im spanischen BürgerInnenkrieg demokratische Regimes gegen faschistische Staaten und Militärputsche unterstützte und damit das große kapitalistische Massaker am Weltproletariat mit organisierte, ist er auch heute in den verschiedenen Gemetzeln Teil der Rechtfertigungsideologien und Mobilisierung für die Demokratie. RevolutionärInnen lehnen Einheits- und Volksfronten mit bürgerlichen Kräften – einschließlich der Sozialdemokratie, des Marxismus-Leninismus und des Trotzkismus gegen den Neofaschismus ab. Sie bekämpfen ihn auf klassenkämpferisch-revolutionärer Grundlage.

Das ist die Lehre aus dem spanischen BürgerInnenkrieg (1936-1939), bei dem die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung – von den StalinistInnen und SozialdemokratInnen über die linkssozialistische POUM bis zur anarchosyndikalistischen CNT – mit anderen bürgerlichen Kräften eine Volksfront bildete, gegen die die Generäle unter Franco putschten. Die Volksfront führte sowohl einen innerkapitalistischen und sozialreaktionären BürgerInnenkrieg gegen die putschenden Generale als auch einen Klassenkampf von oben gegen das Proletariat und den linken Flügel der Volksfront (POUM und Basis der CNT). Den Klassenkampf von oben gewann die Volksfront, während sie den BürgerInnenkrieg gegen Franco verlor. RevolutionärInnen mussten sowohl die Volksfront als auch die putschenden Generäle bekämpfen.

7. Gegen nationale „Befreiung“/Selbstbestimmung/Autonomie. Die Nationen sind Zwangs- und Scheingemeinschaften aus Kapital und Lohnarbeit. Ihr organisierender Kern ist der Nationalstaat. Nationen beruhen ökonomisch auf der erfolgreichen Vermehrung des Nationalkapitals, politisch auf der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und ideologisch auf den Nationalismus. Der Letztgenannte integriert die Lohnabhängigen in die jeweiligen Nationalstaaten und spaltet das Weltproletariat. Dieses wird in der globalen Interaktion der Nationen – sowohl kooperative Konkurrenz als auch konkurrenzförmige Kooperation – erbarmungslos verheizt. Die ProletarierInnen werden durch den Nationalismus in blutigen Gemetzeln aufeinandergehetzt – im Interesse des Weltkapitalismus.

RevolutionärInnen bekämpfen die nationalistische Benachteiligung und Unterdrückung von kulturellen, sprachlichen und religiösen Minderheiten sowie den Rassismus gegen Menschen mit bestimmten Hautfarben. Aber auch dagegen, dass aus diesen Minderheiten durch nationalistische Politik neue Nationen geformt werden. Für die dann entweder Autonomie in bestehenden Nationalstaaten verlangt und durchgesetzt (wie zum Beispiel „die KurdInnen“ im Nordirak und in Syrien) oder einen neuen unabhängigen Nationalstaat aufgemacht werden. Nationale „Befreiung“/Selbstbestimmung und Autonomie kann nur Kapital und Staat reproduzieren, aber eben nicht überwinden. Gegen nationalistische Unterdrückung hilft keine nationale „Befreiung“, sondern nur die soziale Befreiung von der Nation durch die mögliche Weltrevolution und die globale klassen- und staatenlose Gemeinschaft. In der globalen Konkurrenz der Nationen unterstützen die RevolutionärInnen keinen, sondern bekämpfen alle.

8. Gegen den Pazifismus. Der (klein)bürgerliche Pazifismus tritt für den bürgerlichen Frieden sowohl innerhalb der als auch zwischen den kapitalistischen Staaten ein. Doch dieser ist lediglich die nichtmilitärische Form der Konkurrenz aller gegen alle. Er ist asozial und gewalttätig. Im Inneren beruht er auf dem staatlichen Gewaltmonopol und in der Außenpolitik auf Aufrüstung. Der bürgerliche Frieden innerhalb des Kapitalismus ist nicht die Alternative zum Krieg, sondern dessen Quelle.

Der Pazifismus verlangt die freiwillige, kooperative und nennenswerte Abrüstung der kapitalistischen Staaten. Doch die ist aufgrund der globalen Konkurrenz illusorisch. Es kann nur eine wirkliche Abrüstung geben: die Zerschlagung aller Staaten durch die mögliche globale Revolution. Kompromissloser Klassenkrieg! Weltproletariat gegen Weltbourgeoisie!

9. Grundsätzliche Kritik sowohl des kapitalistischen Patriarchats als auch der bürgerlichen Frauenemanzipation im Kapitalismus. Für den revolutionären Kampf gegen das kapitalistische Patriarchat. Das kapitalistische Patriarchat ist sowohl klassenübergreifend als auch klassenspezifisch. Frauen sind innerhalb der Bourgeoisie (Kapitalistinnen, Managerinnen, Berufspolitikerinnen und Spitzenbeamtinnen) unterrepräsentiert, während die Proletarierinnen einer sexistischen Extrauausbeutung unterworfen werden. So sind zum Beispiel Frauenlöhne durchschnittlich niedriger als Männerlöhne. Ein Ausdruck des kapitalistischen Patriarchats ist auch, dass die meisten biosozialen Reproduktionstätigkeiten (einkaufen, reinigen der Wohnung, Pflege von kranken und/alten Menschen, Beaufsichtigung und Erziehung von Kindern…) sowohl innerfamiliär als auch durch Lohnarbeit durchschnittlich hauptsächlich von Frauen verrichtet werden. Weitere Aspekte des kapitalistischen Patriarchats sind die Degradierung der Frauenkörper zum Sexualobjekt – besonders in Pornographie und Prostitution –, patriarchal-sexistische Gewalt gegen Frauen einschließlich von Femiziden sowie staatliche Repression gegen Abtreibungen.

Der (klein)bürgerliche Feminismus kämpft für Gleichberechtigung von Frauen und Männern innerhalb des Kapitalismus und damit der Klassenspaltung. Er erkämpfte in seiner Geschichte das Frauenwahlrecht, die Zulassung von Frauen zu bestimmten Berufen und immer mehr Berufspolitikerinnen und Wirtschaftsmanagerinnen. Und auch die sexistische Extraausbeutung der Frauen konnte abgemildert werden. Die völlige Durchsetzung der bürgerlichen Frauenemanzipation innerhalb des Kapitalismus würde bedeuten, dass Frauen innerhalb der Bourgeoisie nicht mehr unterrepräsentiert und die Proletarierinnen nicht mehr sexistisch extra ausgebeutet werden sowie die biosozialen Reproduktionstätigkeiten gleichmäßig unter den Geschlechtern, aber ungleichmäßig zwischen den Klassen verteilt werden. Die Durchsetzung von Punkt eins ist wahrscheinlicher als der Punkte 2 und 3. Jedoch haben die Proletarierinnen nichts davon, wenn sie von mehr Politikerinnen regiert, von Kapitalistinnen ausgebeutet und von Chefinnen herumkommandiert werden. Der bürgerliche Feminismus führt geradewegs zur „feministischen Außenpolitik“ kapitalistisch-imperialistischer Staaten…

Auch wenn der (klein)bürgerliche Feminismus es noch so sehr leugnet: es gibt auch weiblichen Sexismus gegen Männer. Klar, die bürgerliche Kleinfamilie ist grundsätzlich – auch von ihrer Geschichte her – patriarchal und vom männlichen Sexismus geprägt. Aber es gibt auch zwischenmenschliche Beziehungen, in denen Frauen Männer unterdrücken. Und auch sexuelle Belästigung von Männern durch Frauen. Dieser weibliche Sexismus kommt auch teilweise im (klein)bürgerlichen Feminismus zum Ausdruck. Zum Beispiel wenn in der feministischen Ideologie teilweise unterschwellig anklingt, aber manchmal auch offen behauptet wird: Frauen sind die besseren Menschen. Oder wenn einige Feministinnen gegen trans Frauen als „Männer in Frauenkleidern“ hetzen. Das ist nicht „nur“ transfeindlich, sondern auch sexistisch gegen Männer. RevolutionärInnen bekämpfen den weiblichen Sexismus genauso konsequent wie den männlichen.

RevolutionärInnen stellen der bürgerlichen Frauenemanzipation im Kapitalismus grundsätzlich den revolutionären Kampf gegen das Patriarchat gegenüber. Durch die soziale Revolution sowie die klassen- und staatenlose Gemeinschaft können viele biosoziale Reproduktionstätigkeiten, die im Kapitalismus hauptsächlich innerfamiliär und von Frauen verrichtet werden, auf freiwilliger Grundlage vergesellschaftet und auf alle Geschlechter fair verteilt werden. Nur durch die revolutionäre Aufhebung der Ware-Geld-Beziehung sowie des sozialen und sexuellen Elends kann auch die Prostitution überwunden werden. Ihr staatliches Verbot, die Teile des Feminismus fordern, können diese nur in den Untergrund treiben und das Leben der Prostituierten erschweren.

10. Gegen heterosexuelle und geschlechtliche Normierungen – aber auch gegen die verlogene staatliche „Regenbogentoleranz“ und kleinbürgerliche Identitätspolitik. RevolutionärInnen bekämpfen sowohl die staatliche Repression gegen Menschen, die der heterosexuellen und binären Geschlechternorm nicht entsprechen – homo-/bisexuelle, nichtbinäre und trans Menschen – in jenen Ländern, wo diese besteht, als auch die verlogene „Regenbogentoleranz“ von in dieser Frage liberaleren Nationen und Staatenbündnisse. Grundsätzlich braucht der Kapitalismus keine heterosexuellen und geschlechtlichen Normierungen. Solange Schwule, Lesben, nichtbinäre und trans Menschen durch fleißige Produktion und aufgeschlossenem Konsum das Kapital vermehren sowie brave StaatsbürgerInnen sind, ist für den modernen Liberalismus alles in Ordnung. Liberale Staaten und Staatenbündnisse wie die Europäische Union (EU) machen auch die „Regenbogentoleranz“ zur imperialistischen Waffe gegen Staaten, mit denen sie aus anderen Gründen konkurrieren und die repressiv die heterosexuelle und geschlechtliche Normierung durchsetzen.

RevolutionärInnen unterschieden zwischen biologischen Geschlechtern, sozialen Geschlechterrollen und individuellen Geschlechtsidentitäten. Soziale Geschlechterrollen wollen sie durch die soziale Revolution aufheben (siehe Punkt 9), während sie alle individuelle Geschlechtsidentitäten tolerieren, solange die sich nicht gegen andere richten. Soll jede/r nach seiner/ihrer Fasson glücklich werden. Aber RevolutionärInnen wissen auch, dass im Kapitalismus alle Identitäten – unter anderem „Nation“, Hautfarbe, Religion, biologisches Geschlecht, soziale Geschlechterrolle und individuell Geschlechtsidentität sowie sexuelle Orientierung – zu Kostümen im Konkurrenzkampf aller gegen alle werden. Der rechtskonservativ-neofaschistische Konkurrenzchauvinismus gegen „AusländerInnen“, „Nichtweiße“, Homosexuelle, nichtbinäre und trans Menschen genau wie die linksliberale Hetze gegen „cis-Männer“ und „alte, weiße Männer“ – damit die jungen, „nichtweißen“ Frauen innerhalb von KleinbürgerInnentum und Bourgeoisie ordentlich Karriere machen können. RevolutionärInnen bekämpfen sowohl die rechtskonservativ-neofaschistische als auch die linksliberale Identitätspolitik als Konkurrenzchauvinismus und Spaltung des Weltproletariats.

11. Grundsätzliche Kritik des bürgerlichen „Umweltschutzes“ innerhalb des Kapitalismus. Für die Reinigung des Planeten von kapitalistischem Dreck! Das kapitalistische Produktionsverhältnis, in dem sich alles um die grenzenlose Vermehrung des Tauschwertes/Geldes dreht, ist absolut sozialreaktionär und zerstörerisch gegen die pflanzliche und tierische Mitwelt. Die massenhafte Vergiftung, Zubetonierung, Vermüllung und Entwaldung unseres Planeten, der Klimawandel und das massenhafte Artensterben sind lebensgefährliche Ausdrücke der vom Kapitalismus permanent produzierten sozialökologischen Krise. Die technokratischen Versuche der kapitalistischen Staaten den Klimawandel zumindest einzudämmen, verschärfen diese Krise nur. Elektromobilität statt Verbrennungsmotor! Auf dass der lebensgefährliche, ressourcenverschwenderische und zerstörerische, aber eben auch sehr profitable Individualverkehr weiter reproduziert wird. Und Wälder für neue Autobahnen weichen müssen. Eindämmung des Klimawandels durch Windräder in „Naturschutzgebieten“! So sehen die „Lösungen“ der kapitalistischen Technokratie aus.

Auch die klassenübergreifende Umweltbewegung ist aus sich heraus nicht in der Lage, die kapitalistische Vernichtung der pflanzlichen und tierischen Mitwelt sowie den Klimawandel aufzuhalten. Nur die mögliche Weltrevolution kann durch die Überwindung der kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsverhältnisse die ökosoziale Krise eindämmen. Dies spricht nicht dagegen, dass RevolutionärInnen an lokalen Bewegungen gegen konkrete kapitalistische Naturzerstörungen teilnehmen, um radikalisierende Impulse zu geben. Aber sie müssen immer die strukturelle kleinbürgerliche Beschränktheit auch der radikalsten klassenübergreifenden Umweltbewegung kritisieren. In der institutionalisierten Umweltbewegung, also in den verschiedenen kleinbürgerlichen Vereinen, haben RevolutionärInnen grundsätzlich nichts verloren.

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Inhalt

Einleitung

Die sozialstaatlich-karitative Verwaltung des kapitalistisch produzierten Elends

I. Die kapitalistisch-politische Produktion des Elends

1. Die kapitalistisch-politische Ausbeutung der Lohnabhängigen

2. Die „Freisetzung“ auf den Arbeitsmärkten

3. Die Ruinierung von produktions- und handelsmittelbesitzenden KleinbürgerInnen

4. Elend und „Armut“

II. Die sozialpolitische Verwaltung des Elends

1. Der Soziallohn

2. Sozialstaatliche Transferzahlungen an Langzeitarbeitslose

3. Der Sozialstaat als Gewaltapparat

4. Die Integration der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung in den Sozialstaat

5. Die UNO als globales Sozialamt

III. Die menschlichen Objekte der sozialstaatlichen Elendsverwaltung

1. Erkrankte Menschen

2. Menschen mit Behinderung

3. Kinder und Jugendliche

4. RentnerInnen

5. Erwerbslose Menschen

6. Fliehende und geflohene Menschen

7. Inhaftierte Menschen

Immobilieneigentum, Mietverhältnisse und Obdachlosigkeit

1. Das Eigentum an Wohnungen

2. Mietverhältnisse

3. Obdachlosigkeit

4. Staatliche Bau- und Mietenpolitik sowie Obdachlosenverwaltung

5. Wohn- und mietenpolitischer Sozialreformismus

6. Die sozialrevolutionäre Lösung der Wohnungsfrage

Die Digitalisierung der Kapitalvermehrung

I. Gesellschaftliche Aspekte der Digitalisierung

1. Wissenschaftlich-technische Aspekte der Digitalisierung

2. Sozialökonomische Aspekte der Digitalisierung

3. Sozialpsychologische Aspekte der Digitalisierung

II. Der kapitalistische Staat und die Digitalisierung

1. Die Digitalisierung der staatlichen Infrastruktur

2. Die Optimierung der staatlichen Überwachung

3. Die staatliche Subventionierung und Regulierung des digitalen Privatkapitals

4. Die zwischenstaatliche Konkurrenz um die Digitalisierung

III. Klassenkampf und Digitalisierung

1. Die Digitalisierung als Instrument im Klassenkampf von oben

2. Die Digitalisierung und der Klassenkampf der Lohnabhängigen und prekären Selbständigen

3. Obdachlosigkeit

Das Elend für große Teile des Weltproletariats, die sich den Bau eines eigenen Hauses entweder nicht leisten können oder wollen, besteht also im Mangel an bezahlbaren Mietwohnungen. Ein Mangel, der sich grundsätzlich nur sozialrevolutionär durch die Aufhebung des Wohnungsmietverhältnisses als Teil der Ware-Geld-Beziehungen lösen lässt (siehe Kapitel 6 dieser Schrift).

Zum sozialen Elend des Weltproletariats gehört auch die Obdachlosigkeit. Dies ist eine globale Lebenslage, in der Menschen keinen festen Wohnsitz haben und im öffentlichen Raum, im Freien oder in Notunterkünften übernachten. In den Industriestaaten ist die Mehrzahl der obdachlosen Menschen männlich. Unter den alleinstehenden Obdachlosen sind etwa 80 Prozent Männer. In der BRD hatten 2022 607.000 Menschen nach Angaben der regierenden Charaktermasken dieses Staates keine eigene Wohnung. Ganz ohne Unterkunft auf der Straße lebten in diesem Land rund 50.000 Menschen.

Dieter Rheinisch schrieb im Dezember 2023 über die Zunahme der Obdachlosigkeit in Großbritannien und Irland: „Die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen in England nimmt dramatisch zu. Dieses Jahr (2023) werden laut einer neuen Studie 309.550 Menschen Weihnachten auf der Straße, in Notunterkünften oder im Auto verbringen müssen. Auch in Irland spitzt sich die Lage zu. (…)

So ist in England die Zahl der Obdachlosen innerhalb eines Jahres um 14 Prozent gestiegen, teilte die Hilfsorganisation Shelter am Donnerstag (14. Dezember 2023) mit. Einer von 182 Menschen ist betroffen. Bei Kindern ist das Verhältnis noch dramatischer: Eines von 85 Kindern in England ist wohnungs- oder obdachlos. Offizielle Regierungsdaten zeigen, dass derzeit eine Rekordzahl von 139.000 Kindern in provisorischen Unterkünften lebt.

Die Zahlen von Shelter zeigen, dass vor allem die Obdachlosigkeit in den vergangenen zwölf Monaten stark zugenommen hat: Mehr als 3.000 Menschen schlafen jede Nacht auf der Straße. Das ist ein Anstieg von 26 Prozent in nur einem Jahr. Fast 280.000 Menschen leben darüber hinaus derzeit in unsicheren und gesundheitsschädlichen Notunterkünften. Außerdem zeigen Zahlen der Regierung, dass fast die Hälfte der Familien in provisorischen Unterkünften seit mehr als zwei Jahren dort leben, schreibt Shelter. Hinzu kommen 20.000 Menschen in Heimen oder betreuten Unterkünften.

,Obwohl unsere Analyse die umfassendste Übersicht über die in England registrierte Obdachlosigkeit ist, ist die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher, da einige Formen der Obdachlosigkeit, wie z. B. ,Sofasurfenʻ, nicht dokumentiert sindʻ, betonte Shelter-Direktorin Polly Neate bei der Vorstellung des Berichts. ,Chronisch unzureichende Investitionen in den sozialen Wohnungsbau haben dazu geführt, dass sich die Menschen die explodierenden privaten Mieten nicht mehr leisten können und die Obdachlosigkeit auf ein Rekordniveau gestiegen istʻ, so Neate weiter. (…)

Ähnlich problematisch ist die Situation in Irland, wo die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen ebenfalls rapide ansteigt. (…) Die Zahl der Obdach- und Wohnungslosen dort liegt derzeit bei fast 15.000 Menschen. Die Dunkelziffer dürfte auch hier um ein Vielfaches höher liegen.“ (Dieter Rheinisch, Weihnachten auf der Straße, in: junge Welt vom 18. Dezember 2023, S. 9.)

Formularbeginn

Damit hinter den Zahlen die wirklichen Menschen deutlich werden, wollen wir hier die Schilderung der ehemaligen Obdachlosen Rachel Moran aus Irland wiedergeben. Rachel Moran wuchs in einer Familie mit psychisch kranken Eltern auf. Als der Vater Selbstmord beging, wurde für sie die Situation mit der Mutter unerträglich. Sie befreite sich 1989/90 mit 14 aus der Familie und geriet in die gefühlskalte Verwaltung des Sozialstaates und schließlich in die Obdachlosigkeit.

Sie schrieb später darüber: „Nur wenige Monate nach dem Selbstmord meines Vaters verließ ich mein Elternhaus. Die Paranoia meiner Mutter und ihr Hang, nach Sündenböcken zu suchen, hatten innerhalb weniger Wochen den Siedepunkt erreicht und konzentrierten sich voll auf mich. Sie bombardierte mich jeden einzelnen Tag mit Verbalattacken. Wenn wir uns heftig stritten, was andauernd der Fall war, spuckte sie regelmäßig den Hinweis aus, ich solle zu einem Sozialarbeiter gehen und mir ein Heim suchen. Je mehr ich über ihren Hinweis nachdachte, desto mehr leuchtete er mir ein. Mir graute davor, in die Welt hinauszugehen und mich allein durchzuschlagen, aber mein Leben zuhause war schlichtweg unerträglich, und ich wusste, dass ich nicht bleiben konnte, also tat ich genau das, was sie mir nahelegte. Ich ging zum Gesundheitszentrum unseres Viertels und bat um ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Ich kam mir dabei sehr zielstrebig vor, so als würde ich mein Leben selbst in die Hand nehmen, sackte aber zusammen, als ich der Sozialarbeiterin unter Tränen erklärte, weshalb ich da war. Ich sagte immer wieder: ,Ich muss da raus, ich muss da endlich raus.ʻ Innerhalb einer Woche hatte sie mich tatsächlich da rausgeholt. Damit begann die schwindelerregende Erfahrung, unter staatlicher Vormundschaft zu leben.

Die erste Unterbringung, an die ich vermittelt wurde, war ein von der Heilsarmee betriebenes Heim im Stadtzentrum, das Lefroy House hieß. Im Laufe der darauffolgenden achtzehn Monate war ich immer wieder obdachlos, im Alter von vierzehn bis fünfzehneinhalb Jahren. Fast jedes Mal, wenn mein Aufenthalt in einem Heim oder in einer Pension endete, war ich wieder obdachlos. Zu Beginn meiner Phasen im äußersten Elend führte ich ein sehr einsames Leben, gab mich mit niemandem ab, ging auf niemanden zu, bat nicht um Hilfe und erhielt folglich auch keine.

Mal riss ich von Heimen aus, mal wurde ich rausgeworfen. Ich war nie gewalttätig, jedoch absolut unnachgiebig, wenn es um Regeln ging, denen ich mich nicht unterwerfen wollte. Ich war sehr willensstark und keineswegs auf den Mund gefallen. Trotz alledem kann ich einige Gründe nicht akzeptieren, die vorgebracht wurden, um mich vor die Tür zu setzen. Zu diesen Gründen gehörte, dass ich einmal mit nur einen Schuh an den Füßen ankam, weil ich kurz zuvor verprügelt worden war, oder dass man mich ein anderes Mal erwischte, in meinem Zimmer Tabletten in einem Glas gehortet zu haben, für den Fall, dass ich eventuell einmal Selbstmord begehen wollte. Ich hatte schon in meiner Kindheit Selbstmordgedanken gehabt. (…)

Der erste Schock, als ich obdachlos wurde, war die kontinuierliche, unablässige Notwendigkeit, ständig unterwegs zu sein. Die Suche nach Orten, an denen man einfach nur sein konnte, stellte ein weitaus größeres Problem dar, als ich es mir zuvor hätte träumen lassen. Nirgendwo, wo man hingeht, wird man in Ruhe gelassen. Diesen Luxus kann man nirgendwo erwarten, schließlich sind einem alle privaten Orte der Welt verschlossen, und alle öffentlichen Orte bieten keinerlei Privatsphäre. Viele der letzteren gewähren einem nicht einmal Zutritt.

Was das Problem betrifft, einen Platz zum Schlafen zu finden, so deckt buchstäblich nichts die Bedürfnisse ab, die selbst die mickrigste und schäbigste Bruchbude erfüllt. Kein einziger Platz bietet Trockenheit, Sicherheit, Sauberkeit, Wärme und einen Minimalkomfort. Eine Parkbank mag trocken sein, wenn es nicht regnet, sie mag sogar sauber sein, wenn man Glück hat, aber sie ist weder sicher noch warm, noch bequem. Eine Stelle unter einem Busch ist vielleicht trocken, falls man das Wetter auf seiner Seite hat, aber sie ist weder sicher noch sauber, noch warm, noch bequem.

Ich habe an vielen Plätzen dieser Art geschlafen und einer war so erbärmlich wie der andere. Einmal schlief ich in einem Bus, der in einem Depot mit offenen Türen abgestellt worden war. Als ich aufwachte, fuhr ich in den frühen Morgenstunden über die damals noch grünen Felder von Westdublin. Ich hatte keinen Schimmer, wo ich war, und es war ein unsanftes Erwachen, aber ich fand, dass es sich gelohnt hatte. Es war die bequemste Nacht seit Langem.

Einmal fiel ich für etwa eine halbe Stunde auf dem kalten Fliesenboden einer Toilette bei McDonaldʻs auf der OʻConnell Street in einen unruhigen Schlaf. Die Nacht zuvor hatte ich keinen Schlafplatz finden können und war zutiefst erschöpft, also ging ich zu McDonaldʻs, kaum, dass sie geöffnet hatten, um Egg McMuffins zum Frühstück zu verkaufen. Ich dachte, wenigstens auf der Toilette hätte ich einen sicheren Raum für mich. Ich wurde von einer Mitarbeiterin, die hereingekommen war, um die Toiletten zu reinigen, aus dem Schlaf gerissen und rausgeworfen. Das führt mich zur wahren und schlimmsten Verheerung, die die Obdachlosigkeit mit sich bringt: die Einsamkeit. Es ist die Erfahrung, dass man absolut unerwünscht ist, dass die eigene, bloße Anwesenheit an allen Orten und in allen Situationen ein unerquicklicher Umstand ist. Egal, wo man sich als obdachlose Person befindet, man ist immer unwillkommen. Wenn ein Mensch obdachlos ist, so sinkt sein gefühlter Wert für die Gesellschaft auf null. Er existiert nicht. Ihrem Selbstgefühl nach sind solche Menschen wertlos und missliebig, soziale Parias, Verstoßene, Außenseiter, deren bloßer Körper ein unerwünschter Störfaktor ist, den sie mit sich herumtragen müssen, wohin sie auch gehen. Sie sind im wortwörtlichsten Sinne unerwünscht. Sie sind die verkörperte Überflüssigkeit. Ich habe all diese Gefühle zu spüren bekommen, als ich obdachlos war. Das tun alle obdachlosen Menschen. Es ist unumgänglich.“ (Rachel Moran, Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution, Tectum Verlag, Marburg 2015, S. 63-68.)

Rachel Moran entkam der Obdachlosigkeit, indem sie mit 15 Jahren in die Prostitution geriet, aus der sie sich dann nach sieben Jahren ebenfalls befreite…

Aber Obdachlose sind nicht nur leidende Menschen, sie sind auch Teil des globalen proletarischen Klassenkampfes. Johannes Schulten schrieb 2009 über den Wohnungsnotstand, staatliche Repression und den sozialen Widerstand in Sao Paulo/Brasilien: „In der brasilianischen 20-Millionen-Metropole Sao Paulo herrscht akuter Wohnraumnotstand. Allein in Stadtkern mangelt es nach offiziellen Angaben an 600 000 Wohnungen. Städtische ,Aufwertungsprogrammeʻ trieben die Mieten in den letzten Jahren in die Höhe. Die Immobilienspekulation boomt. Während inzwischen sogar Mittelstandsfamilien ihre Stadtwohnungen nicht mehr bezahlen können und an die Peripherie übersiedeln, bleibt für die stetig wachsende Zahl der Menschen, die ihren Lebensunterhalt in der Schattenwirtschaft verdienen, häufig nur die Favela. Aber auch in den brasilianischen Slums wird der Platz knapp. Innerhalb der letzten 20 Jahre sind die städtischen Elendsviertel fünfmal schneller gewachsen als die gesamte Metropolenregion. In den etwa 1600 Favelas im Großraum Sao Paulo leben bis zu 1,2 Millionen Menschen.

Wo staatlicherseits wenig Abhilfe zu erwarten ist, gehen Obdachlosenorganisationen seit einigen Jahren dazu über, sich den benötigten Wohnraum einfach anzueignen. Gruppen wie die 1997 gegründete Bewegung obdachloser Arbeiter (MSTS), ein Ableger der Landlosenorganisation MST, verlassen die Favelas und besetzen nicht genutztes Land in den Vorstädten.

Eine dieser Siedlungen befindet sich im Viertel Capao Redondo im Süden von Sao Paulo. Vor zwei Jahren (2007) besetzten etwa 600 Familien hier nicht genutztes Privatgelände, dass sich im Besitz eines nationalen Busunternehmens befindet. Inzwischen ist die Zahl der Familien, die dort leben, auf über 800 angewachsen. Für die Stadtverwaltung gilt die Siedlung jedoch immer noch als illegal. Am vergangenen Montag (24. August 2009) war es dann soweit. Unter dem Einsatz von Tränengas und Blendgranaten stürmten etwa 250 Polizisten der brasilianischen Militärpolizei das Gelände. Die Bewohner verteidigten sich mit dem, was sie hatten: Es flogen Steine und Molotow-Cocktails; Autos, Reifen und Schrott dienten als Barrikaden. Nach sechs Stunden war das Spektakel vorbei, der Widerstand der rund 500 Verteidiger gebrochen. Die Bulldozer rollten ein. Einen Tag später, am Dienstag (25. August 2009) stand kein Haus mehr.

Wie sehr solche Aktionen zum Alltag in Brasilien gehören, zeigt die Reaktion eines Polizeikommandeurs. Auf die Journalistenfrage, ob die Räumung angesichts der Ausschreitungen nicht abgebrochen werden müsse, antwortete er lapidar: ,Ein wenig Widerstand ist für uns normalʻ. Einen Grund, die Aktion abzubrechen, sehe er nicht. Was bleibt, waren Dutzende verhaftete Favela-Bewohner, einige Verletzte. Am Mittwoch (26. August 2009) befanden sich nach Aussagen verschiedener Obdachlosenorganisationen immer noch 500 Familien auf dem Gelände. Einen Ort, wohin sie gehen könnten, haben sie nicht.“ (Johannes Schulten, Bulldozer statt Recht auf Wohnen, in der junge-Welt-Beilage faulheit & arbeit vom 29./30. August 2009, S. 5.)

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Neue Broschüre: Globale Klassenkämpfe (2021/2022) https://swiderstand.blackblogs.org/2023/03/02/neue-broschuere-globale-klassenkaempfe-2021-2022/ Thu, 02 Mar 2023 23:58:24 +0000 http://swiderstand.blackblogs.org/?p=607 Unsere neue Broschüre „Die Krise der biosozialen Reproduktion“ (ca. 138 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

1. Das produktive und „unproduktive“ Elend des Weltproletariats

2. Der Weltkapitalismus

3. Die Dynamik des weltweiten Klassenkampfes

4. Die globale institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung

5. Klassenkonflikte im Gesundheitswesen und in der Pflege

6. Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst und in den Staatsapparaten

7. Klassenkämpfe in der Rohstoff-, Chemie- und Energiebranche

8. Kämpfe auf dem Bau

9. Konflikte in Bildung und Wissenschaft

10. Klassenkonflikte bei den Druckereien, Medien und Internetplattformen

11. Klassenauseinandersetzungen im Handel

12. Konflikte im Personen- und Güterverkehr (Logistik)

13. Auseinandersetzungen in der Metall- und Elektrobranche

14. Klassenkonflikte in der Finanzbranche

15. Kämpfe in der Agrarproduktion und der Lebensmittelindustrie

16. Klassenzusammenstöße bei Starbucks

17. Konflikte in der Reinigungsbranche

18. Auseinandersetzungen in der Textilbranche

19. Proletarischer Widerstand gegen Aufrüstung, Waffentransporte und Krieg

20. Branchenübergreifende Massenstreiks

21. Gesamtgesellschaftliche Protestbewegungen

22. Die mögliche soziale Weltrevolution

6. Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst und in den Staatsapparaten

Die staatlich dienenden Lohnabhängigen werden von dem dialektischen Widerspruch bestimmt, dass sie einerseits im Auftrag der Bourgeoisie teilweise gegen das klassenkämpferische Proletariat repressiv vorgehen, andererseits aber auch selbst einen Klassenkampf gegen die regierenden BerufspolitikerInnen um Löhne und Arbeitszeiten führen. Falls sich der gesamtgesellschaftliche Klassenkampf in außergewöhnlichen Situationen zur sozialen Revolution radikalisiert, ist die antipolitische Zerschlagung des Staates notwendig. Diese ist jedoch unmöglich, wenn sich nicht große Teile der staatlich dienenden Lohnabhängigen auf die Seite der Revolution stellen (siehe Kapitel 22). Konflikte zwischen den staatlich dienenden Lohnabhängigen und den regierenden BerufspolitikerInnen sind also für die weitere Entfaltung der Dynamik des globalen Klassenkampfes enorm wichtig.

Aus der Perspektive von Kapital und Staat sind für deren Reproduktion selbstverständlich staatstragende Gewerkschaften wichtig, die darauf achten, dass der Klassenkampf der staatlich dienenden Lohnabhängigen im Rahmen des Bestehenden bleiben. Das sich das deutsche Nationalkapital voll auf seine Gewerkschaften verlassen kann, zeigte unter anderem die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst der Bundesländer im Jahre 2021. Als die Seite der regierenden BerufspolitikerInnen verhandelte die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) und auf der Gewerkschaftsseite die DGB-Organisationen Verdi, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Gewerkschaft der Polizei (GdP), und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) sowie die BeamtInnenorganisation dbb tarifunion. Die Bundesländer beuten durchschnittlich zwei Millionen staatlich dienende Lohnabhängige aus. Verhandlungen zum Tarifvertragsschacher fanden am 8. Oktober in Berlin, den 1./2. November und am 27./28. November 2021 jeweils in Potsdam statt.

Die Gewerkschaften gingen mit der Forderung nach fünf Prozent mehr Gehalt und einer Mindestlohnerhöhung von 150 Euro bei einer Laufzeit des Tarifvertrages von einem Jahr in die Verhandlungen. Außerdem forderte Verdi, dass die Beschäftigten des Gesundheitswesens im öffentlichen Dienst der Bundesländer tabellenwirksam 300 Euro mehr Lohn pro Monat erhalten sollten. Für die Auszubildenden wurde eine Erhöhung der Vergütungen um 100 Euro verlangt. Auch strebte Verdi mit den Bundesländern einen separaten „Verhandlungstisch“ zum Gesundheitswesen an.

Während des Tarifvertragsschachers organisierten die Gewerkschaften ein paar Warnstreiks, damit der Druck der Basis kanalisiert und kontrolliert abgelassen werden konnte. So zum Beispiel die Gewerkschaft Verdi in Nordrhein-Westfalen. Am 9. November 2021 legten die Beschäftigten der dortigen Unikliniken in Düsseldorf, Essen und Köln die Arbeit nieder. Am 10. November organisierte Verdi Streiks an den Kliniken in Bonn und Münster. Außerdem organisierte die Gewerkschaft ebenfalls am 10. November einen bundesweiten Warnstreik von Nachwuchskräften im öffentlichen Dienst der Länder.

Auch organisierten die Gewerkschaften GEW und Verdi unabhängig voneinander – die Bonzen dieser Gewerkschaften ließen ihre Mitglieder noch nicht einmal gemeinsam die Arbeit niederlegen – in der zweiten Novemberwoche Streiks von ErzieherInnen, Lehrkräften und Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Berlin. So rief Verdi MitarbeiterInnen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) zu einer achttägigen Arbeitsniederlegung auf, die am 10. November begann. Am 11. November rief die GEW zu einem Warnstreik auf. Am 16. November (Gesundheitstag) organisierte Verdi flächendeckende Streiks im Gesundheitswesen der Bundesländer. Außerdem organisierten die Gewerkschaften am 25. November 2021 noch einmal Warnstreik und Demonstration in Berlin, an der 4.000 KollegInnen teilnahmen.

Nachdem die Gewerkschaftsbonzen ein wenig streiken ließen, einigten sie sich mit den regierenden BerufspolitikerInnen der Bundesländer am 29. November 2021auf einen Tarifvertrag, der ein Reallohnverlust für die Lohnabhängigen bedeutete. Wieder einmal zeigte es sich, wie wichtig Gewerkschaften für ein funktionierendes Nationalkapital sind. Die im Tarifvertragsschacher aufgestellte Forderung nach einer finanziellen Gleichstellung von angestellten und verbeamteten LehrerInnen wurde fallengelassen wie eine heiße Kartoffel. Auch im Gesundheitswesen der Bundesländer wurde durch den Tarifvertrag keine generelle Lohnerhöhung erreicht. Die Gewerkschaftsbonzen setzten lediglich verbesserte Zulagenregelungen für bestimmte Bereiche durch. Generell bekamen die Lohnabhängigen des öffentlichen Dienstes 2,8 Prozent mehr Geld und eine steuerfreie Eimalzahlung von 1.300 Euro. Und dies bei einer Laufzeit des Tarifvertrags von 24 Monaten (1. Oktober 2021 bis 30. September 2023). Die nach dem Tarifvertragsschacher erst richtig einsetzende Inflation fraß die mickrige Lohnerhöhung vollständig und noch viel mehr auf.

Der Verdi-Apparat ließ, nachdem er erfolgreich zusammen mit der Regierungspolitik der Bundesländer einen gewaltigen Reallohnverlust organisiert hatte, ein wenig Gewerkschaftsdemokratie spielen. Er ließ, gnädig wie er ist, eine unverbindliche Mitgliederbefragung zu. Und am 17. Dezember 2021 beschloss die Verdi-Bundestarifkommission endgültig den erfolgreichen Angriff auf den Geldbeutel der Mitglieder. Auch die GEW zeigte sich so staatsmännisch wie sie ist und nannte auf einer Pressemitteilung vom 29. November 2021 den Tarifvertrag einen „verantwortungsvollen Abschluss in schwieriger Corona-Zeit“ (zitiert nach LabourNet Germany). Klar, es war ganz schwer für die regierenden Charaktermasken des kapitalistischen Staates. Da muss eine verantwortungsbewusste Gewerkschaft schon mal einen Reallohnverlust der staatlich dienenden Lohnabhängigen mit organisieren.

Auch in diesem reproduktiven Klassenkampf entfaltete sich bereits der Gegensatz zwischen den Gewerkschaftsapparaten und „ihrer“ lohnabhängigen Basis. An diesen knüpfen proletarische RevolutionärInnen an, ohne sich jedoch an die Kapital und Staat reproduzierenden Grenzen und das sozialreformistische Bewusstsein des innergewerkschaftlichen Protestes anzupassen.

So hieß es in einer Resolution der Verdi-Basisgruppe Botanischer Garten Berlin vom 7. Dezember 2021: „In der Tarifrunde der Länder (TV-L) haben sich Gewerkschaften und die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) auf ein Verhandlungsergebnis geeinigt. Bis zum 22.12.21 sollen Mitgliederbefragungen in den Betrieben und Dienststellen stattfinden. Die Option ,weiterstreiken‘ ist in der Abfrage nicht vorgesehen! Tarifeinigung: Inflation frisst Lohnerhöhung! (…)

Durch den Reallohnverlust wird der öffentliche Dienst eine Abwertung, statt der notwendigen Aufwertung erfahren! Gravierend negative Folgen inklusive: Aus den Verwaltungen im öffentlichen Dienst wird jetzt schon berichtet, dass die Bewerberlage für Stellenangebote schlecht ist. Viele Beschäftigte wandern in die Privatwirtschaft ab. Aber nicht nur Beschäftigte leiden unter der mangelnden Ausfinanzierung, sondern alle Menschen, die von der öffentlichen Daseinsvorsorge abhängig sind: Studierende, Schüler, Kinder, Eltern, Pflegebedürftige, Geflüchtete etc. Stimmen wir für den Reallohnverlust, dann beteiligen wir uns auch daran, dass der öffentliche Dienst weiter an Kraft und Bedeutung verliert. Neoliberale Kräfte verwenden dann mangelnde Qualität als Folge der schlechten Ausfinanzierung als Argument für weitere Ausgliederungen! Mit den Ausgliederungen verliert die Politik Steuerungsmöglichkeiten und WählerInnen demokratischen Einfluss. (…)

(Anmerkung der Nelke: Hier haben wir die staatsreproduzierende Grenze des reproduktiven Klassenkampfes und -bewusstseins vor uns. Die KollegInnen hegen noch große selbstentwaffnende Illusionen in das demokratische Regime ihrer AusbeuterInnen. Sie kämpfen für eine Verbesserung des öffentlichen Dienstes, aber (noch?) nicht bewusst gegen den Staat als politischen Gewaltapparat der Kapitalvermehrung. Natürlich bekämpfen auch proletarische RevolutionärInnen die konkrete Wirtschaftspolitik in der strukturellen Profitproduktionskrise (siehe Kapitel 2) – Privatisierung der Gewinne, Verstaatlichung der Verluste –, aber sie schüren keine Illusionen in den Staatssektor.)

Dass GEW und Verdi nicht einmal zu gemeinsamen Streiks aufgerufen haben, lässt uns vermuten: Es wäre mehr drin gewesen. Wie kann man die vorliegende Einigung als alternativloses Resultat gegenseitigen Kräftemessens repräsentieren, wenn die Kräfte auf Gewerkschaftsseite durch gemeinsame Streiks zu keinem Zeitpunkt gebündelt wurden? (…)

Das Totschlagargument der geringen ,Durchsetzungskraft‘ bzw. des geringen ,Organisationsgrades‘ muss in Frage gestellt werden. Wie sollen wir neue Mitglieder gewinnen, wenn die Gewerkschaft nicht im Ansatz zeigt, dass sie bereit ist, für die Durchsetzung ihrer Forderungen zu kämpfen, sondern schnellstmöglich den erstbesten (oder besser gesagt erstschlechtesten) faulen Kompromiss eingeht. (…)

Wir erteilen der Tarifeinigung mit Reallohnverlust für die Beschäftigten, die den Laden am Laufen halten, eine klare Absage! Ebenso kritisch sehen wir die Verfahrensweise und die demokratischen Prozesse: In der Multiple-Choice-Umfrage zum Verhandlungsergebnis können Verdi-Mitglieder die Option ,Weiterstreiken‘ nicht einmal ankreuzen. Gleichzeitig wird die Coronapandemie als Argument gegen Erzwingungsstreiks genutzt. Wir sagen: Die Pandemie ist das Argument zum Weiterstreiken!

Unsere Forderungen! Die Verdi-Basisgruppe des Botanischen Gartens Berlin fasste am 07.12.2021 nachfolgende Beschlüsse: Wir fordern die Gewerkschaften dazu auf eine Mitgliedsbefragung durchzuführen, bei der die Option des Erzwingungsstreiks vorgesehen ist. Wir rufen Betriebs- und Unterstützungsgruppen dazu auf, ebenfalls entsprechende Beschlüsse zu fassen und diese an die Bundestarifkommission zu senden und zu veröffentlichen.“ (Zitiert nach LabourNet Germany).

Diese Resolution machte den Klassengegensatz zwischen der Basis und dem Apparat von Verdi deutlich. Die KollegInnen appellierten allerdings noch an die Gewerkschaftsbonzen einen radikaleren Klassenkampf zu führen. Proletarische RevolutionärInnen treten grundsätzlich dafür ein, das Streikmonopol der bürgerlich-bürokratischen Gewerkschaftsapparate durch die gewerkschaftsunabhängige klassenkämpferische Selbstorganisation in Form von wilden Streiks zu brechen. Dies erfordert jedoch eine hohe Reife des Klassenkampfes und des -bewusstseins, was eher in einzelnen Betrieben als in ganzen Branchen erreicht werden kann. Nur im verschärften Klassenkampf ist es möglich, dass der Klassengegensatz zwischen den Lohnabhängigen und den bürgerlichen Gewerkschafsbonzen eine solche offensichtliche Tiefe erreicht, dass gewerkschaftsunabhängige Streikkomitees einer ganzen Branche entstehen, die das Streikmonopol dieser sozialreaktionären Apparate in der Praxis brechen. Darauf vorzubereiten, das entspricht der Tätigkeit von proletarischen RevolutionärInnen. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Gewerkschaften, die für einen Reallohnverlust streiken lassen, taugen noch nicht mal für einen reproduktiven Klassenkampf. Sie können das Klassenbewusstsein, dass das bewusste Sein des kollektiven Kampfes der Klasse ist, nur ersticken.

Den Gewerkschaftsbonzen allerdings vorzuwerfen, sie würden sich nicht „aktiv“ und „kämpferisch“ genug für „ihre“ Basis einzusetzen – also den Job des Sozialreformismus nicht effektiv genug ausüben –, kann nur die Gewerkschaftskette und die reproduktiven Grenzen des Klassenkampfes reproduzieren. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass die revolutionäre Zerschlagung der Gewerkschaftsapparate absolut notwendig ist, wenn sich das Proletariat grundsätzlich von kapitalistischer Ausbeutung und staatlicher Elendsverwaltung befreien will. Dieser mehrheitliche Wille der Klasse kann als bewusster Ausdruck des revolutionären Prozesses allerdings auch nur im und mit diesem, jedoch nicht davor sich herauszubilden. Aber damit dies vielleicht irgendwann einmal geschieht, müssen SozialrevolutionärInnen den absolut reaktionären Charakter der Gewerkschaften schon heute deutlich betonen und allen reformistischen Illusionen in diese Gebilde kompromisslos entgegentreten.

In Brasilien traten die SteuerbeamtInnen am 28. Dezember 2021 in den Bummelstreik. Davor hatte die regierende Charaktermaske des Staates, der Rechtsreaktionär Bolsonaro, die Bezüge der offiziellen Hooligans der Militär- und Bundespolizei sowie der GefängniswärterInnen erhöht, während die anderen KollegInnen des öffentlichen Dienstes leer ausgingen. Dagegen richtete sich der Bummelstreik der SteuerbeamtInnen. Sie machten Dienst nach Vorschrift bei der Überprüfung der Lebensmittelvorschriften und der Zollabfertigung. Bestandteil des Bummelstreiks war, dass die BeamtInnen „nur“ 8 Stunden am Tag arbeiteten. Sonst sind Überstunden die Regel, aber die wurden jetzt verweigert. Das führte zu langen Schlangen von LKWs an den Grenzposten in Südbrasilien. Dort werden Waren aus Argentinien, Chile und Paraguay importiert.

Das verzögerte die Zirkulationsperiode vieler Einzelkapitale – in dieser Periode wird Geld- in gegenständliches produktives Kapital (Produktionsmittel) beziehungsweise Waren- in Geldkapital (Verkauf der Produkte) verwandelt. Die Verlängerung der Zirkulationsperiode des Kapitalumschlags führte zu Profitverlusten. Der Bummelstreik der SteuerbeamtInnen wirkte also. Bereits 48 Stunden nach dessen Beginn führten die Verzögerungen zu einer Verringerung der Fleischproduktion um 60 Prozent. So protestierten dann auch zwei „Arbeitgeber“-Verbände, die Exporteure von Fleisch und die Betreiber von Kühlhäusern, gegen diese aus Kapitalsicht „illegalen“ Verzögerungen. Die den Bummelstreik organisierende Gewerkschaft Anfa Sindical betonte dagegen, dass sie streng im Rahmen der Legalität agierte. Ja, so etwas ist für Gewerkschaftsapparate sehr wichtig.

Die Gewerkschaft Anfa Sindical forderte die Aufstockung des Personals und „eine gerechtere Verteilung der Lohnerhöhungen“ im öffentlichen Sektor. Letzteres war purer Moralismus, denn Lohnarbeit hat grundsätzlich etwas mit Ausbeutung, aber absolut gar nichts mit „Gerechtigkeit“ zu tun.

Die erste Reaktion der SteuerbeamtInnen auf Bolsonaros Erhöhung der Bezüge ausschließlich der Repressionskräfte war eine Kündigungswelle (siehe auch Kapitel 14 über den Streik der Angestellten der Zentralbank dagegen).

In Belgien entfaltete sich am 31. Mai 2022 im öffentlichen Dienst des Landes ein eintägiger Generalstreik. Dazu aufgerufen hatten die Apparate der Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst CGSP und FGTB. Der Ausstand stand unter dem moralistischen Motto „Wir bekommen weder die Mittel, noch den Respekt, den wir verdienen!“ Für das Kapital sind alle Lohnabhängigen strukturell nur Ausbeutungsmaterial. Es ergibt nicht viel Sinn, wenn ProletarierInnen von der Bourgeoisie – einschließlich der den Staat managenden BerufspolitikerInnen – „Respekt“ einfordern. Wenn die Gewerkschaftsbonzen von Kapital und Staat „Respekt“ einfordern, dann sagen sie faktisch: Gebt euch mehr Mühe, um die Gewerkschaften und über sie die Belegschaften in das Nationalkapital zu integrieren. Verwirklicht diese Integration vor allem auf einem materiell höheren Level.

Doch auch staatlich dienende Lohnabhängige werden vom Staat objektiv-strukturell als Kostenfaktor behandelt, bei dem es vor allem zu sparen gilt. Auf diesen Fakt weisen proletarische RevolutionärInnen hin, um praktisch-geistige Impulse zur Radikalisierung des Klassenkampfes zu geben. Sie fordern nicht Respekt für die Lohnabhängigen von Staat, sondern machen deutlich, dass der letztere ein struktureller Klassenfeind ist. Diese Radikalisierung des Klassenbewusstseins und des Klassenkampfes zum bewussten Fight gegen den Staat als Ausbeuter versuchen die Gewerkschaftsapparate mit aller Gewalt zu verhindern – auch mit Moralausdünstungen, die jedoch die staatlich dienenden Lohnabhängigen praktisch-geistig genau als solche reproduzieren. Um sich aus dieser Rolle zu befreien, müssen sie den Staat antipolitisch zerschlagen.

Doch das wollen die Gewerkschaften nicht. Sie haben „Respekt“ gegenüber dem Staat. Diesen bringen sie auch zum Ausdruck, wenn sie ihre lohnabhängige Basis begrenzt für reproduktive Ziele mobilisieren. So forderten die beiden Gewerkschaften vom Staat mehr „Kaufkraft“ – was auch gut für das Kapital ist, welches in der Konsumgüterindustrie angelegt ist –, mehr „Respekt für den sozialen Dialog“, womit sie natürlich wundervoll den Klassengegensatz zwischen den kapitalistischen Staat und den von ihm ausgebeuteten Lohnabhängigen im öffentlichen Dienst verkleistern. Und „mehr Respekt“ verlangen die Gewerkschaftsbonzen auch für die Renten der staatlich dienenden Lohnabhängigen. Innerhalb dieser den Staat und das Kapital reproduzierenden Grenzen ließen CGSP und FGTB an jenem 31. Mai 2022 im Verkehr, bei den BürgerInnendiensten und in den Schulen streiken. Wahrlich, die Gewerkschaften haben den „Respekt“ des Staates redlich verdient…

In Südafrika wurde am 17. August 2022 die Demonstration der ArbeiterInnen der Kommunalbetriebe und der Verwaltung des Bezirks Steve Tshwete in Middleburg brutal von den Bullen des herrschenden ANC-Regimes und privaten Sicherheitsdiensten angegriffen. Die KollegInnen kämpften seit März 2022 für die Einhaltung des Tarifvertrages, der 2021 ausgehandelt wurde, und für die Anhebung der Gehaltsstufen. Das ANC-Regime ging bereits im April 2022 repressiv gegen die Kommunalangestellten vor. 13 Lohnabhängige wurden wegen einer Arbeitsniederlegung vom Dienst suspendiert. Im Juli wurden weitere 100 klassenkämpferische Kommunalangestellte entlassen. Dagegen richtete sich die Demonstration vom 17. August 2022, bei der das Regime wieder mal seine blutige Fratze zeigte. Dessen Hooligans schossen auf die demonstrierenden KollegInnen, als diese versuchten in das Verwaltungsgebäude von Steve Tshewete zu gelangen. Dabei starb ein Mensch noch am Ort des Geschehens, ein weiterer erlag später im Krankenhaus seinen Schussverletzungen. Zwei weitere Menschen wurden verwundet.

Aus dieser abermaligen blutigen Lektion ist klar folgende Schlussfolgerung zu ziehen: Das ANC-Regime ist gegen das klassenkämpferische Proletariat nicht weniger brutal als das frühere rassistische Apartheid-Regime! Nationale „Befreiung“ ist untrennbarer Teil der kapitalistischen Sozialreaktion! Nur durch die soziale Revolution kann sich das Proletariat aus Ausbeutung und Unterdrückung befreien!

Sehr bedeutend für die Entwicklung einer klassenkämpferischen Solidargemeinschaft zwischen den staatlich dienenden Lohnabhängigen und dem migrantischen Proletariat war der Protest gegen die repressive Abschiebepraxis des britischen Staates. Dieser will seit Juni 2022 Asylsuchende aus Ruanda noch während ihres Verfahrens dorthin abschieben. Der erste Abschiebeflug im Juni wurde noch gerichtlich unterbunden. Doch am Ende des Jahres änderte sich die rechtliche Situation. Die Justiz des Landes gab der Exekutive grünes Licht. Am 19. Dezember 2022 erklärte ein Gericht diese Verschärfung der Repression für rechtmäßig. Diese würde nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen.

Doch die Lohnabhängigen leisteten Solidarität mit den MigrantInnen. Die Basismitglieder der Gewerkschaft der RegierungsbeamtInnen und des öffentlichen Dienstes, Public and Commercial Service Union (PCS), protestierten gegen diese brutale Form der staatlichen Repression und der Apparat musste mitziehen. Auch die Transportarbeitergewerkschaft RMT war bereit, diese Abschiebungen zu behindern. An dieser Solidarität der Lohnabhängigen scheiterten die Versuche des britischen Staates, im August und Oktober 2022 MigrantInnen nach Ruanda abzuschieben. Die ArbeiterInnen, die diese Flüge abfertigen sollten, spielten nicht mit und die Gesellschaft, die die Flüge hätte durchführen sollen, kündigte den Vertrag auf. Durch diese widerständische Solidarität konnten bis Ende des Jahres 2022 Abschiebungen nach Ruanda verhindert werden.

Auch nach der juristischen Absegnung der Abschiebung nach Ruanda „bleibt sie“ für die Gewerkschaft PCS „moralisch verwerflich und absolut unmenschlich, und die PCS fordert das Innenministerium auf, das anzuerkennen und aufzugeben.“ Diesen moralistischen Appell an den politischen Gewaltapparat der Bourgeoisie, verband die staatstragende PCS mit einem Bekenntnis zu einer grundsätzlichen Kooperation mit dem Staat: „Wir möchten, dass das Innenministerium seine feindselige Haltung gegenüber Flüchtlingen aufgibt, um mit uns zusammenarbeitet, um ein humanes System aufzubauen.“ (Zitiert nach: Dieter Reinisch, Streiks gegen Abschiebungen, in: junge Welt vom 27. Dezember 2022, S. 15.)

SozialrevolutionärInnen betonen im Gegensatz zu reformistischen Gewerkschaftsbonzen, dass soziale Emanzipation nicht mit dem Staat, sondern nur gegen ihn zu erkämpfen ist. Letztendlich nur durch seine antipolitische Zerschlagung (siehe Kapitel 22).

Der Trotzkist Dieter Reinisch schürte in der linksreaktionären Tageszeitung junge Welt Illusionen in die sozialreformistisch-staatstragende PCS: „Mit ihren rund 235.000 Mitgliedern ist die PCS die sechstgrößte britische Gewerkschaft, und sie zählt zu den kämpferischen. Serwotka ist seit 2005 Generalsekretär. In den 1980ern war der jetzt 59jährige Mitarbeiter der trotzkistischen Wochenzeitung Socialist Organiser, danach im Wahlbündnis ,Socialist Alliance‘ aktiv und später in der Partei ,Respect‘, die 2004 als Abspaltung von Labour aus der Bewegung gegen den Irakkrieg entstand.“ (Dieter Reinisch, Streiks gegen Abschiebungen, a.a.O.)

Wir sehen hier deutlich, wie der Trotzkismus als dekadente parteimarxistische Politideologie (siehe Kapitel 4) mit seinem Gewerkschaftsreformismus nur Kapital und Staat reproduzieren kann. Dagegen orientieren wir klar auf die antipolitisch-sozialrevolutionäre Zerschlagung des Staates.

Die PCS organisierte auch die Streiks der britischen Grenzschutzbehörden im Dezember 2022. Viele von ihnen werden an Passkontrollen an See- und Flughäfen eingesetzt. Ein erster Ausstand entfaltete sich vom 23. bis zum 26. Dezember. Außerdem legten die KollegInnen vom 29. bis zum 31. Dezember 2022 die Arbeit nieder. Sie streikten für zehn Prozent Lohnerhöhung, „Rentengerechtigkeit“, „Arbeitsplatzsicherheit“ (also auch sozialkonservativ für die Existenz von Staaten und deren Grenzen) und den Verzicht auf Kürzungen bei Entlassungen. Der Ausstand betraf die Flughäfen in Birmingham, Cardiff, Catwick, Glasgow, Heathrow und Manchester sowie den Hafen von Newhaven.

Der britische Staat setzte während dieses Klassenkampfes der Grenzschutzbehörden SoldatInnen als Streikbrecher ein. Der britische Staatssender BBC zitierte am 29. Dezember 2022 einen Sprecher des Flughafens Heatrow, dass die Einreisehallen „frei zugänglich“ seien und der Flughafen „keine Probleme“ hätte. Einige Tage vor dem Streik konnte mensch im Guardian lesen, dass die kurzfristig zu Streikbrechern ausgebildeten SoldatInnen und BeamtInnen angehalten worden seien, die Menschen nicht aufzuhalten, „es sei denn, es gebe Hinweise auf eine Straftat“. Der Kommentar von PCS-Generalsekretär Mark Serwotka in einer Mitteilung der Gewerkschaft: Die Regierung habe sich gebrüstet, es gebe keine Warteschlangen bei der Passkontrolle, „aber natürlich gibt es keine Warteschlangen, wenn niemand angehalten wird.“ (Alle Zitate aus: Militär kontrolliert, in: junge Welt vom 30. Dezember 2022, S. 9.)

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Neue Broschüre: Kritik der Globalen Politik I https://swiderstand.blackblogs.org/2022/09/03/neue-broschuere-kritik-der-globalen-politik-i/ Sat, 03 Sep 2022 12:04:02 +0000 http://swiderstand.blackblogs.org/?p=444 Unsere neue Broschüre „Kritik der Globalen Politik I“ (ca. 135 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

Allgemeine Betrachtung über die sozialreaktionäre kapitalistische Modernisierung
1. Die industriekapitalistische Produktionsweise
2. Die bürgerlichen Staaten und ihr Internationalismus
3. Bürgerliche Staatsformen und politische Parteien
4. Staatsinterventionismus
5. Imperialismus und nationale „Befreiung“ als Durchsetzungsformen des Weltkapitalismus
6. Reproduktiver Klassenkampf und Gewerkschaften
7. Der Parteimarxismus als kapitalistische Modernisierungsideologie
8. Kapitalistisches Patriarchat und bürgerliche Frauenemanzipation
9. Der nachmarxistische und nachanarchistische Kommunismus

Krieg und Frieden in Afghanistan
1. Afghanistan zwischen Britisch-Indien und Russland
2. Afghanistan nach dem Zweiten Weltkrieg
3. Der marxistisch-leninistische Staatsstreich
4. Die internationale Aufrüstung des Islamismus
5. Die Intervention des sowjetischen Imperialismus
6. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen
7. Der US-Imperialismus und Al-Qaida
8. Die westliche Besatzung von Afghanistan
9. Die sozialökonomische und politische Entwicklung in Afghanistan unter westlicher Besatzung
10. Die Taliban wieder an der Macht
11. Afghanistan im Zusammenhang des zweiten Kalten Krieges

Der Libanon in der Krise
1. Kurze Geschichte des Libanon
2. Die tiefe Krise des Libanon ab 2019
3. Die Explosion der organisierten Verantwortungslosigkeit
4. Die soziale Protestbewegung vom 17. Oktober 2019
5. Die langfristige sozialrevolutionäre Krisenlösung

Politische Machtkämpfe in Bolivien
1. Das linksreaktionäre Morales-Regime
2. Der rechtsreaktionäre Putsch
3. Das rechtsreaktionäre Regime
4. Der erneute Wahlsieg der Linksreaktion
5. Fazit

Die bürgerlichen Staaten und ihr Internationalismus

Der bürgerliche Staat ist im Privatkapitalismus (siehe zum Staatskapitalismus Kapitel 7) der ideelle Gesamtkapitalist, der politische Gewaltapparat der Kapitalvermehrung. Er übt sowohl ein Geld- als auch ein Gewaltmonopol aus. Als politischer Gewaltapparat überführt er das Geld in seine Nationaluniform, die Währung. In der Europäischen Union (EU), einer imperialistischen Zweckgemeinschaft einiger Staaten dieses Kontinents, haben sich mehrere Länder auf die gemeinsame Währung des Euro, geeinigt. Die grenzenlos-expansive Vermehrung des Geldes in seiner jeweiligen Nationaluniform ist das oberste Staatsprogramm der politischen Gewaltapparate. Der bürgerliche Staat formiert die Einzelkapitale auf seinem Territorium zum gesellschaftlichen Gesamtkapital, zum Nationalkapital.
Das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates sorgt für inneren Frieden. Auch in Demokratien kümmern sich hochgerüstete Geheimdienste und Bullerei darum, dass das Staatsvolk, die Nation, friedlich bleibt. Die Nation ist ein Kunstprodukt kapitalistischer Politik. Sie ist eine lediglich indirekte Vergesellschaftung der untereinander konkurrierenden Marktsubjekte und der gegeneinander kämpfenden Klassen – Bourgeoisie, KleinbürgerInnentum und Proletariat – über Ware-Geld-Beziehungen und den politischen Gewaltapparat. Eine Nation ist eine scheinbare Gemeinschaft und ein gemeinschaftlicher Schein. Letzterer wird durch die Ideologie des Nationalismus erzeugt. Er produziert die Illusion, dass UnterdrückerInnen und Unterdrückte, AusbeuterInnen und Ausgebeutete, einer untrennbaren Schicksalsgemeinschaft angehören können. Nationen beruhen also nicht nur auf politische Gewalt – verkörpert im Nationalstaat –, sondern auch auf die ideologische Illusion einer Gemeinschaft. Die bürgerlichen Marktsubjekte – einschließlich der ProletarierInnen (siehe Kapitel 1) – fliehen aus der Kälte des Konkurrenzindividualismus in die scheinbare Wärme der Nation.
Viele kapitalistische Nationen berufen sich ideologisch auf dominierende Sprach- und Kulturgemeinschaften, zum Beispiel der Staat BRD auf die deutsche Sprache und Kultur. Die vorkapitalistisch entstandenen Sprach- und Kulturgemeinschaften sind jedoch nicht mit den kapitalistischen Nationen identisch. Besonders deutlich wird das bei Nationen, die ursprünglich aus ganz vielen unterschiedlichen Sprach- und Kulturgemeinschaften zusammengesetzt wurden, wie die US-amerikanische. Manchmal ist auch eine bestimmte Religion besonders eng mit bestimmten Sprach- und Kulturgruppen verbunden. Eine solche Rolle füllt zum Beispiel in Polen der Katholizismus aus. Oder der Hindunationalismus in Indien, der sich besonders aggressiv gegen die muslimische Minderheit im Land richtet. Gemeinsame Religion, Sprache und Kultur sollen die Menschen ideologisch verbinden, die sich als Marktsubjekte und unterschiedliche Klassen gegeneinander bekämpfen.
Und das gelingt auch in der Regel in relativ stabilen kapitalistischen Nationen – solange der Klassenkampf zwischen Kapital und Lohnarbeit reproduktiv (siehe Kapitel 6) und auch der Konkurrenzkampf zwischen den politischen Strömungen friedlich bleibt. Ist letzteres nicht mehr gewehrleistet, dann sind das staatliche Gewaltmonopol und die Einheit der Nation durch BürgerInnenkrieg gefährdet. Durch solche innerstaatlichen Gemetzel fühlen sich natürlich auch oft ausländische Staaten eingeladen, sich bewaffnet in die BürgerInnenkriege einzumischen. Wir werden das am Beispiel des afghanischen und libanesischen BürgerInnenkrieges ausführlicher beschreiben (siehe die Kapitel 3-9 des Textes Krieg und Frieden in Afghanistan sowie das Kapitel 1 der Schrift Der Libanon in der Krise).
Innerstaatlicher Frieden erfordert also ein praktisch durchgesetztes staatliches Gewaltmonopol. Es sichert, dass sich die StaatsbürgerInnen als Konkurrenzsubjekte legal nicht gegenseitig verprügeln und töten dürfen. Illegal machen sie das natürlich in einem gewissen Umfang. Der innere Frieden in kapitalistischen Staaten ist also gewissermaßen ein latenter BürgerInnenkrieg niederer Intensität. Legal zuschlagen und töten dürfen nur die offiziellen Hooligans des Staates, die Bullen, SoldatInnen und GeheimdienstlerInnen.
Der bürgerliche Staat ist Schiedsrichter des permanenten Konkurrenzkampfes der Einzelkapitale und der Marktsubjekte. In dieser Funktion als ideeller Gesamtkapitalist macht er den Einzelkapitalen und Konkurrenzindividuen Vorgaben, was sie im ständigen Gegeneinander tun dürfen und was nicht.
Als politischer Gewaltapparat der Kapitalvermehrung schützt er alle Eigentumsformen der Warenproduktion grundsätzlich gegen das eigentumslose Proletariat. Am Anfang illegalisierten auch demokratische Staaten den proletarischen Klassenkampf total. Inzwischen kontrollieren demokratische Staaten durch ein Streikrecht, ein Tarifvertragssystem und in die Nationalkapitale integrierte bürgerlich-bürokratische Gewerkschaftsapparate wesentlich besser und effektiver das klassenkämpferische Proletariat (siehe Kapitel 6).
Als politischer Gewaltapparat der Kapitalvermehrung nimmt der bürgerliche Staat auch direkt und indirekt an der Ausbeutung der Lohnarbeit teil. Besitzt der Staat industrielle Produktions-, Transport und Verkehrsmittel, mit und an denen LohnarbeiterInnen Mehrwert produzieren, den sich der politische Gewaltapparat aneignet, dann reden wir von Staatskapitalismus. Staatsbesitz an Aktien an oder von gesamten kapitalistischen Unternehmen ist institutionelles Eigentum. Nicht individuelle Personen besitzen Produktionsmittel oder Anteile an kapitalistischen Unternehmen, sondern der überpersönliche politische Gewaltapparat. Aber die regierenden BerufspolitikerInnen und das Management verstaatlichter kapitalistischer Unternehmen üben die EigentümerInnenfunktionen des Staates aus. Besitzt der politische Gewaltapparat nur eine Minderheit der industriellen Produktionsmittel beziehungsweise der Aktien, dann haben wir eine staatskapitalistische Tendenz innerhalb des Privatkapitalismus vor uns. Übt der Staat jedoch ein Eigentumsmonopol in der Industrie aus, dann ist dies Ausdruck einer staatskapitalistischen Produktionsweise (siehe Kapitel 7).
Neben den Mehrwert produzierenden ProletarierInnen in Staatsfirmen beutet der politische Gewaltapparat auch im Privatkapitalismus auch die Arbeitskraft von staatlich dienenden Lohnabhängigen aus. Letztere produzieren weder Tausch- noch Mehrwert, sondern Gebrauchswerte. Zum Beispiel vermitteln die LehrerInnen in staatlichen Schulen das jeweilige Wissen, was die Arbeitskräfte, Marktsubjekte und StaatsbürgerInnen in ihren Funktionen unbedingt benötigen. Oder die Bullen, die für den Staat für „innere Sicherheit“ sorgen. Diese staatlich dienenden Lohnabhängigen sind klassenmäßig von den regierenden BerufspolitikerInnen, die als ManagerInnen des Staates zur Bourgeoisie gehören, getrennt. Letztere halten die großen Reden und werden auch wesentlich besser bezahlt als die staatlich dienenden LohnarbeiterInnen, obwohl diese die eigentliche Arbeit verrichten. Darin besteht die Ausbeutung der staatlich dienenden Lohnabhängigen durch den politischen Gewaltapparat, auch wenn sie keinen Mehrwert produzieren, sondern aus dem staatlich angeeigneten Mehrwert bezahlt werden. Staatlich dienende Lohnabhängige werden vom dialektischen Widerspruch beherrscht, dass sie einerseits teilweise repressiv gegen das klassenkämpferische Proletariat vorgehen – zum Beispiel die Bullen – anderseits aber auch einen reproduktiven Klassenkampf um Löhne, Arbeitszeiten und -bedingungen gegen das regierende BerufspolitikerInnentum als Management des ideellen Gesamtkapitalisten führen.
Durch die Besteuerung seiner BürgerInnen eignet sich der bürgerliche Staat indirekt einen Teil des Mehrwertes an. Besteuert der politische Gewaltapparat den Geldlohn, dann lässt er faktisch Mehrwert für sich produzieren und realisieren. Bei der Besteuerung des Konsums der Lohnabhängigen verwandelt er einen Teil des Lohnes in staatlich angeeigneten Mehrwert. Die Steuern, die die Bourgeoisie – KapitalistInnen, ManagerInnen, hohe BerufspolitikerInnen und SpitzenbeamtInnen – zahlt, stellt eine Umverteilung des Mehrwertes an den politischen Gewaltapparat dar. Sowohl die besteuerten Gewinne der KapitalistInnen sowie die Gehälter der ManagerInnen, hohen BerufspolitikerInnen und SpitzenbeamtInnen als auch die Steuern, die die Bourgeoisie auf ihren Konsum zahlt, haben die Lohnabhängigen erarbeitet. Die Lohnabhängigen werden also nicht nur als Steuerzahlende, sondern auch als SteuerproduzentInnen vom kapitalistischen Staat ausgebeutet. Die Steuern, die das produktions- und handelsmittelbesitzende KleinbürgerInnentum (KleinbäuerInnen, HandwerkerInnen, KleinhändlerInnen und FreiberuflerInnen) auf dessen Gewinn und Konsum zahlt, hat es sowohl teilweise selbst erarbeitet als auch stammt es zu einem anderen Teil aus dem Mehrwert, den die von ihm ausgebeuteten Lohnabhängigen produziert und realisiert haben.
Der politische Gewaltapparat verteilt den angeeigneten Mehrwert um. Ein Teil fließt als eine Art Soziallohn an die Lohnabhängigen zurück. Das sind die scheinbar kostenlosen beziehungsweise zwar gebührenpflichtigen, aber nicht kostendeckenden Dienstleistungen des Staates an die Lohnabhängigen, wie zum Beispiel der Schulunterricht auch für proletarische Kinder. Scheinbar kostenlos sind diese Dienstleistungen, weil die Lohnabhängigen sie ja in ihrer Funktion als Steuerzahlende und SteuerproduzentInnen erarbeitet haben. Teilweise bekommen auch nichtlohnarbeitende Schichten des Proletariats wie Erwerbslose und RentnerInnen als ehemalige LohnarbeiterInnen steuerfinanzierte staatliche Transferzahlungen. Zum Beispiel in Deutschland an Langzeitarbeitslose und staatliche Finanzflüsse an die gesetzliche Rentenversicherung. Ein anderer Teil der staatlichen Zahlungen an Erwerbslose und RentnerInnen stammt also in der BRD aus der gesetzlichen Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Außerdem gibt es in Deutschland noch die Kranken-, die Pflege- und die Unfallversicherung. Bis auf die Unfallversicherung zahlen sowohl die Lohnarbeit anmietenden „ArbeitgeberInnen“ als auch die Lohnabhängigen Beiträge. Aber natürlich wurden auch die Beiträge der AusbeuterInnen an die gesetzlichen Sozialversicherungen von den Lohnabhängigen selbst erarbeitet. Der Soziallohn und die Transferzahlungen an die nichtlohnarbeitenden Schichten des Proletariats stellen nichts anderes als staatliche Elendsverwaltung und das Eingeständnis dar, dass der ausgezahlte Geldlohn nicht zur biosozialen Reproduktion des Proletariats bei allen möglichen Risiken des Daseins im Kapitalismus ausreicht. Große Teile der politischen Linken bekommen es fertig, den Sozialstaat für „fortschrittlich“ zu halten, obwohl er auf der sozialreaktionären kapitalistischen Ausbeutung von Lohnarbeit beruht.
Ein anderer Teil des staatlich angeeigneten Mehrwertes fließt als Subvention an das Privatkapital. Übrigens stellen Staatsaufträge an das Privatkapital keine Umverteilung des Mehrwertes, sondern die Umwandlung seiner Form dar. Der Staat eignet sich den Mehrwert in Form von Geld an. Kauft er jetzt bei privatkapitalistischen Rüstungsunternehmen Mordwerkzeug ein, dann hat er nun ein Mehrprodukt zum Tauschwert des von ihm bezahlten Preises. Bezahlt der politische Gewaltapparat aber einen viel höheren Preis für Rüstungsgüter, als die eigentlich wert sind, dann haben wir es mit einer versteckten Subvention zu tun. In hoch entwickelten kapitalistischen Industriestaaten entwickelte sich ein Militärisch-Industrieller Komplex aus Militär, Politik sowie privatkapitalistischen Rüstungs- und SöldnerInnenfirmen heraus. Der Militärisch-Industrielle Komplex ist ein Ausdruck des kapitalistischen Imperialismus. Unter modernem Imperialismus verstehen wir die ökonomische, politisch-diplomatische, propagandistisch-ideologische und militärisch-kriegerische Expansion sowohl von einzelnen Nationalkapitalen/-staaten als auch von Blöcken (zum Beispiel EU und NATO als kollektive Organe des westlichen Imperialismus).
Der Imperialismus ist eine aggressiv-expansive Form des bürgerlichen Internationalismus. Letzterer ist die globale Interaktion der Nationalkapitale und -staaten. Die globale Interaktion der Nationen beruht auf kooperativer Konkurrenz und konkurrenzförmiger Kooperation der Nationen. Sowohl der Frieden zwischen Staaten als nichtmilitärische Form der Konkurrenz als auch der Krieg sind Ausdrucksweisen des bürgerlichen Internationalismus. Der bürgerliche Frieden trägt in sich den imperialistischen Krieg wie die Wolke den Regen. Im Weltkapitalismus kann der Frieden nur Zwischenkrieg sein. Der Frieden bereitet den nächsten Krieg und der Krieg den nächsten Frieden vor. Ein Ausschluss des Krieges und eine kollektive freiwillige Abrüstung der kapitalistischen Staaten bei deren Weiterexistenz ist das größte Ideal des kleinbürgerlichen Pazifismus, welches jedoch an der Realität der zwischenstaatlichen Konkurrenz nur scheitern kann. Es gibt nur eine Möglichkeit der globalen Abrüstung der Staaten: ihre Zerschlagung durch die Weltrevolution und die Herausbildung einer klassen- und staatenlosen planetaren Solidargemeinschaft (siehe Kapitel 5 der Schrift Der Libanon in der Krise). Dieses Ziel stellt sich der sozialrevolutionäre Universalismus als Todfeind des bürgerlichen Nationalismus und Internationalismus.
Ökonomischer Ausdruck des bürgerlichen Internationalismus ist der Welthandel und der produktive Kapitalexport (ausländische Direktinvestitionen). Politischer Ausdruck des bürgerlichen Internationalismus und zugleich die Verkörperung der größten Ideale der Weltbourgeoisie, wie der Weltfrieden, die Menschenrechte und des Völkerrechtes stellen die Vereinten Nationen (UNO) dar. Bevor wir die UNO auseinandernehmen – vorerst leider nur theoretisch – wollen wir uns die drei genannten Ideale der Weltbourgeoisie etwas genauer ansehen. Die „Bewahrung des Weltfriedens“, welche sich die UNO auf ihre Fahnen schreibt, ist natürlich eine Fata Morgane der bürgerlichen Ideologieproduktion. Irgendwo auf dieser kapitalistisch-durchgeknallten Welt wird der Konkurrenzkampf immer militärisch ausgetragen. Und das, was nicht existieren kann, kann natürlich auch nicht bewahrt werden. In einer Zeit, wo die imperialistischen Staaten über Massenvernichtungswaffen verfügen, mit der sie die ganze Weltbevölkerung auslöschen können, ist die Verhinderung eines atomaren Overkills das Einzige, was bisher möglich war. Und diese Möglichkeit beruht einzig auf der Gewissheit, dass in einem direkten Krieg zwischen Atomwaffenstaaten derjenige, der als erster den Atomcolt zieht, als zweiter stirbt. Aber die indirekten Stellvertreterkriege gingen im ersten und zweiten Kalten Krieg munter weiter (siehe die Texte über Afghanistan und den Libanon).
Die Menschenrechte sind das größte Ideal der Weltbourgeoisie. Also schauen wir uns diese genauer an. Sie sind die ideologisierte Praxis der Staaten, nämlich festzulegen, welche Rechte ihre Insassen haben. Rechte sind staatlich anerkannte Bedürfnisse. Menschenrechte beruhen also auf dem staatlichen Gewaltmonopol. Nach dem Ideal haben alle Menschen in der kapitalistischen Internationale – die Gesamtheit der bürgerlichen Nationalstaaten – die gleichen Rechte. Was sie jedoch in der Geschichte nicht hatten. Am Anfang des Kapitalismus hatten Frauen zum Beispiel nicht die gleichen Rechte wie Männer. Und in den USA, die sich von Anfang an zu den Menschenrechten bekannten, wurden „schwarze“ Menschen sogar bis 1865 versklavt und auch später hatten sie lange nicht die gleichen Rechte wie „weiße“ StaatsbürgerInnen. Das Gleiche gilt für die amerikanischen UreinwohnerInnen, die massakriert, vertrieben und in Reservate interniert wurden.
Aber selbst, wo alle Menschen gemäß dem Ideal in einem bürgerlichen Staat die gleichen Rechte haben, dann kann das nur die rechtliche Gleichheit auf der Grundlage sozialer Ungleichheit sein. So haben in einem bürgerlichen Rechtsstaat alle Menschen das Recht kapitalistische Unternehmen zu gründen. Das ist die rechtliche Gleichheit. Die soziale Ungleichheit sorgt dafür, dass Bourgeois kapitalistische Unternehmen gründen und die ProletarierInnen in ihnen ausgebeutet werden. In Frankreich, wo die Bourgeoisie, als sie Ende des 18. Jahrhunderts an die politische Macht kam (siehe Kapitel 3), die heiligen Menschenrechte verkündete, verbot sie im Namen dieses heiligsten Ideals dem Proletariat jegliche Klassenkampforganisation. Damit sagte sie ganz unverblümt: Die Menschenrechte sind unvereinbar mit den Klasseninteressen des Proletariats. Heute sagt das die Bourgeoisie meistens nicht mehr so deutlich. Umso wichtiger ist es, dass diese Tatsache von proletarischen RevolutionärInnen unmissverständlich in der größten Klarheit ausgesprochen wird. Es ist unmöglich, eine Revolution gegen den Kapitalismus zu machen mit bürgerlichen Idealen im Kopf. Nur SozialdemokratInnen betteln bei der Bourgeoisie für Menschenrechte auch für ProletarierInnen. Die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats ist dagegen mit der praktizierten bürgerlichen Ideologie der Menschenrechte unvereinbar.
Aber für das politisierte KleinbürgerInnentum sowie für das sozialreformistische Bewusstsein des Proletariats stellen die Menschenrechte selbstverständlich auch das Heiligste des Heiligen dar. Es ist das ideale Maß, an der die Praxis des staatlichen Gewaltmonopols gemessen wird. Wie gesagt, die Menschenrechte sind die ideologisierte Praxis des staatlichen Gewaltmonopols. Globale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International haben dann auch nichts Grundsätzliches am Gewaltmonopol der bürgerlichen Staaten auszusetzen. Sie kritisieren lediglich die „unverhältnismäßige“ Gewalt der offiziellen Hooligans des Staates, wobei sie zu Vertreterinnen eines gesunden Verhältnisses staatlicher Gewalt werden. Was es natürlich nur in der Ideologie geben kann. So fordern die menschenrechtsbewegten KleinbürgerInnen immer von den repressiven Staatsorganen, deren Job es ist, Menschen im Auftrag des Staates zu verletzen und zu töten, doch bitteschön die Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit und auf Leben einzuhalten. Ein Fulltimejob in einer kapitalistischen Konkurrenz- und Klassengesellschaft, in der sich die Menschen permanent verletzen und töten. Das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und Leben gilt in der Ideologie universal, indem es praktisch permanent nicht gilt. Das Verletzen von Menschen ist im Kapitalismus Alltag, das Verletzen von Menschenrechten dagegen ein schweres Verbrechen. Das einzige Menschenrecht, was wirklich praktisch universell gilt, ist das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln, welches in der Praxis das Recht ist, eigentumslose proletarische Menschen auszubeuten. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Eine soziale Revolution ist auch eine gegen die Menschenrechte als ideologisierte Praxis und praktizierte Ideologie des Kapitalismus!
Indem das höchste Organ des bürgerlichen Internationalismus, die UNO, sich zu der weltweiten Geltung der Menschenrechte bekennt, ist sie ein Subjekt des Menschenrechtsimperialismus. Sie ist berechtigt, sich im Namen der Menschenrechte in die Nationalstaaten einzumischen und diese wegen Verletzung dieses heiligsten Ideals zu kritisieren. Dieses Recht maßt sich auch der westliche Menschenrechtsimperialismus an. Da die Menschenrechte universell sind, sind auch nach westlichen IdeologInnen EU und NATO für deren globalen Durchsetzung zuständig. So formulierte die Außenministerin des deutschen Imperialismus, Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), zum Beispiel: „Das ist doch die Stärke der Menschenrechte: Unteilbarkeit, egal an welchen Fleckchen der Welt man lebt.“ (Zitiert nach junge Welt vom 2. Juni 2022, S. 4). Menschen, ihr seid arme Schweine! Egal, wo ihr lebt, den Baerböcken (m/w/d) des
westlichen Menschenrechtsimperialismus werdet ihr nicht entkommen!
Indem imperialistische Staaten sich für die Menschenrechte in anderen Nationen zuständig fühlen, dehnen sie das, was sie im eigenen nationalen Laden gewohnheitsmäßig tun, nämlich die Rechte ihrer BürgerInnen durch ihren politischen Gewaltapparat zu bestimmen, auch auf das konkurrierende Ausland aus. Sie stellen fest, dass andere Staaten die universellen Menschenrechte ihrer StaatsbürgerInnen nicht anerkennen und interpretieren das als Recht, sich im Namen des heiligsten Ideals des Globus in die inneren Angelegenheiten der betreffenden Nationen einzumischen. Dies kann sehr unterschiedlich gehandhabt werden. Sind die Beziehungen zu einem Staat eher kooperativ, dann kann die Aufforderung der westlich-imperialistischen MenschenrechtsfreundInnen an andere Nationen, doch bitte schön die Menschenrechte einzuhalten, in einem Nebensatz untergebracht werden. Überwiegt aber die Konkurrenz, wie zum Beispiel im Verhältnis des kollektiven Westens zu Russland und China im zweiten Kalten Krieg, dann kann eine richtige aggressive Kampagne im Namen der Menschenrechte geführt werden. Dies ist dann nichts anderes als propagandistisch-ideologischer Imperialismus. SozialrevolutionärInnen bekämpfen sowohl den westlichen Menschenrechtsimperialismus als auch die inneren Zustände in Russland und China, so wie in allen Staaten der kapitalistischen Internationale. Letzteres selbstverständlich nicht im Namen der Menschenrechte, sondern aus einem sozialrevolutionären Universalismus heraus.
Außerdem ist die UNO auch eine Verkörperung des Völkerrechtes. Was ist das Völkerrecht? Nun, die „Völker“ sind die klassengespaltenen Insassen der bürgerlichen Staaten. Nach der bürgerlichen Ideologie sind die „Völker“ die Subjekte des Staates. Das ist natürlich Unsinn. Bürgerliche Staaten sind nicht der politische Ausdruck der klassenneutralen „Völker“, sondern der politische Gewaltapparat der jeweiligen nationalen Bourgeoisie. Das Völkerrecht ist also das Recht der Staaten. Ein Recht, was in der Ideologie über ihnen stehen soll. Damit ist das Völkerrecht mehr praktizierte Ideologie als ideologisierte Praxis. Denn damit das Völkerrecht wirklich materiell durchgesetztes Recht werden kann, muss es eine Weltregierung geben, die das erstgenannte auch global in allen Staaten durchsetzen kann. Eine solche Weltregierung kann es nicht geben, die zwischenstaatliche Konkurrenz macht sie zur Unmöglichkeit. Es gibt nur die UNO als eine Organisation des Internationalismus der Nationalstaaten.
Eines der wichtigsten Prinzipien des Völkerrechtes ist zum Beispiel das Verbot von Führen von Angriffskriegen, es sei denn die UNO hat diese ermächtigt. Dieses Verbot hindert die imperialistischen Staaten nicht daran, Angriffskriege gegen andere Nationen zu führen. Zum Beispiel der Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 oder die Invasion Russlands in der Ukraine im Jahre 2022. Beide imperialistische Aggressionen wurden nicht von der UNO gedeckt, waren also völkerrechtswidrig. Das Völkerecht ist eine Patrone des propagandistisch-ideologischen Imperialismus. Als die NATO 1999 gegen Jugoslawien Krieg führte, war das Völkerrecht eine Waffe des Kremls, der die Aggression des kollektiven Westens ablehnte. 2022, als russische Truppen in der Ukraine einfielen, verurteilte dies der westliche Imperialismus als völkerrechtswidrig. Und bewaffnete den ukrainischen Nationalismus, der natürlich wie alle Nationalismen sozialreaktionär ist. Dadurch führten NATO und EU einen indirekten Stellvertreterkrieg gegen den russischen Imperialismus, der durch einen Wirtschaftskrieg ergänzt wurde. SozialrevolutionärInnen müssen Russland, den ukrainischen Nationalismus und EU/NATO als Kriegstreiber kompromisslos bekämpfen
Das Völkerrecht als bürgerliches Ideal interessiert uns nicht die Bohne. Wir bekämpfen die imperialistischen Kriege, weil in ihnen das Leben und die Gesundheit der kleinbürgerlichen/proletarischen Zivilbevölkerung für kapitalistische und politische Interessen geopfert werden. Mit dem Völkerrecht unter dem Arm lassen sich keine imperialistischen Kriege bekämpfen – aber rechtfertigen. So gingen die Kriege des US-Imperialismus gegen Nordkorea (1950-1953) – nachdem dieser Staat zuerst Südkorea angegriffen hatte – und gegen den Irak 1991, zuvor hatte im August 1990 das irakische Regime Kuwait annektiert, völkerrechtlich voll in Ordnung, weil die UNO zu diesen Gemetzeln ermächtigt hatte. Das Gleiche gilt für die Besatzung Afghanistans durch den westlichen Imperialismus von 2001 bis 2021 (siehe Kapitel 8 der Schrift Krieg und Frieden in Afghanistan).
Die UNO ist als höchste Verkörperung des bürgerlichen Internationalismus alles andere als eine idyllische „Völkerfamilie“. Sie ist hierarchisch gegliedert. In ihr geben die stärksten Imperialismen den Ton an. Macht kommt auch in der UNO aus der Atombombe. So sind die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates – die übrigens mit einem Vetorecht ausgestattet sind und auf diese Weise Beschlüsse der UNO gegen ihre Interessen verhindern können – die Atomwaffenmächte USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich. Die UNO war und ist – besonders während der zwei Kalten Kriege – ein Austragungsort unterschiedlicher imperialistischer Interessen. Außerdem ist sie so etwas wie ein internationales Sozialamt, die das Elend des Weltkapitalismus ein wenig eindämmt und verwaltet.

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Inhalt

Einleitung

I. Der Geburtsprozess des parteifeindlichen Kommunismus
1. Die Kapitalvermehrung vor dem Ersten Weltkrieg
2. Proletarischer Klassenkampf und institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung vor 1914
3. Der Erste Weltkrieg
4. Die Russische Revolution
5. Die ungarische „Räterepublik“
6. ISD, ASP und Spartakusbund
7. Die Novemberrevolution
8. Die Gründung von IKD und KPD
9. Klassenkämpfe in Deutschland im Jahre 1919
10. Innerparteiliche Konterrevolution in der „K“PD
11. Kappputsch und Rote Ruhrarmee
12. KAPD und AAUD
13. Märzkämpfe 1921 und Gründung der AAUE

II. Die Entwicklung des Rätekommunismus
1. AAUE, KAUD und GIK
2. Daad en Gedachte, Cajo Brendel, Paul Mattick und Willy Huhn
3. Die Verkörperung einer Kulturrevolution
4. Der Bruch mit der leninistischen Konterrevolution
5. Analyse und Kritik der Russischen Revolution und des Staatskapitalismus
6. Inkonsequenter Bruch mit dem Parteimarxismus und Anarchosyndikalismus
7. Inkonsequente Kritik an Demokratie, Antifaschismus und nationaler „Befreiung“

III. 1921-2021: 100 Jahre Dekadenz des Parteimarxismus als sozialrevolutionäre Theorie und Praxis
1. Marxismus-Leninismus
2. Trotzkismus
3. Italienischer Linkskommunismus
4. KAPD, Rote Kämpfer, MLLF, Communistenbond Spartacus und Neu Beginnen
5. Rechtsmarxismus-Linkskeynesianismus

IV. Der bewusst antipolitische Kommunismus
1. Antipolitisch und antinational
2. Konsequent gewerkschaftsfeindlich
3. Nachmarxistisch und nachanarchistisch
4. Überwindung des Rätefetischismus

Der Bruch mit der leninistischen Konterrevolution

Die sozialreaktionäre Machtübernahme der bolschewistischen BerufspolitikerInnen im Oktober 1917 – nach dem alten russischen Kalender – führte zum Staatskapitalismus (ab Sommer 1918) und der politischen Diktatur der „Kommunistischen“ Partei, die entweder die Organe der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats zerschlug oder in das ultrabürokratische Regime integrierte (siehe Kapitel I.4). Ab 1918 war der weltweite Bruch der revolutionären ProletarierInnen und Intellektuellen mit dem bolschewistischen Regime und dessen Konterrevolution objektiv notwendig. Nun, es dauert immer ein wenig, bis sich objektive Notwendigkeiten subjektiv durchsetzen. Auch die radikalen antiparlamentarischen und gewerkschaftsfeindlichen MarxistInnen in Deutschland (KAPD/AAUD) hatten Illusionen in den „sowjetischen“ Partei-„Kommunismus“. Es war die parteifeindliche Strömung in KAPD und AAUD, die zuerst im Jahre 1920 mit dem Lenin/Trotzki-Regime brach.
So wie die parteifeindliche Strömung am Anfang noch der KAPD angehörte, so hatte sie zu Beginn ihrer Existenz auch noch Illusionen in den Bolschewismus. Bis Otto Rühle praktische Erfahrungen mit den Moskauer Kreml-Herren machte, die ihn von seinen Illusionen heilten. Die KAPD strebte damals noch die Mitgliedschaft in der vom Bolschewismus dominierten „Kommunistischen“ Internationale an. So schickte sie noch auf ihren Gründungsparteitag eine Delegation nach Moskau. Da aber die Verbindungen zwischen der KAPD und dieser Delegation abbrachen, schickte sie eine zweite Delegation aus Rühle und Merges als KAPD-Vertreter zum II. Weltkongress der „Kommunistischen“ Internationale. Die bolschewistische Parteibürokratie verlangte von Rühle und Merges eine absolute Kapitulation. So sollten die beiden sich bereits den Beschlüssen des II. Kongresses unterwerfen, noch bevor diese ihnen bekannt waren. Rühle und Merges lehnten diese Kapitulation ab und nahmen nicht am II. Weltkongress teil, was die KAPD-Zentrale später kritisierte.
Seine praktischen Erfahrungen mit der Moskauer Parteibürokratie führten bei Otto Rühle zu seinem geistigen Bruch mit dem Bolschewismus. So schrieb Rühle über seine Erfahrungen mit der staatskapitalistischen Parteidiktatur und der bolschewistischen Ideologie: „Revolution ist Parteisache. Staat ist Parteisache. Diktatur ist Parteisache. Partei ist Disziplin. Partei ist eiserne Disziplin. Partei ist Führerherrschaft. Partei ist straffster Zentralismus. Partei ist Militarismus. Partei ist straffster, eiserner, absoluter Militarismus.“ (Die Aktion, Jg. 10 (1920), Sp. 507.) Diese radikale Kritik Rühles an den Moskauer Kreml-Herren ging damals den meisten KAPD-Mitgliedern zu weit, die weiterhin die Mitgliedschaft in der „Kommunistischen“ Internationale anstrebten. Die parteifeindliche Strömung war natürlich dagegen. Der Konflikt zwischen der KAPD und der parteifeindlichen Strömung wurde schließlich so gelöst, dass Otto Rühle und die von ihm stark beeinflusste „ostsächsische Richtung“ von der Parteiführung Ende Oktober 1920 ausgeschlossen wurden. Daraufhin löste die in Dresden starke parteifeindliche Strömung die KAPD in der AAUD auf.
Die KAPD ließ sich dagegen im März 1921 von den Moskauer Kreml-Herren und der „K“PD in die staatskapitalistische Putschpolitik hineinziehen (siehe Kapitel I.13), wodurch auch die Dekadenz des radikalen Parteimarxismus als revolutionäre Theorie und Praxis offensichtlich wurde. Nach dem Scheitern dieser putschistischen Politik setzten Moskau und „K“PD wieder auf parlamentarischen und gewerkschaftlichen Sozialreformismus sowie Einheitsfronten mit der konterrevolutionären SPD. Die KAPD brach mit dem Lenin/Trotzki-Regime im Jahre 1921, ein Jahr nach dem parteifeindlichen Kommunismus. Doch anstatt zuzugeben, dass Rühle 1920 gegen die KAPD-Mehrheit recht hatte, machte die letztere den erstgenannten einen angeblich „zu frühen“ Bruch mit Moskau zum Vorwurf.
Paul Mattick brach erst 1921 mit der KAPD-Mehrheit mit dem Lenin/Trotzki-Regime. Wir wiederholen: dieser Bruch war schon im Jahre 1918 objektiv notwendig, aber es dauerte eine Weile bis er sich subjektiv durchsetzte. Doch was tat Mattick in späteren Jahren? Er ideologisierte den eher defensiven Bruch des radikalen Parteimarxismus mit Moskau. Auch innerhalb der „K“PD entwickelten sich im Verlauf der 1920er Jahre kremlfeindliche Strömungen, die schließlich mit der Sowjetunion brachen. Auch Matticks späterer Freund Karl Korsch gehörte zu jenen SozialrevolutionärInnen, die ab Mitte der 1920er Jahre konsequent den sowjetischen Staatskapitalismus bekämpften. Das ist natürlich zu begrüßen. Jedoch muss auch betont werden, dass Korschs Bruch mit dem Kreml relativ spät erfolgte. Doch Mattick ideologisierte die Verspätung und den verglichen mit dem parteifeindlichen Kommunismus verlangsamten Radikalisierungsprozess des radikalen Parteimarxismus: „Auch Korsch musste zu den durch die Russische Revolution aufgeworfenen Fragen und zu ihrem besonderen, nichtmarxistischen Charakter Stellung nehmen. Solange die Umstände es erlaubten, auf eine Revolution in Westeuropa zu hoffen – d.h. während der ,heroischen´ Periode des Kommunismus des Bürgerkriegs – ergriff er dafür Partei. Unter diesen Umständen sich gegen das bolschewistische Regime zu wenden hätte bedeutet, der Konterrevolution (nicht nur in Russland, sondern in aller Welt) zu folgen. Die Revolutionäre in Deutschland mussten die Russische Revolution notwendigerweise unterstützen, unter wie vielen Vorbehalten auch immer. Erst als die Bolschewisten selbst gegen die russischen und westeuropäischen Revolutionäre vorgingen – nicht zuletzt, um mit der kapitalistischen Welt ihren Frieden zu machen –, wurde es möglich, sich gegen das bolschewistische Regime zu kehren, ohne damit gleichzeitig der internationalen Konterrevolution in die Hände zu arbeiten.“ (Paul Mattick, Von der Notwendigkeit, den Marxismus mit Marx zu kritisieren. Ein Blick auf das Werk von Karl Korsch, in: Derselbe, Spontaneität und Organisation. Vier Versuche über praktische und theoretische Probleme der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1975, S. 80.)
Matticks Ausführungen stellen eine Ideologisierung des objektiv zu langsamen Bruches der SozialrevolutionärInnen mit dem konterrevolutionären staatskapitalistischen Regime in Moskau dar. Dieser Bruch war deshalb zu langsam, weil sich die SozialrevolutionärInnen von ihren eigenen probolschewistischen Illusionen befreien mussten. Und diese Illusionen hatten auch etwas mit den parteimarxistischen Traditionen zu tun, die sich als konterrevolutionär erwiesen. Mattick behauptete, dass es für RevolutionärInnen nicht möglich gewesen wäre, sich bereits in der Periode des BürgerInnen- und imperialistischen Interventionskrieges (1918-1921) in „Sowjet“-Russland sich von Moskau loszusagen. Doch dieser Krieg war objektiv einer zwischen Privat- und Staatskapitalismus. Es wäre also objektiv notwendig gewesen, sowohl die staatskapitalistische als auch die proprivatkapitalistische Seite von revolutionären Positionen aus zu bekämpfen. Diese objektiv notwendige Haltung war aber aufgrund der probolschewistischen Illusionen der westlichen radikalen MarxistInnen subjektiv nicht möglich. Natürlich war ein revolutionärer Sturz des bolschewistischen Lenin/Trotzki-Regimes objektiv unmöglich. Doch auch im Zweiten Weltkrieg war an einer revolutionären Zerschlagung der faschistischen und demokratischen Regimes sowie der Sowjetunion nicht zu denken – und doch bekämpften SozialrevolutionärInnen alle Seiten des imperialistischen Gemetzels. Mattick ideologisierte hier subjektive Schwäche der SozialrevolutionärInnen im Bruch mit der leninistischen Konterrevolution, anstatt objektive Notwendigkeiten auf den Punkt zu bringen. Indem er die objektive Notwendigkeit schon mit dem Lenin/Trotzki-Regime im BürgerInnen- und imperialistischen Interventionskrieg als Übergang in die Konterrevolution verunglimpfte, leistete er objektiv Propagandadienste für den Marxismus-Leninismus. Auch verwechselte Mattick die Russische Revolution mit der bolschewistischen Konterrevolution, die im Oktober 1917 begann und im März 1921 durch die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes siegreich beendet wurde.
Felix Klopotek brachte im Jahre 2021 sein verdienstvolles Buch Rätekommunismus. Theorie – Geschichte heraus. Jedoch auch Klopotek war der Meinung, dass der Räteommunismus angeblich zu früh mit dem staatskapitalistischen Regime in Moskau gebrochen hatte. Das marxistisch-leninistische Käseblatt junge Welt druckte in der Ausgabe vom 29./30. Mai 2021 ein Interview mit Klopotek ab. Die Zeitung leugnete selbstverständlich in diesem Interview die leninistische Konterrevolution gegen die Räte (Sowjets): „Anfangs waren die Räte nichts als deutsche ,Sowjets´. Dennoch haben sie (die Rätekommunisten, Anmerkung von Nelke) sich vom Land der Räte abgewandt, weil es ihnen ein Land der Parteibürokratie geworden zu sein schien.“ („Schwellbrände sind Schwäche der sozialen Kämpfe weltweit.“ Ein Gespräch mit Felix Klopotek, in: junge Welt-Beilage faulheit & arbeit vom 29./30. Mai 2021, S. 2.)
Und Klopotek brachte es fertig, auf diesen leninistischen Ideologie-Müll so zu antworten: „Stopp – zwischen 1917 und 1920 bestand ein Unterschied! Den Bolschewiki war klar, dass sie Unterstützung nur von den Linksradikalen unter den Kadern der europäischen Arbeiterbewegung erwarten konnten. Es gab 1917 keine Rätekommunisten. Wer Kommunist war, bekannte sich selbstverständlich zum Roten Oktober und zu den Bolschewiki. Die Entfremdung setzte 1919 ein (die von Moskau gedeckte innerparteiliche Konterrevolution in der „K“PD gegen den antiparlamentarisch-gewerkschaftsfeindlichen Flügel, Anmerkung von Nelke), der Bruch wurde spätestens 1921 vollzogen (von der KAPD, Anmerkung von Nelke), vielleicht zu schnell, denn bis 1926 war nicht ausgemacht, dass die Sowjetunion einen nationalistisch-konterrevolutionären Weg einschlagen sollte.“
Herr Klopotek, müssen wir sie wirklich an die Errichtung einer staatskapitalistischen Wirtschaft im Sommer 1918, die beginnende Zerschlagung der Sowjets als Organe der klassenkämpferische Selbstorganisation des Proletariats kurz nach der bolschewistischen Machtübernahme und die konterrevolutionäre Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes im März 1921 durch das verdammte Lenin/Trotzki-Regime erinnern?! Alles lange vor 1926!

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Neue Broschüre: Coronaviruspandemie und Klassenkampf https://swiderstand.blackblogs.org/2020/08/14/neue-broschure-coronaviruspandemie-und-klassenkampf/ Fri, 14 Aug 2020 22:09:27 +0000 http://swiderstand.blackblogs.org/?p=287 Unsere neue Broschüre „Coronaviruspandemie und Klassenkampf“ (ca. 127 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

Coronaviruspandemie und kapitalistische Krisendynamik

I. Die kapitalistische Krisendynamik vor der Coronaviruspandemie
1. Die krisenhafte Spirale der Kapitalvermehrung
2. Vom privatkapitalistischen Nachkriegsaufschwung zur strukturellen Profitproduktionskrise
3. Die Transformationskrise in Russland und in Osteuropa
4. Der sozialökonomische Aufstieg Chinas
5. Die Weltwirtschaftskrise ab 2007
6. Die relative Stabilisierung des Weltkapitalismus (2010-2019)
II. Die Coronaviruskrise
1. Die globale Coronaviruspandemie
2. Die Coronaviruspandemie als Teil der biosozialen Reproduktionskrise
3. Die Coronaviruspandemie als Profitkrise
4. Die Zuspitzung der allgemeinen kapitalistischen Krisendynamik
durch die Coronaviruspandemie
5. Staatliche Krisenpolitik während der Coronaviruspandemie

Coronaviruskrise und Klassenkampf

I. Die Coronaviruspandemie als politischer Klassenkampf von oben
1. Die internationale Staatengemeinschaft gegen das Weltproletariat
2. Staatliche Notverordnungen
3. Rechte, mittige und linke Politik gegen das Proletariat
4. Die Notwendigkeit einer globalen sozialrevolutionären Antipolitik
II. Klassenauseinandersetzungen während der Coronaviruspandemie
1. Überleben heißt Klassenkampf, Klassenkampf heißt Überleben!
2. Konflikte in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelindustrie
3. Auseinandersetzungen im Gesundheitswesen und in der Pflege
4. Konflikte im Einzel- und Onlinehandel
5. Klassenkämpfe im Schulwesen
6. Konflikte in der Metallindustrie
7. Auseinandersetzungen im Flugverkehr
8. Geflüchtete im Widerstand
9. Rebellion der Inhaftierten
10. Aufruhr der Elendsviertel
11. Widerstand der rassistisch Benachteiligten

Überleben heißt Klassenkampf, Klassenkampf heißt Überleben!

Das Kapital und die Staaten als politische Gewaltapparate der Kapitalvermehrung waren auch während der globalen Coronaviruspandemie möglichst bestrebt, die Profitproduktion und -realisation am Laufen zu halten. Doch während der Lohnarbeit als kapitalistischen Ausbeutungsprozess waren und sind die medizinischen Erfordernisse zur Eindämmung der Pandemie – körperlicher Mindestabstand zu anderen Menschen, Gesichtsschutz – nur schwer bis gar nicht durchzusetzen. So wurde die Coronaviruspandemie ein konkreter Ausdruck der allgemeinen Tatsache, dass der Kapitalismus gewohnheitsmäßig die Gesundheit und das Leben der Lohnabhängigen gefährdet. Gegen die starke Tendenz des Kapitalismus zur Überausbeutung der Lohnarbeit und der Gefährdung der biosozialen Reproduktion des Proletariats kann sich das letztere nur in Form des Klassenkampfes wehren. Überleben heißt Klassenkampf, Klassenkampf heißt überleben!
Doch im ganz normalen Zustand des kapitalistischen Wahnsinns und auch oft in außergewöhnlichen Situationen, in dem dieser extrem zugespitzt wird wie in der jetzigen Coronaviruspandemie, bewegt sich der proletarische Klassenkampf in den reproduktiven Grenzen des Kapitalismus. Die Mehrheit des Proletariats hat außer in objektiv-subjektiv revolutionären Situationen ein reproduktiv-sozialreformistisches Bewusstsein. Der gewerkschaftliche und linkspolitische Sozialreformismus der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung hilft dabei, die Grenzen des reproduktiven Klassenkampfes geistig-praktisch zu verfestigen. Proletarische RevolutionärInnen wissen, dass sie diese Grenzen nicht künstlich sprengen können, die mögliche Radikalisierung des Proletariats im und durch Klassenkampf ist ein komplizierter und langandauernder Prozess. Als vorwärtstreibender Teil des Klassenkampfes bekämpfen proletarische RevolutionärInnen die Lohnarbeit grundsätzlich. Sie geben wichtige praktisch-geistige Impulse zur Radikalisierung des Klassenbewusstseins – damit dieses die kapitalismusreproduzierenden Grenzen überwindet und sich zum bewussten Sein der sozialen Revolution entwickelt.
Der Klassenkampf blieb während der Coronaviruspandemie im reproduktiven Rahmen. Aber er war verdammt wichtig für die allgemeine Radikalisierung des Proletariats und der progressiven Teile der lohnabhängigen KleinbürgerInnen. Wir wollen in diesem Kapitel branchenübergreifend sowohl Klassenkämpfe zur Einschränkung der Produktion in bestimmten Situationen als auch deren Ausbleiben in anderen beschreiben.
In Italien wurden die Lohnabhängigen während der Coronaviruspandemie in der Produktionssphäre schutzlos Krankheit und Tod ausgesetzt. Die ursprüngliche Entscheidung des italienischen Staates die meisten Geschäfte zu schließen, aber die Produktion laufen zu lassen, trat aber im März 2020 auf den klassenkämpferischen Widerstand des Proletariats. Es entwickelten sich spontane Arbeitsniederlegungen von Brescia bis Montua sowie in den Provinzen Asti, Vercelli und Cuneo in Norditalien – dem Zentrum der Industrie in diesem Land. An diesen Streiks beteiligten sich die LohnarbeiterInnen zahlreich. So traten sie in der AST-Fabrik in Terni am 13. März um 6 Uhr morgens in einen achtstündigen Ausstand. Auch in der Gegend um Brescia entwickelte sich eine spontane Streikwelle in einigen Fabriken, die trotz der Pandemie weiter Mehrwert produzieren lassen wollten. Doch die ArbeiterInnen machten deutlich: „Wir sind kein Schlachthof-Fleisch“. Sie forderten die Einstellung der Produktion für 15 Tage. Auch 450 Lohnabhängige der historischen Männermode-Marke Corneliani legten in der Fabrik in Mantua die Arbeit nieder. Die ArbeiterInnen bei Fiat traten ebenfalls in den Streik.
Teilweise appellierten die Gewerkschaftsbonzen an die Lohnabhängigen, die „Wirtschaft“ anzukurbeln. Doch das klassenkämpferische Proletariat Italiens trieb teilweise die bürgerlichen Gewerkschaftsapparate vor sich her und zwang sie dazu den Widerstand zu unterstützen. „Wir diskutieren mit den Unternehmen, wie wir mit dieser Situation umgehen können. Wir registrieren Streiks in vier oder fünf Sektoren“, sagte der Sekretär der Gewerkschaft Cgil von Brescias, Francesco Bertoli. So bestätigten die Gewerkschaften bei der Firma Fincantieri den Beginn des Protestes: „Es ist unmöglich, die Regeln zu respektieren – zum Beispiel kann man mit drei LeiharbeiterInnen diese Arbeit nicht in einem Abstand von einem Meter voneinander durchführen, es wäre besser alles abzuschalten. Dieser Virus ist eine Katastrophe, und wir fühlen uns nicht geschützt.“
Die so genannte Basisgewerkschaft USB (mehr zu dieser: siehe das Kapitel II.2 dieser Schrift) rief im März 2020 zu einem 32-stündigen Streik in nicht für die biosoziale Reproduktion wesentlichen Industriebereichen auf. Sie forderte „drastische Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und der Löhne der Beschäftigten“. Die Delegierten dieser Gewerkschaft machten auch deutlich, dass die meisten ProletarierInnen keine Schutzmasken hatten und auch Handschuhe nicht ausreichend vorhanden waren. „Wir bekommen nur ein Paar pro Tag“, berichteten die wütenden ArbeiterInnen. Auch das Alkohol-Gel zur Desinfektion fehlte eine Zeit lang. Der Sicherheitsdelegierte von Usb Logistics sagte in einer Videoübertragung auf seiner Facebook-Seite: „Das Lager wird nicht desinfiziert, die Werkzeuge werden nicht desinfiziert.“ Die Delegierten kritisierten scharf, dass die LogistikerInnen seit Wochen Waren und Pakete auslieferten. Sogar an Menschen unter Quarantäne, die eigentlich nicht ihre Türe öffnen sollten, wodurch sie sich der Gefahr aussetzten, an COVID-19 zu erkranken. Auch die Beschäftigten der Logistikfirma Bartolini in Caorso in der Provinz Piacenza protestierten gegen ihre Arbeitsbedingungen, bei denen sie dem Coronavirus schutzlos ausgeliefert waren. Deshalb traten auch sie in den Ausstand. Unter der Losung „Gegen die Bosse und das Coronavirus“ gaben sie dem Weltproletariat ein positives Beispiel für die klassenkämpferische Reaktion auf die vom Kapitalismus produzierte biosoziale Reproduktionskrise. „Gesundheit vor Leistung“ war eine weitere Forderung von ihnen. Wir spitzen zu: Gesundheit statt krankmachende Kapitalvermehrung. (Alle bisherigen Zitate: klassegegenklasse.org, Italien: Wut und spontane Streiks wegen des Coronavirus vom 12. März 2020.)
Auch die Lohnabhängigen von IKEA Anagnina in Rom traten in den Klassenkampf. Sie legten ihrer Arbeit nieder. Sie begründeten ihren Streik damit, dass der körperliche Mindestabstand zu anderen Menschen an ihrem Arbeitsplatz nicht gesichert sei. Die Beschäftigten des PSA Terminals Genova Pra folgten ihrem Beispiel und traten am 11. März 2020 in den Streik. Sie protestierten dagegen, dass Kräne und andere Maschinen nicht desinfiziert wurden.
Auch in Großbritannien wurden die Lohnabhängigen während der COVID-19-Pandemie diesem Risiko für Gesundheit und Leben schutzlos ausgeliefert. Doch auch die Insel wurde während dieser Zeit zum Ort des klassenkämpferischen Widerstandes des Proletariats. Der Arbeitsrechtsexperte Gregor Gall berichtete Mitte April 2020 in einem Artikel für die Webseite des linkspolitischen Magazins Tribune, dass sich während des Höhepunktes der Coronaviruspandemie in Großbritannien mehr als 50 spontane Arbeitsniederlegungen entwickelten. Unter anderem streikten die Lohnabhängigen bei Lieferdepots, bei der Post, auf Großbaustellen, bei großen Handelsketten und im Gesundheitswesen. Dabei standen verschiedene Aspekte der Coronakrise im Mittelpunkt. Die ArbeiterInnen protestierten in ihren Klassenkämpfen gegen fehlende Schutzausrüstung, verschlechterte Arbeitsbedingungen und gegen die Angriffe der Bourgeoisie auf Löhne und Urlaubsansprüche. Das klassenkämpferische Proletariat schiss dabei auf die bürgerliche Gesetzgebung dieses Landes einen riesengroßen Haufen. All diese Arbeitsniederlegungen waren nach britischem Recht illegal. Nach der Justiz der kapitalistischen Diktatur in demokratischer Form hätten Urabstimmungen per Briefwahlen stattfinden müssen. Diese konnten aber nicht durchgeführt werden, weil die dafür zuständigen Organisationen aufgrund von COVID-19 inaktiv waren. So handelte das klassenkämpferische Proletariat nach der Devise: legal, illegal, scheißegal!
Bei der britischen Post entfalteten sich die spontanen Ausstände rund um die großen Zentraldepots. In Kent streikten die Lohnabhängigen der Post wegen mangelnder Desinfektionsmittel. Während in Warrington die KollegInnen die Arbeit niederlegten, weil die Chefetage weiterarbeiten ließ – obwohl ein dortiger Lohnabhängiger an COVID-19 erkrankte. Ähnliche Streiks entfalteten sich unter anderem in Winchester, Liverpool, Schottland und Stoke.
Im Gesundheitswesen richtete sich die Wut der dort Beschäftigten gegen die mörderischen Auswirkungen des Missmanagements des Staates als oberster Krankheitsverwalter der kapitalistischen Nation. So steckten zum Beispiel im April 2020 400.000 Einheiten von Schutzkleidung für das britische Gesundheitswesen auf einem türkischen Flughafen fest. Die Gesundheitsbehörde „Public Health England“ wies die Lohnabhängigen an, die Ausrüstung mehrfach zu verwenden, wenn nicht genug vorhanden war. Im britischen Gesundheitswesen starben bis zum 22. April 2020 mehr als 50 Beschäftigte an COVID-19. Aufgrund der tödlichen Gefährdung der Lohnabhängigen und des klassenkämpferischen Druckes der Basis waren auch die Gewerkschaftsapparate zum Handeln gezwungen. So richtete der Oberbonze der Großgewerkschaft Unite, Leonard McCluskey, Ende der zweiten Aprilwoche 2020 an die 100.000 Mitglieder im Gesundheitssektor über Twitter aus, dass sie „das legitime und legale Recht, sich einer Selbstgefährdung während der Arbeit zu verweigern“ hätten. Unite würde „die Beschäftigten verteidigen, wenn sie diesen Schritt wählen“.
Im britischen Bausektor entwickelte sich die Initiative „Shut the Site“ (auf Deutsch: „Schließt die Baustellen“). Tragerinnen dieser Initiative waren vor allem klassenkämpferische Basisstrukturen, die sich im Kampf gegen die antigewerkschaftlichen „schwarzen Listen“ – ja ein großer Teil der Weltbourgeoisie will die Co-Management-Dienstleistungen der globalen Gewerkschaftsbewegung nicht in Anspruch nehmen und bekämpft diese konsequent – entfalteten.
Im April 2020 zirkulierte nach der Auskunft des in der Baubranche bekannten Aktivisten Dave Smith „auf allen großen Baustellen“ des Landes ein Video, dass die Arbeitsbedingungen hart kritisierte. In dem von der Londoner Aktivistengruppe „Real News“ hergestellten Kurzfilm hieß es unter anderem, dass hunderte BauarbeiterInnen in den kommenden Wochen sterben würden, weil diese zur Maloche auf nicht essentiellen Baustellen gezwungen würden. Das Video riet die KollegInnen von „individuellen Beschwerden“ über diese Zustände ab, weil sie auf diese Weise schnell den Job verlieren könnten. Es sei dagegen wichtig, sich untereinander zu organisieren, um Forderungen kollektiv vortragen zu können. Genau diese Methode hätte an manchen Orten bereits zu Schließungen von Baustellen geführt.
Außerdem forderte „Shutt the Sites“, dass BauarbeiterInnen unabhängig von ihrem Beschäftigungsverhältnis weiterhin ihren vollen Lohn ausbezahlt bekommen sollten, damit ihre biosoziale Reproduktion auch in der Coronaviruspandemie gesichert sei. In Großbritannien gehören rund eine Million BauarbeiterInnen zu den Scheinselbständigen. Diesen stehen wichtige Sozialleistungen nicht zu. Deshalb verlangen klassenkämpferische Bauleute auch zusätzliche staatliche Maßnahmen wie die Aussetzung von Mietzahlungen und die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. (Alle Zitate über den Klassenkampf in Großbritannien: Christian Bunke, Streiks in Großbritannien, in: junge Welt vom 22. April 2020, S. 7.)
Auch das oberschlesische Industriegebiet in Polen war ein Zentrum der COVID-19-Pandemie. Mitte Mai 2020 lebten über 30 Prozent der gut 18.000 offiziell mit dem Coronavirus infizierten Menschen dieses Landes in der Wojewodschaft rund um Katowice – rund 6.000 „Fälle“. Der hohe Anteil war allerdings möglicherweise irreführend, weil ab Mai in Oberschlesien verstärkt getestet wurde. Bis zum 19. Mai 2020 stieg die Zahl der Kohlegruben, die wegen besonders hohen Infektionen mit dem Coronavirus geschlossen worden sind, auf fünf.
Doch unter den Bergleuten war die Angst vor der Erwerbslosigkeit größer als die vor COVID-19. Die Gewerkschaft „Sierpien 80“ – „August 80“ auf Deutsch, benannt nach dem Monat des Beginns der Massenstreiks im staatskapitalistischen Polen, die die proprivatkapitalistische Gewerkschaft Solidarnosc für ihr eigenes schmutziges Spiel nutzte – betrieb eine ekelhafte nationalistische Propaganda. Diese Gewerkschaft veröffentlichte Mitte Mai 2020 eine Erklärung, in der sie der Regierung in Warschau vorwarf, sie würde gegenüber der EU und deren Klimapolitik auf die Knie fallen und die Grundlagen der nationalen Energieversorgung opfern. Die Kohleverstromung ist eine durch und durch schmutzige Energiegewinnung. Dass der Apparat von „Sierpien 80“ die kapitalistischen Ausbeutungsplätze gegen die biosoziale Reproduktion verteidigt, ist typisch für Gewerkschaften.
Diese sind in diesem Fall der bürokratisch entfremdete Ausdruck des reproduktiv-sozialreformistischen Klassenbewusstseins der Mehrheit des Proletariats. Solange diese noch nicht bewusst für eine klassen- und staatenlose Gesellschaft kämpft, fürchtet sie die Arbeitslosigkeit mehr als die schlechtesten Bedingungen der kapitalistischen Ausbeutung. In polnischen Bergbau kommt noch dazu: diese ist international nicht konkurrenzfähig, da ihre Produktionskosten zu hoch sind. Selbst im Inland wurde sie immer unverkäuflicher. Die polnischen Kraftwerksbetreiber greifen immer stärker auf Importware zurück. Anfang Juni 2020 lagen rund sieben Millionen Tonnen Kohle auf Halde – das entsprach der Fördermenge eines Vierteljahres. Außerdem kommt auch Polen nicht an der Simulation einer kapitalistisch-technokratischen „Lösung“ der ökologischen Krise vorbei. Die Zertifikate für die Emissionen der genutzten Kohle werden immer teurer. Die polnischen Strompreise sind im Vergleich mit der EU hoch und werden zu einem Hindernis der Kapitalvermehrung. So hatten die Bergleute mehr Angst um ihre Arbeitsplätze als vor COVID-19. Deshalb blieb deren Klassenkampf gegen das hohe Infektionsrisiko aus.
Die Gewerkschaften Solidarnosc und „Sierpien 80“ verhandelten mit der polnischen Regierung und den Bergbaukonzernen über ein neues Hilfspaket für den Kohlebergbau. Da dieser in Polen international nicht konkurrenzfähig ist, können die bürgerlichen Gewerkschaftsapparate bei der „Verteidigung der Arbeitsplätze“ nur auf Nationalismus setzen. So forderten sie einen Stopp der Einfuhr der Importkohle – während die Bergleute beim Abbau der „nationalen“ Kohle weiterhin auch mit dem Segen der Gewerkschaftsbonzen dem Infektionsrisiko ausgesetzt wurden. Leider hielt die Angst der Bergleute um ihre Jobs diese vor Streiks gegen ihre Verheizung zurück.
In Polen lag die Zahl der Neuinfizierten Anfang Juni 2020 bei knapp 600 pro Tag mit leicht steigender Tendenz. Rund die Hälfte der Neuinfektionen entfiel auf die Wojewodztwo slaskie. Insgesamt infizierten sich in diesem Gebiet bis zum 10. Juni ungefähr 9.000 Menschen mit dem Coronavirus. 60 Prozent entfielen auf die Bergleute und ihre Familien. Der Staat kam aus Gründen der Eindämmung von COVID-19 an der Schließung von Kohlezechen nicht vorbei. So schloss er seit dem 9. Juni 2020 im Kohlenrevier von Gorny Slask 12 Gruben für drei Wochen. Die von dieser Schließung betroffenen Bergleute bekamen in dieser Zeit den vollen Lohnausgleich. Dies tat der politische Gewaltapparat aus Angst vor dem sonst drohenden Klassenkampf der Bergleute. Von den zwölf geschlossenen Kohlegruben gehörten zehn der staatlichen Bergbauholding PGG, während nur zwei das Eigentum der Privatfirma JSW darstellten. So trag die staatliche PGG mit 80 Prozent der stillgelegten Betriebe die wirtschaftliche Hauptlast, obwohl mehr als 50 Prozent der COVID-19-„Fälle“ sich in den zwei geschlossenen Gruben der privaten JSW ereigneten. Dies entsprach durchaus dem neoliberalen Krisenkeynesianismus, der sich auch sonst in Europa, in Japan und in den USA entfaltete (siehe das Kapitel I.5 unseres Textes Coronaviruspandemie und kapitalistische Krisendynamik). Dazu kommt noch, dass das private Einzelkapital JSW von ihren lohnabhängigen Bergleuten Profit produzieren lässt, während die staatliche PGG seit Jahren Verluste einfährt. Letztere wurde 2016 als Auffanggesellschaft gegründet. Sie sollte das seit der Transformation vom Staats- zum Privatkapitalismus andauernde Zechensterben „sozialverträglich“ gestalten. Die Gewerkschaften Solidarnosc und „Sierpien 80“ gaben ihrer Befürchtung Ausdruck, dass die polnische Regierung unter dem Vorwand der Eindämmung der Atemwegserkrankung die Zechenschließung vorantreiben wollte. Das Beispiel Polen, wo Gewerkschaften die krankmachende Förderung der Kohle gegen die staatliche Politik verteidigen, zeigt besonders anschaulich die Grenzen des reproduktiven Klassenkampfes auf.
Auch in Österreich zeigten die Gewerkschaften während der Pandemie deutlich ihren Charakter als Co-Managerinnen der kapitalistischen Ausbeutung. Am 30. März 2020 kündigten in diesem Staat mehrere Baukapitale an, dass sie in den folgenden Tagen die wegen COVID-19 unterbrochene Lohnarbeit ihrer „SozialpartnerInnen“ wieder ausbeuten würden. Der Staat hatte den Stillstand der Bautätigkeit sowieso davor nicht angeordnet, viele Baufirmen stellten diese Arbeit während der Pandemie vorübergehend ein – auch aufgrund des klassenkämpferischen Druckes der BauarbeiterInnen. Denn der von der österreichischen Regierung angeordnete Mindestabstand zwischen den Menschen von zwei Metern konnte auf den Baustellen nicht eingehalten werden.
Die „Gewerkschaft Bau-Holz“ (GBH) des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) hatte davor selbstverständlich nicht die lohnabhängige Basis gegen die Gesundheitsgefahren mobilisiert, sondern einen Baugipfel mit Kapital und Politbonzen gefordert, der Ende der letzten Märzwoche 2020 stattfand. Auf diesem einigten sich die Bau-Bourgeoisie, die Regierung und die Gewerkschaftsbonzen darauf, dass auf den Baustellen weitergearbeitet werden dürfe. Die von der GBH geforderte Unterbrechung der Bautätigkeit bis nach Ostern 2020 wurde von dem ideellen österreichischen Gesamtkapitalisten und dem Baukapital abgelehnt. Als gute DemokratInnen beugten sich die Gewerkschaftsbonzen der demokratischen Mehrheit des Kapitals und des politischen Gewaltapparates. Selbstverständlich organisierte die GBH keine Arbeitsniederlegungen gegen diese Entscheidung. Die ÖGB-Bonzen halfen den Bau-KapitalistInnen dabei, alternative Bestimmungen für die Branche auszuarbeiten. So sollten, wenn der Schutzabstand nicht eingehalten werden konnte, was auf dem Bau beim Arbeiten die Regel war, die Lohnabhängigen Schutzmasken tragen. Diese müssen von den Bau-Bossen zur Verfügung gestellt werden. Außerdem hieß es in den Vorgaben recht unbestimmt, dass die Kontaktzeit zwischen den ArbeiterInnen „möglichst kurz gehalten“ werden sollte.
Der ÖGB war natürlich mit seinem Co-Management wieder mal sehr zufrieden. Der GBH-Chef Josef Muchitsch sagte in einer Stellungnahme seiner Bonzenzuchtvereinigung: „Wir haben als Sozialpartner unsere Verantwortung wahrgenommen.“ Artig bedankte sich das Gewerkschaftswauwauchen bei seinem kapitalistischen Herrchen: „Danke an alle Verhandler auch auf der Arbeitgeberseite.“ (Zitiert nach: Simon Loidl, Masken statt Kampf, in junge Welt vom 1. April 2020, S. 7.)
Auch in Deutschland organisierten die Gewerkschaften in der Regel während der Hochphase der COVID-19-Pandemie keine Streiks und vertrösteten ihre lohnabhängige Basis auf die Zeit nach deren Überwindung. Das traf auch auf die Kritik von LinksreformistInnen. So sagte die Diplom-Informatikerin, das Verdi-Mitglied und Aktivistin der sozialdemokratischen Partei Die Linke sowie des linksbürgerlichen Antifaschismus/Antirassismus, Irmgard Wurdack gegenüber der jungen Welt: „Was zum Beispiel in der Verdi-Mitgliedszeitung formuliert wurde, reicht mir nicht aus: das gestreikt und protestiert werden könne, wenn die Pandemie vorbei ist. Jetzt sind Menschen von Kurzarbeit betroffen, jetzt müssen Menschen unter extremen Bedingungen und ohne ausreichenden Schutz vor einer Ansteckung arbeiten, jetzt machen Unternehmen dicht. Auch unter den gegenwärtig schwierigen Bedingungen, ist es nötig Druck zu entfalten – und nicht nur mit der Regierung am Verhandlungstisch zu sitzen und darauf zu hoffen, dort das eine oder andere durchsetzen zu können.“ (Zitiert nach: „Die Proteste wurden längst von Rechten vereinnahmt“. Gespräch mit Irmgard Wurdack, in: junge-Welt-Beilage faulheit & arbeit vom 23./24. Mai 2020, S. 2.)
SozialrevolutionärInnen schüren keine Illusionen in die Gewerkschaftsapparate. Das Proletariat kann sich nur selbst von kapitalistischer Ausbeutung befreien – ohne und gegen die Gewerkschafts- und Politbonzen. Zurzeit ist wegen dem reproduktiv-sozialreformistischen Bewusstsein der übergroßen Mehrheit der Klasse nur ein Kampf zur Verringerung der Ausbeutung möglich. Aber notwendig ist jetzt ein Klassenkampf dagegen, dass das Proletariat zum Wohle des Profits schutzlos der Coronaviruspandemie ausgesetzt wird und die kapitalistische Krise ausbaden soll. Dass dieser größtenteils in der BRD ausbleibt, zeigt das relativ niedrige Niveau des Klassenkampfes in diesem Land.

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Inhalt

Einleitung

Die materialistische Dialektik als geistiger Ausdruck des Klassenkampfes

1. Die materialistisch-dialektische Denkmethode
2. Die idealistische Dialektik Hegels
3. Der naturwissenschaftliche Materialismus als technokratische Ideologie der Bourgeoise
4. Der Marxismus als kleinbürgerlich-radikale Ideologie
5. Der Marxismus-Leninismus als Ideologie bürgerlicher Partei- und Staatsapparate
6. Die materialistische Dialektik als geistige Waffe der sozialen Revolution

Zur Dialektik des Klassenkampfes

I. Das dialektische Dreiecksverhältnis Kapital – Lohnarbeit – Politik
1. Einheit und Kampf von Kapital und Lohnarbeit
2. Bürgerliche Politik als scheinneutraler Schiedsrichter der Konkurrenz- und Klassenkämpfe
3. Das Nationalkapital als Kooperation und Konkurrenz der Einzelkapitale
4. Einheit und Kampf von Staat und Lohnarbeit
II. Der Klassenkampf
1. Notwendigkeit und Zufall des Klassenkampfes
2. Der reproduktive Klassenkampf als Bewegungsform des dialektischen Widerspruches Kapital – Lohnarbeit
3. Sozialkonservative, modernisierende und revolutionäre Tendenzen des reproduktiven Klassenkampfes
4. Sein und Bewusstsein des Proletariats
III. Institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung
1. Die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung als bürokratisch entfremdeter Ausdruck des reproduktiven Klassenkampfes
2. Die Dialektik aus Sozialreformismus und Konterrevolution/Reaktion
3. Die Dekadenz von Parteimarxismus und Anarchosyndikalismus als sozialrevolutionäre Theorien
4. Die revolutionäre Potenz der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats
IV. Die mögliche revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats
1. Die objektiv-subjektive revolutionäre Situation
2. Der qualitative Umschlag von der proletarisch-klassenkämpferischen zur klassenlosen Selbstorganisation
3. Die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats als mögliche Aufhebung des dialektischen Dreiecksverhältnisses
Warenproduktion – Politik – Lohnarbeit

Krisenhafte Kapitalvermehrung und Klassenkampf

I. Die Krisenmöglichkeiten der Kapitalvermehrungsspirale
1. Die Kapitalvermehrungsspirale
2. Rohstoffkrisen
3. Überausbeutung des Proletariats/Arbeitskräfteknappheit
4. Technologische Krisen
5. Profitproduktionskrisen
6. Profitrealisationskrisen
7. Finanzkrisen
II. Klassenkampf und Kapitalvermehrung
1. Der reproduktive Klassenkampf in der beschleunigten Vermehrung des Kapitals
2. Kapitalistische Krise und Klassenkampf
III. Das Proletariat als Objekt und Subjekt der kapitalistischen Krise
1. Das Proletariat als Objekt der Krise
2. Das Proletariat als Subjekt der Krise

Die revolutionäre Potenz der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats

Der antipolitische und gewerkschaftsfeindliche Kommunismus orientiert konsequent auf die klassenkämpferische Selbstorganisation des Proletariats gegen Kapital, Staat sowie die bürgerlichen Partei- und Gewerkschaftsapparate der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Proletarische Selbstorganisation ist ein dialektischer Widerspruch. Er entfaltet sich aus der gegensätzlichen Einheit der beiden Pole „Proletariat“ und „Selbstorganisation“. Im Normalfall der kapitalistischen Ausbeutung, der politisch-staatlichen Verwaltung und der gewerkschaftlich gezähmten „Tarifauseinandersetzung“ ist das Proletariat das Objekt der bürgerlich-bürokratischen Fremdorganisation. Durch das demokratische Streikrecht entscheiden selbst über das wichtigste proletarische Kampfmittel, die Arbeitsniederlegung, die Gewerkschaftsapparate – deren hauptamtlichen Bonzen sozial selbst nicht zum Proletariat gehören (siehe Kapitel III.1 dieser Schrift).
Nur durch und im Klassenkampf kann sich das Proletariat kollektiv selbst für seine eigenen Interessen und Bedürfnisse organisieren. Gewerkschaften können und wollen nicht den konspirativ-illegalen Alltagsklassenkampf (siehe zu diesem Kapitel II.4 in diesem Text) organisieren. Dieser ist also selbstorganisiert. Deshalb entfaltet er seine ganze revolutionäre Potenz. ArbeiterInnen hören faktisch nicht auf ihre Bosse, machen Produktionsmittel – die nicht ihnen gehören, sondern kapitalistisches Eigentum darstellen – kaputt oder eignen sie sich – wo das möglich und sinnvoll ist – produktiv an. Auch kleinere Produktionsmittel und Produkte können innerhalb des Produktionsprozesses angeeignet werden, indem sie durch eine Ortsverlagerung in die Haushalte des Proletariats gelangen.
Doch die vorübergehenden Zerstörungen der kapitalistischen Produktionsmittel – dieser gewaltigen Zerstörungsmittel des Kapitals gegen Natur und Mensch – können die Produktionsweise nicht aufheben. Die Umverteilung kleinerer Produktionsmittel und Produkte können nicht verhindern, dass der Großteil des gesellschaftlichen Reichtums von der Bourgeoisie angeeignet wird. Das faktische Nichthören auf die Bosse ändert nicht viel an der Tatsache, dass sie offiziell das Sagen haben. Das Proletariat bleibt trotz des konspirativ-illegalen Alltagsklassenkampfes als Ausdruck dessen aktiver Selbstorganisation im Großen und Ganzen Objekt der kapitalistisch-staatlichen Fremdorganisation. Bleibt die Selbstorganisation proletarisch, kann sie die kapitalistische Fremdorganisation nicht zerstören. Die Selbstorganisation muss also ihren proletarischen Charakter verlieren, um die kapitalistische Fremdorganisation aufheben zu können. Das Proletariat kann die kapitalistische Fremdorganisation nur über sich aufheben, indem es sich selbst revolutionär aufhebt. Die klassenkämpferische Selbstorganisation des Proletariats ist eine gewaltige revolutionäre Tendenz. Das Proletariat lehnt sich gegen die kapitalistische Fremdorganisation auf, es zeigt, dass es viel mehr ist als menschliches produktives Kapital, dass den Mehrwert für die Bourgeoisie und ihr eigenes Elend produziert. Doch solange sich der proletarische Klassenkampf reproduktiv im Rahmen des Kapitalismus bewegt, kann die Selbstorganisation der Ausgebeuteten nicht ihr gesamtes revolutionäres Potenzial entfalten. Im reproduktiven Klassenkampf bewegt sich der dialektische Widerspruch zwischen den Polen „proletarisch“ und „Selbstorganisation“. Er kann nur progressiv durch die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats gelöst werden – durch den qualitativen Umschlag von der proletarischen in die klassenlose Selbstorganisation (siehe Kapitel IV.2 dieser Schrift).
Die militante Form der klassenkämpferischen Selbstorganisation ist die Diktatur des Proletariats. Diese ist keine Staatsform, wie der Parteimarxismus behauptet, sondern der militante Kampf des Proletariats gegen Kapital und Staat. Sie ist Zwang und Gewalt des Proletariats, die dieses im Kampf mit dem kapitalistischen Management sowie den betrieblichen (Werkschutz) und staatlichen Repressionsorganen (Bullen, Armee, Geheimdienste) ausübt. Die proletarische Diktatur ist eine gewaltige Zuspitzung des dialektischen Widerspruches der klassenkämpferischen Selbstorganisation. Die Geschlagenen und Getretenen der kapitalistischen Produktionsweise schlagen und treten zurück! Proletarische Diktaturen entwickeln sich bereits ansatzweise im reproduktiven Klassenkampf und erreichen in der möglichen sozialen Revolution ihren Höhepunkt. Möglicherweise zerschlägt die revolutionäre Diktatur des Proletariats den Staat und geht prozesshaft in die klassen- und staatenlose Gesellschaft über.
Ansätze der proletarischen Selbstorganisation und Diktatur entwickeln sich schon in noch offiziell von den Gewerkschaften organisierten Klassenkämpfen. Besonders in länger andauernden Arbeitsniederlegungen entwickelt sich die Doppelherrschaft aus hauptamtlichen GewerkschaftsfunktionärInnen und dem selbstorganisierten Proletariat. Gewerkschaftliche Vertrauensmänner und -frauen, das sind ProletarierInnen in ehrenamtlichen Gewerkschaftsfunktionen, stehen zwischen den Gewerkschaftsapparaten und der klassenkämpferischen Selbstorganisation. Oft sind sie subjektiv ehrliche AktivistInnen, sie versuchen die Gewerkschaftsstrukturen für den kollektiven Kampf ihrer Klasse zu nutzen. Dabei entstehen bei ihnen selbst Illusionen in die Gewerkschaften, die sie auch ihren KollegInnen und Klassengeschwistern vermitteln. Auch werden sie von den hauptamtlichen GewerkschaftsfunktionärInnen ausgenutzt, um die Organisation im Betrieb zu verankern. Proletarische RevolutionärInnen dürfen auch keine ehrenamtlichen Funktionen in den Gewerkschaften übernehmen, damit ihre vollständige praktische und geistige Unabhängigkeit von diesen bürgerlich-reaktionären Organisationen gewahrt bleibt.
Oft streben die einfachen Gewerkschaftsmitglieder und ehrenamtlichen FunktionärInnen im Klassenkampf nach radikaleren Aktionen als die hauptamtliche Bonzokratie. Wir wollen die Doppelherrschaft aus proletarischer Selbstorganisation und Gewerkschaftsbürokratie an Hand des sechsmonatigen Streiks bei Gate Gourmet Düsseldorf vom 7. Oktober 2005 bis 7. April 2006 erläutern. Die Arbeitsniederlegung wurde offiziell von der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) organisiert. Doch vor dem Streik hatten klassenkämpferische KollegInnen bei Gate Gourmet bereits eine konspirative Untergrundorganisation, das U-Boot, gegründet. Dieses U-Boot kämpfte gegen die Ansätze der NGG-FunktionärInnen, den Ausstand zu beenden. Auch traten die AktivistInnen des U-Bootes dafür ein, den legalistischen Rahmen der Gewerkschaft im Kampf gegen die StreikbrecherInnen zu verlassen: „Es gab unter den Streikenden durchaus Überlegungen, wie sie ihren Streik effektiv machen könnten. Eine Zeit lang wurde über die Besetzung des Betriebes nachgedacht: Wäre es möglich, mit einer größeren Gruppe reinzugehen, die Arbeitsplätze zu besetzen und die Streikbrecher am Arbeiten zu hindern? Auch Sabotage und direkte Aktionen gegen Streikbrecher waren im Gespräch.
XXX: ,Ich hatte ein bisschen härtere Ideen, die Streikbrecher draußen ein bisschen aufzuhalten, richtig Druck zu machen, ihnen Prügel anzudrohen, so dass sie wirklich Angst bekommen. Ihnen zu sagen: ,Ich weiß, in welchem Hotel du bist, wir werden dich kriegen.‘ Und so weiter. Ich wollte niemand verletzen, nur ein bisschen Druck machen, ein bisschen Angst machen. Aber das ging nicht wegen der Gesetze in Deutschland. Wir leben nicht in der Dritten Welt. In meinem Land würden die sich mit der Pistole in der Hand oder mit dem Messer da hinstellen, so dass die Leute wirklich Angst bekommen und sofort abhauen. Ich hab ein paar Mal mit Leuten darüber diskutiert, aber viele von denen haben gar kein Interesse daran gehabt.‘
XXX: ,Die erste Blockade, die wir gemacht haben, damals als wir nach Hannover gefahren sind (18.11.05), da war ich dabei, da wär ich fast ausgeflippt. Später hab‘ ich gedacht: Wär ich doch auf den LKW gesprungen, durch das kleine Tor auf die Ladefläche, Klappe auf, und alles auf den Boden schmeißen. Aber an so etwas denkt man erst später.‘
XXX: ,Von dem Gewerkschaftssekretär hab ich immer die Sprüche zu hören gekriegt: ,Nicht mit Gewalt, wir lösen das irgendwie anders…‘. Ohne Gewalt kannst du so was nicht lösen. Da muss Gewalt drin sein. Ich hab‘ in der Türkei auch Streiks gesehen, nicht als Arbeiter mitgemacht, aber als Linker. Die haben uns immer gerufen, wo Streik war. Wir haben da viele Leute verkloppt. Wenn die reingehen an den Arbeitsplatz, während die draußen streiken, dann haben die uns Bescheid gesagt, und wir waren alle da. Da haben wir Streikbrecher verprügelt, ohne Gnade, also nicht so sehr… aber die konnten sechs Wochen nicht laufen. Die Kollegen haben da viel rausgeholt, das waren Bergleute…
Aber hier… jedes Mal, wenn wir gesagt haben ,Wir machen morgen was‘, dann hieß es von der Gewerkschaft: ,Nee, um Gottes Willen, das dürft ihr nicht!‘ Wir wollten nachts reingehen mit paar Kollegen, an die LKWs. Die Security hätte uns gar nicht gesehen. So was haben wir geplant. Aber es hieß: ,Nein, so was gibt‘s nicht.‘ Ich habe vorgeschlagen, das wir das unter uns machen, und dass nicht der Gewerkschaft sagen. Dass wir das ganz geheim machen. Aber dann hieß es: ,Wenn die uns sehen, dann kriegt die Gewerkschaft eins drüber, und dann kriegen wir kein Geld mehr.‘ Davor hatten wir ja auch Schiss.“ (Flying Pickets, …auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet, Assoziation A, Berlin – Hamburg 2007, S. 153/154.)
Wir sehen hier deutlich, dass Deutschland ein Entwicklungsland des militanten Klassenkampfes ist. Es ist eine revolutionäre Tendenz im reproduktiven Klassenkampf, wenn ArbeiterInnen praktisch das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen. Doch die Gewerkschaften sind in die kapitalistische Warenproduktion und in die durch staatliche Gesetze regulierte Wirtschaftsdemokratie eingebunden. Besonders die deutschen Gewerkschaften erkennen sklavisch das staatliche Gewaltmonopol an, selbst wenn sie von diesen eingeschränkt oder sogar zerschlagen werden, wie im Mai 1933. Das staatliche Gewaltmonopol in Frage zu stellen, heißt das Streikmonopol der Gewerkschaften in Frage zu stellen.
Wir sehen hier deutlich, welch disziplinarischen Charakter das gewerkschaftliche Streikgeld hat. Wir haben oben geschrieben, dass dieses Geld auch für sozialrevolutionäre ArbeiterInnen ein Grund sein könnte, diesen Streikbrecherorganen des Kapitals beizutreten, aber auch geschrieben, dass dies nicht die Aktivitäten einschränken darf. Doch die Angst vor dem Nichtauszahlen des Streikgeldes hat bei Gate Gourmet die Aktivität gelähmt. Hier hätte mensch auch auf die finanzielle Solidarität des Proletariats setzen sollen, auf die organisierte Sammlung von Solidaritätsgeldern, falls die Gewerkschaft bei militanten Aktionen kein Streikgeld mehr gezahlt hätte. Auch kann die Forderung nach Bezahlung der Streiktage durch das bestreikte Unternehmen zum Teil des Klassenkampfes gemacht werden. Doch leider kam es bei Gate Gourmet noch zu keiner solchen Radikalisierung des Kampfes.
Das Monopol der Gewerkschaft NGG konnte nicht gebrochen werden, die proletarische Untergrundorganisation konnte sich nicht in einer sichtbaren proletarischen Selbstorganisation, welche die kollektive Meinung der Mehrheit der ArbeiterInnen zum Ausdruck brachte, auflösen, der Kampf blieb größtenteils isoliert… Und doch gab es die Ansätze der proletarischen Selbstorganisation, welche zwar die Gewerkschaft noch nicht ersetzen konnte, aber doch teilweise vor sich hertreiben konnte und zum Beispiel den Abbruch des Vollstreiks im Januar 2006 verhindern konnte.
Das „U-Boot“ konnte also nicht in einer breiteren Form der proletarischen Selbstorganisation aufgehen. Ein Kollege des U-Bootes wurde zum Pressesprecher der Streikenden und übte so Druck auf die Gewerkschaftsbürokratie aus: „Ohne die eigenständige Aktivität einzelner KollegInnen wäre der Streik sicher nicht so lange durchgehalten worden. Das ,U-Boot‘ agierte als informelle Streikleitung. Nicht als geschlossene Gruppe, sondern als Netzwerk von KollegInnen, die sich aktiv selbst um ihren Streik kümmerten. Sie hielten sich stundenlang am Streikzelt auf, um immer wieder den Zusammenhalt herzustellen und mit den KollegInnen zu diskutieren – ,Was ich da für Volksreden gehalten habe, damit die immer in die richtige Richtung marschieren!‘ Und sie nahmen der NGG manche Aufgaben, wie die Pressearbeit aus der Hand.
XXX: ,Die Aktivisten, das waren höchstens mal sieben Leute, die den Streik äußerst aktiv gesteuert haben. Wir haben uns aufgeteilt, das war noch nicht mal geplant, wer welchen Bereich übernimmt. Das ist chaotisch gelaufen, aber ich bin stolz, so einen Kollegen wie X. kennengelernt zu haben. Vorher kannte ich den auch, aber als Arbeitskollegen. Und dann kam diese perfekte Zusammenarbeit. Wir brauchten nie irgendwas abmachen. Wir hatten keine Extra-Treffen, überhaupt nichts. Jeder kannte seine Schwächen und seine Stärken, und hat automatisch das gemacht, was richtig ist. Wenn wir hinterher was absprechen wollten, ist das meistens in die Hose gegangen. Das war das Interessante! Aber was wir vorher schon gemacht haben, wenn wir nachher darüber gesprochen haben, dann passte das zusammen.
X. war Frühaufsteher. Ich gehe nachts hinein, bis zum Morgengrauen, aber dann brauche ich ein bisschen Zeit, bis ich anlaufe. Deswegen hat er die Stimmung vom Morgen aufgefangen. Der hat die Stimmung von den Leuten an mich weitergegeben. X. und ich haben die Hauptrolle gespielt, aber doch nicht die Hauptrolle, weil wir das hinten rum gemacht haben. Was die Gewerkschaft gemacht hat, das war trotz der ihrer fehlenden Erfahrung super. Aber die sind an Grenzen gestoßen. Als wir das festgestellt haben, haben wir gedacht, wir müssen das ändern. Wir haben das immer wieder geändert. Wir mussten die Stimmung immer unheimlich schnell auffangen, um die Manipulationsgefahr, die aus manchen Ecken kam, vermeiden zu können. Wir haben die Schichten eingeteilt, und wir haben an den entsprechenden Zeitpunkten entsprechende Leute eingesetzt. Damit das nicht schiefläuft. Wenn ein Virus einmal anfängt, wissen wir, was passiert, das kannst du so schnell nicht wieder retten. Gerade wo wir nicht gesund sind.‘
Der ,neoliberale Virus‘ hatte sich vor dem Streik im Betrieb verbreitet: KollegInnen haben sich negativ verändert, sind zu KonkurrentInnen geworden, waren neidisch auf andere und nur auf den eigenen Vorteil bedacht. In der Streikroutine, in der Streiken fast zur lästigen Arbeit wurde, kamen solche Haltungen wieder durch.
XXX: ,Nach 150 Streiktagen gibt es jetzt schon wieder so kleine Reibereien: ,Der macht nur Frühschicht, wieso macht der keine Spätschicht, wieso arbeitet der nicht am Wochenende?‘ Diese Mentalität rutscht langsam wieder rein. Aber dann kommen der X. und ich natürlich mit der Spritze und machen den wieder weg den Virus.
Das war der schwierigste Job überhaupt, dass du dir die einzelnen Leute, die Unruhe gestiftet haben, geschnappt hast und denen gleich den Nährstoff entzogen hast. Da musstest Du immer sehen, dass Du die Belegschaft auf einem bestimmten Level hältst, immer schön in eine bestimmte Richtung pushst. Die Gewerkschaft hat das richtig geärgert, dass wir die Belegschaft so im Griff gehabt haben. Die haben ja auch versucht, die Belegschaft zu beeinflussen.‘
Die NGG gab während des Streiks eine Streikzeitung heraus, die am Streikzelt verteilt wurde und im Internet zu lesen war. In den ersten zweieinhalb Monaten erschien sie täglich, danach zwei bis dreimal pro Woche. Sie war schön gemacht: Auf der Vorderseite gab es die neuesten Informationen, und auf der Rückseite wurde unter der Überschrift ,Menschen, die dahinter stehen‘ jeweils eine oder einer der Streikenden mit Foto vorgestellt. An der Zeitung waren streikende Kollegen maßgeblich beteiligt. Sie gaben ihre Beiträge und Fotos einer Hauptamtlichen. Aber nicht alles, was die Streikenden einreichten und gerne in der Zeitung gesehen hätten, fanden sie nachher dort wieder. Sie sprachen von ,Zensur‘. Die NGG nutzte die Streikzeitung, um ihre Linie zu propagieren und Kritik an den Streikenden zu äußern. Im November warnte sie vor ,Aktionismus‘ und am 14. März ermahnte sie zu mehr ,Streikdisziplin‘. Diese Rüge sehen Kollegen als Retourkutsche auf die Streikversammlung am Vortag, bei der die Gewerkschaft von den Streikenden massiv kritisiert wurde. Die Tarifkommission forderte danach, ,dass die Streikzeitung bei uns durch die Zensur geht‘. Außerdem war aufgefallen, dass die Pressearbeit der Gewerkschaft mit der Zeit schwächer wurde. Da sie den Streik lieber beendet hätte, hatte sie kein Interesse mehr an großer Öffentlichkeit. Kollegen übernahmen diese Aufgabe und nutzten ihre Kontakte zur Presse, um die Gewerkschaft zur Fortsetzung des Streiks zu drängen.
XXX: ,T. G. (Hauptamtlicher der Bezirksleitung) hat gedroht: ,Dann brech ich eben den Streik ab.‘ Satzungsgemäß geht das. Dann hab‘ ich immer gesagt: ,Thomas, tu das. Ich kümmer‘ mich dann um den Rest. Ich hab‘ jetzt mittlerweile so viele Pressekontakte, gerade jetzt in der Streikwelle, wenn Du den Streik abbrechen willst… das ist natürlich ne gute Werbung für die NGG, wenn da stehen würde: Erste Gewerkschaft bricht Streik ab.‘ Da hat er nachher die Hände von gelassen. Irgendwann, so etwa drei Verhandlungen vor Schluss, hat der auch begriffen, dass nichts zu machen ist, ohne uns dabei zu haben. Das hat der begriffen.
Jedes Mal, wenn der anfing mit Streikabbruch, Streiktaktik ändern, hab‘ ich mein Büchelchen aufgeschlagen mit den ganzen Visitenkarten von der Presse. Da hat der die Krise gekriegt, da ist der wahnsinnig geworden. Dann hat das Telefon geklingelt – das war auch in einer kritischen Phase gewesen – da war jemand vom Express dran: ,Hach‘, hab ich gesagt, ,ich weiß da jetzt auch nicht so, ich geb‘ mal die Hauptamtliche.‘ Da war die in Not. Der hat ihr dann auch die Frage gestellt: ,Wann brecht ihr den Streik ab?‘ Und die waren nachher gar nicht mehr in der Lage gewesen, zu sagen, wir brechen ab, wir ziehen das in Erwägung. Die mussten einfach Position beziehen und mussten sagen: ,Wir machen den Streik so lange, wie er geht.‘“ (Ebenda, S. 156-158.)
Wir sehen deutlich die Doppelherrschaft bei der Führung des Streiks zwischen Gewerkschaftsbürokratie und U-Boot. Die soziale Schwäche der Streikenden (fehlende Ausdehnung des Kampfes auf andere Gate-Gourmet-Standorte und darüber hinaus, mangelnder Grad der Radikalisierung) machte es unmöglich, der Gewerkschaft offensichtlich die Führung des Streiks abzunehmen. Auch die U-Boot-Mitglieder waren in der Gewerkschaftsfrage nicht frei von Inkonsequenzen und Illusionen. Leider ist bei ihnen auch Spuren einer für militante/revolutionäre ArbeiterInnen gefährlichen Eigenschaft zu spüren: Avantgarde-Hochmut. Der kommt besonders in folgender Aussage zum Ausdruck: „Die Gewerkschaft hat das richtig geärgert, dass wir die Belegschaft so im Griff gehabt haben. Die haben ja auch versucht, die Belegschaft zu beeinflussen.“ Militante/revolutionäre ArbeiterInnen haben aber nicht mit den Gewerkschaftsbonzen um die Führung der KollegInnen zu konkurrieren, sondern sie müssen für die kollektive Selbstorganisation der Belegschaft eintreten. Nicht die Belegschaft im Griff zu haben ist ein Gradmesser für militante/revolutionäre Betriebsaktivität, sondern wie weit es gelingt mit dazu beizutragen, dass sich die Belegschaft selbst im Griff hat. Diese grundsätzliche Orientierung auf die kollektive Selbstorganisation schließt Repression gegen einzelne reaktionäre KollegInnen nicht aus, wenn diese zum Beispiel durch rassistisches und sexistisches Verhalten den Klassenkampf behindern.
Das U-Boot war eine konspirative Organisation klassenkämpferischer KollegInnen, aber keine bewusst gewerkschaftsfeindliche sozialrevolutionäre Betriebsgruppe. So waren die KollegInnen auch Teil der Tarifkommission. Damit übernahmen sie Funktionen innerhalb der Verwaltung der Lohnarbeit. Dies dürfen bewusste SozialrevolutionärInnen auf keinem Fall tun. Das U-Boot ist aber in ihrer konspirativen Organisation ein Vorbild für sozialrevolutionäre Betriebsgruppen. Für sozialrevolutionäre Gruppen, deren organisatorische Grundlage nicht der Betrieb ist, empfiehlt sich eine halblegal-halbkonspirative Organisationsform. Sozialrevolutionäre Gruppen – besonders die Betriebsgruppen – sind der bewusste geistig-praktische Ausdruck der klassenkämpferischen Selbstorganisation des Proletariats. Sie verkörpern die Selbstorganisation der proletarischen und intellektuellen RevolutionärInnen. Sozialrevolutionäre Gruppen dürfen weder wie Parteien noch wie Gewerkschaften organisiert sein. In ihnen darf es keine hauptamtlichen Funktionen geben. Sie müssen die größtmögliche individuelle und kollektive Eigenaktivität aller Mitglieder anstreben.
Sozialrevolutionäre Gruppen treten bereits im reproduktiven Klassenkampf dafür ein, dass das Streikmonopol der zentralen Gewerkschaftsapparate gebrochen wird. Höchster Ausdruck der proletarischen Selbstorganisation im reproduktiven Klassenkampf ist der wilde Streik, die Arbeitsniederlegung ohne und gegen den Willen der zentralen Gewerkschaftsbonzen. Höhepunkte des selbstorganisierten Klassenkampfes in der BRD waren die wilden Streikwellen im September 1969 und im Jahre 1973, das proletarische 1968 in diesem Land. Bedeutend war auch der sechstägige selbstorganisierte Ausstand bei Opel Bochum im Oktober 2004. In kleineren und auf einzelne Betriebe beschränkte wilde Ausstände kommt die klassenkämpferische Selbstorganisation der Streikenden oft informell zum Ausdruck. Dauern die Arbeitsniederlegungen jedoch länger an und/oder muss der selbstorganisierte Klassenkampf mehrerer Betriebe koordiniert werden, dann ist die Bildung eines gewerkschaftsunabhängigen Streikkomitees notwendig. In letzteren ist auch keimhaft eine organisatorische Alternative zu den Gewerkschaften verkörpert. Allerdings nur für die Dauer eines Ausstandes. Ein unabhängiges Streikkomitee ohne Streik ist wie ein Fisch auf dem Trockenem.

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Neue Broschüre: Der Privatkapitalismus in Russland und Osteuropa (1985-2020) https://swiderstand.blackblogs.org/2020/03/15/neue-broschure-der-privatkapitalismus-in-russland-und-osteuropa-1985-2020/ Sun, 15 Mar 2020 22:16:40 +0000 http://swiderstand.blackblogs.org/?p=257 Unsere neue Broschüre „Der Privatkapitalismus in Russland und Osteuropa (1985-2020)“ (ca. 126 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

I. Die Transformation zum Privatkapitalismus
1. Der Kapitalismus
2. Der sowjetisch-osteuropäische Staatskapitalismus
3. Die Todeskrise des sowjetisch-osteuropäischen Staatskapitalismus
4. Die Privatisierung des Kapitals
5. Das soziale Elend der Transformation
6. Die pluralistisch-demokratische Mehrparteien-Diktatur

II. Die Stellung Russlands und Osteuropas im Weltkapitalismus
1. Russland und Osteuropa in der globalen Offensive des Privatkapitals
2. Die relativ untergeordnete Integration Russlands und Osteuropas in den Weltkapitalismus
3. Die Ostexpansion von NATO und EU
4. Vom sowjetischen zum russischen Imperialismus
5. Russland und der Westen: Von der bedingten Kooperation zum zweiten Kalten Krieg

III. Klassenkämpfe
1. Das Proletariat als Manövriermasse der proprivatkapitalistischen Kräfte
2. Klassenkämpfe in der Privatwirtschaft
3. Klassenkämpfe im staatlichen Sektor
4. Die mögliche soziale Revolution in Russland und Osteuropa

Die Privatisierung des Kapitals

In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens sowie in den anderen Ländern Osteuropas transformierte sich die Staatsbourgeoisie in die privatkapitalistische Bourgeoisie. In Russland rekrutierten sich die neuen PrivatkapitalistInnen aus der Wirtschaftstechnokratie und aus dem „kommunistischen“ Politbonzentum – besonders aus dem Komsomol, dieser jungen Garde des Privatkapitals. Karl-Heinz Gräfe schrieb darüber: „Die Moskauer Soziologin Olga Krystanovskaja ermittelte (Stand 1994), dass während der Perestroika (1985-1991) der Kern der neuen wirtschaftlichen Elite vor allem aus folgenden sozialen und politischen Gruppen kam: 23 Prozent waren Direktoren größerer Betriebe und Angestellte in Ministerien (Promysleniki), 17 Prozent Komsomolfunktionäre, 15 Prozent Beschäftigte von Forschungseinrichtungen, 8 Prozent Angehörige aus wichtigen Ministerien sowie der obersten Schicht der Kultur- und Wissenschaftsintelligenz.“ (Karl-Heinz Gräfe, Die Herausbildung des oligarchischen Kapitalismus in Russland, in: Z., Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 99, September 2014, S. 34/35.)

Die erste Welle der Privatisierung des russischen Kapitals erfolgte von 1992 bis 1994. In dieser Phase sollten 20.000 von 25.000 Mittel- und Großbetrieben privatisiert werden. Um die Privatisierung des Kapitals nicht als das erscheinen zu lassen was sie war, nämlich die Geburt von PrivatkapitalistInnen als Kern der russischen Bourgeoisie, wurde vom Jelzin-Regime das Märchen vom „Volkskapitalismus“ inszeniert. So konnten die Belegschaften Anteile ihrer Betriebe erwerben. Diese Anteile lagen bei 40 Prozent. Außerdem waren 25 Prozent nicht handelbare Anteilsscheine auf mögliche Gewinnbeteiligungen der Firmen, die in Form von Dividenden ausgezahlt wurden. Dadurch wurde die Anzahl der sich in den Händen der Belegschaften befindenden stimmberechtigten Aktien auf 15 Prozent reduziert. Die übrigen 60 Prozent blieben in Besitz des russischen Staates oder wurden privatisiert. Außerdem waren die Belegschaftsaktien nicht namentlich gebunden, sie konnten also ohne Probleme weiter verhökert werden. Selbstverständlich entstand durch diese Art „Volkskapitalismus“ ein ungleiches Verhältnis zwischen dem Betriebsmanagement und den lohnabhängigen Belegschaften. Er begünstigte natürlich die ManagerInnen. Oft kauften die letzteren der Belegschaft ihre Aktien wieder ab und entwickelten sich so zu PrivatkapitalistInnen. Auch wurden durch die Hyperinflation – die wir weiter unten genauer beschreiben werden – der Nominalwert der Anteilsscheine faktisch wertlos, so dass viele Lohnabhängige diese unter ihrem Wert weiterverkauften.
Bis in den April 1994 wurden 80 Prozent der zu privatisierenden Betriebe in Aktiengesellschaften umgewandelt. Die Entstaatlichung des russischen Kapitals wurde erfolgreich organisiert. Im Jahre 1995 trug der Staat nur noch 55 Prozent zum russischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Die meisten Privatfirmen gingen aus der Entstaatlichung des Kapitals hervor. Der Anteil neu gegründeter Privatunternehmen an der Wertschöpfung betrug lediglich 20 Prozent.
Die erste Welle der Privatisierung des russischen Kapitals war mit der Liberalisierung der Wirtschaft verbunden. Dazu gehörte auch die Freigabe der Preise, die vorher vom Staat zentralbürokratisch festgelegt wurden. Bereits am 2. Januar 1992, also am zweiten Tag nach der Auflösung der Sowjetunion, gab der russische Staat die Verbraucherpreise – bis auf wenige Lebensmittel (Brot und Milch) sowie Dienstleistungen (öffentliche Verkehrsmittel) – frei. Die Folge war eine Hyperinflation. Diese betrug im Jahre 1992 874 Prozent und 1993 307 Prozent.
Auch das staatliche Außenhandelsmonopol wurde durch die privatkapitalistische Liberalisierung der Wirtschaft gebrochen. Privatfirmen beteiligten sich am Außenhandel. Hier waren die Übergänge von legalen ökonomischen Prozessen und Wirtschaftskriminalität besonders fließend. Der russische Staat vergab Lizenzen an private Kapitale zum Import von Technologie und Know-how. Durch den Erhalt der Lizenzen verfügten die Privatfirmen über gewisse Privilegien. So konnten sie zum Beispiel ausländische Währungen erwerben, um damit den Import ausländischer Waren zu finanzieren. Sowohl die Vergabe als auch der Entzug der Lizenzen durch die russische Regierung erfolgte nach undurchsichtigen Kriterien. Nach verschiedenen Schätzungen wurden zwischen 1992 und 1994 20 Prozent der gesamten russischen Erdöl- und 1/3 der der Metallproduktion aus Russland rausgeschmuggelt. Zur Drehscheibe dieses Schmuggels entwickelte sich das Baltikum.
Im Zuge der Transformation entwickelten sich in Russland auch Privatbanken. Neben den privatisierten staatlichen Banken gründeten sich auch neue private Geldinstitute. Deren Anzahl stieg bis 1995 auf über 2.500 an. Das Finanzkapital vermehrte sich überwiegend durch den Handel mit Devisen und russischen Staatsanleihen. Auch bildeten sich internationale Joint Ventures. So war die deutsche Dresdner Bank durch ihre Tochtergesellschaft Dresdner Kleinwort schon in den frühen 1990er Jahren auf dem russischen Kapitalmarkt vertreten. Die österreichische Raiffeisenbank gründete 1996 ihre Niederlassung in Russland.
Zwischen 1995 und 1997 entwickelte sich die zweite Privatisierungswelle in Russland. Diese wurde von der russischen Regierung mit Verpflichtungen gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF) begründet. Als sich der russische Staat immer stärker verschuldete, bekam er vom IWF Kredite. So wurde die zweite Privatisierungswelle mit der Konsolidierung des russischen Staatshaushaltes begründet. Denn die Kreditvergabe des IWF an Russland war wie üblich mit Forderungen nach Etatkürzungen und Privatisierungen verbunden. Auf diese Weise trug der IWF zur weltweiten Offensive des Privatkapitals bei (siehe Kapitel II.1) – und zur globalen Verelendung des Proletariats. Das Jelzin-Regime konnte sich wiederum bei der ideologischen Rechtfertigung der zweiten Privatisierungswelle hinter dem IWF verstecken.
Bei dieser zweiten Welle der Privatisierung des russischen Kapitals konnten Privatbanken Aktienpakete staatlicher Unternehmen erwerben, indem sie dem Staat Kredite zur Haushaltsfinanzierung anboten. Dies geschah in so genannten Pfandauktionen (Aktien-Kredit-Swaps, AKS), die den Beteiligten viele Manipulationsmöglichkeiten bot. Ausländisches Kapital war dabei nicht zugelassen. So mästete der russische Staat auch durch die AKS ein einheimisches Privatkapital. Die Mindestangebote für die zu ersteigernden Betriebe waren sehr niedrig angesetzt. Auch durften die russischen Banken, die die Auktion organisierten, selbst mitbieten. Außerdem besaßen sie das Recht, die Gebote der Konkurrenz aus technischen Gründen zu disqualifizieren. Auf diese Weise wurden bis 1998 zwölf Aktienpakete verkauft. Der russische Staat nahm durch diese Privatisierung des Kapitals rund 700 Millionen Dollar ein.
Die Mehrheit der Aktienpakete übernahmen Banken. Deren Gebote gingen nicht 15 Prozent über das Mindestgebot hinaus. In einem Großteil der Fälle entsprach das noch nicht einmal dem Wert von zwei Jahresgewinnen der ersteigerten Firmen. Ein Beispiel für die zweite Welle der Privatisierung ist jene des Bergbau- und Metallurgiekonzerns Norilsk Nikel. Die Auktion wurde von der Oneksimbank durchgeführt. Erworben wurden 51 Prozent von der Norilsk Nikel – ebenfalls von der Oneksimbank, für lediglich 170 Millionen Dollar. Dagegen betrug der Jahresgewinn des Konzerns 1995 rund 3. Milliarden Dollar.
Der russische Staat war in der ursprünglichen Privatisierung des Kapitals dessen Gewaltapparat sowohl gegen konkurrierende Kapitalfraktionen, die eine langsamere und „behutsamere“ Entstaatlichung der Ökonomie anstrebten (siehe Kapitel I.6), als auch gegen das klassenkämpferische Proletariat (III.4). Nachdem die ziemlich „wilde“ Privatisierung durch die AKS eine mächtige und superreiche Schicht von Oligarchen als herrschendem Kern der russischen Bourgeoisie hervorbrachte, verbot der Staat diese im Jahre 1997. Bei der Durchführung der Privatisierungen in den 1990er Jahren erwies sich der russische Staat als politischer Gewaltapparat der entstehenden PrivatkapitalistInnen – und besonders deren mächtigsten Fraktion, den Oligarchen. Diese bekamen im Jelzin-Regime auch immer mehr politische Macht (siehe Kapitel I.6).
Typisch für die gewaltige sozialökonomische Macht der russischen Oligarchen sind große Finanzholdings, die verschiedene Industriebranchen miteinander verbinden. Ihre wirtschaftliche Macht beruht vorwiegend auf Banken beziehungsweise Finanzholdings, Rohstofffirmen und Medienkonzerne. Letzteres bedeutete, dass die Oligarchen auch eine große Rolle in der kapitalistischen Ideologieproduktion spielten. Innerhalb des privatisierten russischen Kapitals kam es zu einer enormen Konzentration und Zentralisation der sozialökonomischen Macht, welche auch nach imperialistischer Expansion verlangte (siehe Kapitel II.4).
Der russische Staat verschuldete sich gewaltig beim privatisierten Finanzkapital, welches wiederum von den Oligarchen beherrscht wurde. Um das Finanzkapital zu mästen, deregulierte der russische Staat den Bankensektor in den 1990er Jahren weitgehend. Ab 1996 wurden die staatlichen Vorschriften für den Devisenhandel weiter gelockert. Doch die Haupteinnahme des Finanzkapitals war die Spekulation mit russischen Staatsanleihen, mit dem die Banken allerdings ihren politischen Gewaltapparat in den Bankrott trieben. So gab das Jelzin-Regime zur Finanzierung seines Staatshaushaltes ab 1993 so genannte kurzfristige russische Staatsanleihen (GKO) aus. Sie waren mit einer ungewöhnlich kurzen Laufzeit verzinst, was die regierenden Charaktermasken des politischen Gewaltapparates dazu sozialökonomisch zwang, sich immer wieder aufs Neue zu verschulden – um alte Schulden begleichen zu können. Der russische Staat verblutete finanziell und das private Finanzkapital war ein verdammt gieriger Vampir. Dieses Finanzkapital, was von der Verschuldung des russischen Staates lebte, war vorherrschend russländisch-national. Der Anteil des ausländischen Finanzkapitals an der Spekulation mit russischen Staatsanleihen betrug lediglich 20 Prozent. Von 1994 bis 1997 brachten die GKO eine jährliche Rendite von 100 Prozent.
Bis zur russischen Finanzkrise von 1998 (siehe Kapitel II.2). Im Anschluss an diese Krise kam es zu einer Zunahme der politischen Regulierung der russischen Sozialökonomie. Und innerhalb des russischen Privatkapitalismus entwickelten sich wieder stärkere staatsinterventionistische und -kapitalistische Tendenzen (siehe Kapitel I.6).
Wie in Russland entwickelten sich in Osteuropa in den 1990er Jahren einheimische PrivatkapitalistInnen heraus – bis auf in Ostdeutschland, wo sich die westdeutsche Bourgeoisie das meiste privatisierte Kapital aneignete (siehe weiter unten in diesem Kapitel).
Im staatskapitalistischen Polen gab es den größten Privatsektor innerhalb des osteuropäischen Einflussgebietes des sowjetischen Imperialismus. So gab es kleinbürgerlich-kleinkapitalistisches Privateigentum in der Landwirtschaft, in industriellen Kleinbetrieben, Reparaturwerkstätten, Handel und Touristik. 1980/81 entwickelte sich die proprivatkapitalistische Gewerkschaft Solidarnosc als bürokratisch entfremdeter Ausdruck des proletarischen Klassenkampfes gegen den polnischen Staatskapitalismus (siehe Kapitel III.1). Um eine Invasion des sowjetischen Imperialismus in Polen zu verhindern, ging die inländische Staatsbourgeoisie schließlich mit der Verhängung des Kriegsrechtes gegen das klassenkämpferische Proletariat und Solidarnosc vor. Als 1985 Gorbatschow der neue Boss im Kreml wurde, setzte sich 1988 auch innerhalb der polnischen Staatsbourgeoisie die proprivatkapitalistische Fraktion – verkörpert in der Person von Mieczlaw F. Rakowski – durch. Sowohl der Solidarnosc-Apparat als auch der proprivatkapitalistische Flügel der Staatsbourgeoisie nutzten den proletarischen Klassenkampf und die Illusionen der Lohnabhängigen in Marktwirtschaft und Demokratie, um das Kapital zu privatisieren. Am Runden Tisch beschlossen Solidarnosc und der Rakowski-Flügel der Herrschenden Anfang 1989 die Transformation zum Privatkapitalismus.
Bei den teilweise freien Wahlen – siehe zu diesem demokratischen Herrschaftsmechanismus Kapitel I.6 – zum Parlament am 4. Juni 1989 konnte die Opposition die politische Macht erringen. Polnischer Ministerpräsident wurde einer der wichtigsten Solidarnosc-Berater, Tadeusz Mazowiecki. Diese Regierung organisierte die Privatisierung des Kapitals per Schocktherapie. Während es im Jahre 1990 in Polen noch mehr als 8.500 Staatsbetriebe gab, waren es 2014 noch 249.
Während der Todeskrise des osteuropäischen Staatskapitalismus zerfiel die Tschechoslowakei in die zwei privatkapitalistischen Staaten Tschechische Republik und Slowakische Republik. Über die wilde Form der Privatisierung des Kapitals in Tschechien schrieb Ilona Svihliková: „Für den Transformationsprozess spielte der Staat eine entscheidende Rolle. Die Regierung lehnte zwar aus ideologischen Gründen staatliche Eingriffe als ,soziales Ingenieurwesen‘strikt ab, führte aber gleichzeitig massive Eingriffe durch. Die Form und Geschwindigkeit des Privatisierungsprozesses und die Eigentumsübertragungen veränderten die ökonomische und soziale Struktur des Landes radikal. Die Privatisierung wurde nicht als Instrument, sondern als Ziel an sich präsentiert: Je schneller alles privatisiert wurde, desto besser für die Wirtschaft. Dabei war die so genannte ,Kleine Privatisierung‘eigentlich keine Privatisierung, da die Interessenten nur die Berechtigung erwerben konnten, z. B. ein kleines Ladengeschäft zu betreiben. Die Form dieser Privatisierung war so ,erfolgreich´, dass sie die Voraussetzung für das systematische Eindringen der ausländischen Handelsketten schuf.
Den wichtigsten Schritt stellte die Kuponprivatisierung dar. Die – zumindest offiziell propagierte – Idee bestand darin, einen ,Volkskapitalismus‘zu schaffen, in dem jeder Bürger Aktionär werden sollte. Vaclav Klaus zeigte sich gegenüber ausländischen Investoren abgeneigt und widersetzte sich dem Verkauf von Skoda an den deutschen Volkswagen-Konzern. Die aus der Kuponprivatisierung hervorgegangenen Kleinaktionäre hatten keinerlei Einfluss auf das Handeln der Betriebe. Sie verfügten weder über die notwendigen Informationen noch hatten sie entsprechende Erfahrung. Zudem waren sie unglaublich zersplittert. Die Rolle der Privatisierung wurde im Übrigen verzerrt. Ihr Sinn sollte eigentlich nicht darin bestehen, so schnell wie möglich neue Eigentümer zu finden, sondern das Verhalten der Betriebe zu verändern. Vorteile hatten natürlich jene Personen, die besser als die normalen Bürger über den wirklichen Stand der Betriebe informiert waren, und die so genannten Investitionsfonds, die zumeist von Banken gegründet worden waren. Die Banken befanden sich aber (noch) im Staatseigentum. Der Konzentrationsprozess vollzog sich schnell, da die meisten Bürger Bargeld bevorzugten und der Ausverkauf des nationalen Reichtums der sozialen ,Abfederung‘diente. (Anmerkung von Nelke: Das Gerede vom nationalen Ausverkauf ist ein Klassiker des Rechts- und Linksnationalismus.) Milos Pick konstatierte, dass sich sehr schnell eine neue Machtpyramide herausgebildet hatte: etwa 500 Familien kontrollierten die ganze Wirtschaft, ohne sie zu besitzen. Damit ist eigentlich ein neues ,ökonomisches Politbüro‘entstanden, das nie gewählt wurde. (Anmerkung von Nelke: Hier wird wieder fleißig demokratisches Untertanentum reproduziert. Für die DemokratInnen ist Herrschaft legitim, solange die Herrschenden von den Herrschaftslosen durch freie Wahlen legitimiert werden, siehe dazu auch Kapitel I.6.) ,Extreme Konzentration der ökonomischen Macht, extrem abgehoben von hochgradig zersplittertem Streubesitz – das ist das Ergebnis der Kuponprivatisierung‘(M. Pick, Stát blahobytu, nebo kapitalismus? My a svet v ére neoliberlismu 1989-2006, Grimmus, Vsen 2009, S. 42.)
Jan Stráský, ein ehemaliger Mitarbeiter von Václav Klaus, hat 2013 in einem sehr kritischen Interview nach all den Jahren offen zugegeben, dass die Privatisierung als ein Prozess organisiert wurde, bei dem man ,das Licht ausschaltete´, damit die ,Fähigsten‘den Reichtum unter sich verteilen konnten. Er beschreibt in dem Interview (Rozkradena rebublika?, Ekonom, c. 14, 2013, str. 6-7) die Methoden, mit denen das gemacht wurde. Andere Kritiker betonen die Bedeutung der Amnestie, die Václav Klaus kurz vor Ende seiner Amtszeit als Präsident Anfang 2013 erließ: Diejenigen, die sich durch die Privatisierung bereichert hatten und die die Politik und Medien beherrschen bzw. besitzen, sollten nie juristisch belangt werden. Die Geschwindigkeit, mit der die Privatisierung durchgesetzt wurde, war entscheidend: Es ging darum, möglichst schnell eine ,Elite‘zu schaffen, die den Prozess der neoliberalen Politik tragen würde.“ (Ilona Svihliková, Der Übergang zum Kapitalismus in der Tschechischen Republik, in: Z., Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 99, a.a.O., S. 75-77.)
Im Gegensatz zu den meisten nachsowjetischen und osteuropäischen Nationalstaaten wurde die Transformation zum Privatkapitalismus in Belarus nicht „wild“ und mittels einer neoliberalen Schocktherapie durchgeführt. Dort setzten die regierenden Charaktermasken auf einen etatistischen Staatsinterventionismus, in dem auch Staatsfirmen weiterhin eine große Rolle spielten. Schleichend wuchs aber auch dort der Privatsektor.
Die Institution, die das einstige ostdeutsche Staatskapital vorwiegend im Interesse der westdeutschen Bourgeoisie privatisierte oder per Betriebsschließungen vernichtete – auf diese Weise wurde Konkurrenz aus dem Wege geräumt – war die Treuhandanstalt (THA). Ihr Erfinder war der kleinbürgerliche Demokrat aus der einstigen DDR-Opposition Wolfgang Ullmann, der am Runden Tisch – an dem die gewendeten DDR-Regime-Parteien und die kleinbürgerliche Opposition zusammensaßen und tagträumten, während der bundesdeutsche Imperialismus die nackten Tatsachen des Anschlusses schuf – einen typischen „Dritten Weg“ zwischen Privat- und Staatskapitalismus ausklügelte, wobei selbstverständlich alle politökonomischen Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft reproduziert wurden: Ware, Geld, Kapital, Lohnarbeit und Staat. So sollte in die Treuhandanstalt nach Herrn Ullmann das gesamte DDR-Staatskapital eingebracht werden und durch Anteilsscheine ein Viertel davon an die ostdeutsche Bevölkerung privatisiert werden. Die restlichen Dreiviertel sollten Staatseigentum bleiben beziehungsweise zur Begleichung von Schulden und Restitutionsansprüchen verwendet werden. Privateigentum an Produktionsmitteln? Aber sicher doch, aber das privatisierte Staatseigentum sollte schön an die kleinen Leute und nicht an die großen Konzerne gehen. Das waren die KleinbürgerInnenträume eines „Dritten Weges“, der mit der sozialrevolutionären Alternative zum Kapitalismus, die gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel in einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft, nicht das Geringste zu tun hatte. Die bundesdeutsche Bourgeoisie, die die kleinbürgerlichen politischen Oppositionellen als nützliche IdiotInnen zur Destabilisierung des SED-Regimes genutzt hatte, schob beim imperialistischen Anschluss Ostdeutschlands die kleinbürgerlichen TagträumerInnen einfach beiseite und schuf harte Fakten.
Durch die „freien Wahlen“, die selbstverständlich die ostdeutschen Marionetten des westdeutschen Politbetriebes gewannen, waren dann die Machtverhältnisse zur Privatisierung des ostdeutschen Staatskapitals im Hauptinteresse der westdeutschen Bourgeoisie klar. Am 17. Juni 1990 wurde mit der Mehrheit der Regierungsparteien der DDR dann das „Gesetz über die Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz)“ beschlossen. Die Treuhandanstalt wurde zum verlässlichen Instrument der Privatisierung und Plattmachung der ostdeutschen Wirtschaft. So wurden 85 Prozent des Produktivvermögens an westdeutsches oder an ausländisches Kapital verkauft. Siemens zum Beispiel kaufte von der Treuhand 16 ehemalige DDR-Betriebe zum Schnäppchenpreis von insgesamt 250 Millionen D-Mark. Wir sind keine kleinbürgerlichen ostdeutschen RegionalistInnen. Auch eine Privatisierung, welche stärker eine ostdeutsche Kapitalbildung gefördert hätte, wäre aus revolutionärer Sicht natürlich genauso zu kritisieren gewesen wie die vorwiegende reale Übernahme der ostdeutschen Wirtschaft durch westdeutsches Kapital.
Jörg Roesler schrieb über die Privatisierung des ostdeutschen Kapitals im Interesse der westdeutschen Bourgeoisie: „Die entscheidenden dauerhaften Veränderungen in der Wirtschaft in Richtung kapitalistischer Produktionsverhältnisse vollzogen sich in den (ab Oktober 1990) Bestandteil der Bundesrepublik werdenden ,neuen Bundesländern‘(NBL) auf dem Gebiet der Eigentumsverhältnisse. (Anmerkung von Nelke: Roesler meint hier die Transformation vom Staats- zum Privatkapitalismus. Für Roesler war die DDR nicht staatskapitalistisch, sondern „sozialistisch“.) Mit dem 1. Juli 1990 hatte die Treuhandanstalt (THA) als nunmehr reine Privatisierungsbehörde ihre Arbeit aufgenommen. Sie übernahm die Verantwortung für die Transformation von 8.500 Betrieben mit 45.000 Betriebsteilen und 4,1 Millionen Beschäftigten, d.h. für 40 Prozent aller Beschäftigten in der DDR. Als sie Ende Dezember 1994 ihre Tätigkeit nach der Durchsetzung von mehr als 15.000 Privatisierungen einstellte, war in den NBL in der Industrie – im beträchtlichen Maße auch in der Landwirtschaft – an Stelle des staatssozialistischen (= staatskapitalistischen, Anmerkung von Nelke) privatkapitalistisches Eigentum getreten. Nur im geringen Maße wurde Staatseigentum rekommunalisiert.
Die übergroße Mehrheit (ca. 85 Prozent) der Betriebsverkäufe ging – gemessen an der Zahl der Arbeitsplätze – an Unternehmen in den alten Bundesländern. Seitens der von der Bundesregierung über das Finanzministerium gesteuerten, vom Bundestag und den Landtagen der NBL kaum kontrollierten, THA waren nach Einschätzung des SPD-Politikers Sigmar Gabriel Übernahmekonditionen ausgelobt worden ,die für manche Unternehmer unbestreitbar einen hohen Reiz ausübten, in die neuen Bundesländer zu wechseln´. Diese günstigen Bedingungen galten nicht für ausländische Unternehmen, die die Bundesregierung eher fernzuhalten trachtete. An sie wurden aus dem Fonds der Staatsbetriebe 1.860 Betriebe bzw. Betriebsteile mit knapp 10 Prozent der Beschäftigten verkauft, überwiegend an Firmen aus den USA, Frankreich und Großbritannien.
Den Gedanken, auch ostdeutschen Managern die Möglichkeit zu geben, sich in ,Unternehmer-Eigentümer‘zu verwandeln, hatte die Bundesregierung zunächst nicht ernsthaft erwogen. Erst Ende 1991/Anfang 1992, als die THA nicht mehr umhin konnte, zu akzeptieren, dass für ganze Gruppen von kleinen und mittleren Betrieben Ostdeutschlands von westdeutscher Seite kein Interesse bestand, korrigierte die Bundesregierung ihre Haltung und stimmte der Privatisierung auf dem Wege des Management-Buy-Out (MBO) bzw. Management-Buy-In (MBI) zu. Insgesamt handelte es sich um 2.100 Betriebe. Gemessen an den Beschäftigten betrug deren Anteil allerdings lediglich 6 Prozent. Da die meisten früheren ,Wirtschaftskapitäne‘aus Ostdeutschland nicht genügend Startkapital besaßen, waren sie bestrebt, sich mit westdeutschen Mittelstands-Unternehmen gleicher Branche zusammen zu tun, die über Investitionsmittel und über ausgebaute Vertriebswege verfügten (MBI). Für die rein ostdeutschen MBO-Betriebe erwiesen sich die materiellen Anforderungen vielfach als zu groß, so dass sie nach wenigen Jahren liquidiert oder an westdeutsche Unternehmen verkauft werden mussten. Für die MBI steht als erfolgreichstes Unternehmen die Sektkellerei Rotkäppchen in Freyburg/Unstrut, für das Schicksal der MBO das aus dem VEB Florena Waldheim hervorgegangene zunächst sehr erfolgreiche Unternehmen Florena Cosmetic GmbH, das 2002 vom Hamburger Beiersdorf-Konzern übernommen wurde. Ähnlich dem Schicksal der MBO war das der erst 1972 verstaatlichten privaten und ,halbstaatlichen‘Unternehmen, die die THA 1990/91 reprivatisiert hatte – insgesamt knapp 3.000 kleinere Unternehmen.
Zur Herausbildung einer eigenen spezifischen Kapitalistenklasse ist es in der DDR demnach, wenn überhaupt, nur marginal gekommen. Es dominiert in Ostdeutschland eine kleinteilige Wirtschaftsstruktur. Damit waren auch keine nennenswerten Möglichkeiten zur Vermögensanhäufung durch ostdeutsche Unternehmer gegeben. Anders als in einigen Ländern Osteuropas sind ,Oligarchen‘in der Ex-DDR nicht anzutreffen. Der gewerbliche Mittelstand rekrutiert sich aus dem – bis 1989 überwiegend privat gebliebenen bzw. genossenschaftlich arbeitenden Handwerk, sowie aus den nach 1990 weiterhin überwiegend genossenschaftlich arbeitenden Landwirten, auf deren Betriebe die THA in der Regel keinen Zugriff erhalten hatte. Dazu gehört auch ein Teil der ehemals leitenden Angestellten von Ladengeschäften, Gaststätten, Hotels, Apotheken, Buchhandlungen und Kinos, die per Kreditaufnahme in Zusammenhang mit der bereits 1990/91 von der THA durchgeführten ,kleinen Privatisierung‘Eigentümer geworden waren.“ (Jörg Roesler, Ostdeutschland seit 1990, in: Z., Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 99, a.a.O., S. 55-57.)

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Inhalt

Einleitung

Lateinamerika im Fadenkreuz der Imperialismen

1. Spanischer Kolonialismus
2. Portugiesischer Kolonialismus
3. Französischer Kolonialismus
4. Britischer Imperialismus
5. US-Imperialismus
6. Deutscher/EU-Imperialismus
7. Sowjetischer/Russischer Imperialismus
8. Chinesischer Imperialismus

Der Kapitalismus in Lateinamerika

1. Das allgemeine Wesen des Kapitalismus
2. Der lateinamerikanische Nationalismus
3. Die nationalkapitalistische Entwicklung Lateinamerikas
5. Linker Sozialreformismus als Teil der kapitalistischen Elendsverwaltung
6. Die mögliche soziale Revolution in Lateinamerika

Rechts- und Linksreaktion in Lateinamerika

1. Zur politischen Konkurrenz zwischen lechts und rinks in Lateinamerika
2. Kuba
3. Chile
4. Nikaragua
5. Venezuela
6. Brasilien
7. Argentinien

Nikaragua

Ab 1893 regierte in Nikaragua die liberale Fraktion der herrschenden kapitalistischen Klasse. Kern war die Kaffee-Oligarchie, die vom Export dieses Genussmittels lebte. Im Jahre 1909 unterstützte der US-Imperialismus einen Aufstand von General Juan José Estrada, Gouverneur an der Miskitoküste, gegen Präsident Zelaya. Estrada wurde durch die Hilfe Washingtons neuer Präsident. 1911 trat Estrada zugunsten von Adolfo Díaz zurück. Der Konservative Díaz war noch eine offensichtlichere Marionette des US-Imperialismus. Bis zu seiner Machtübernahme war er Buchhalter eines US-Bergbauunternehmens, das nach Nikaragua Kapital exportierte, um den Profit zu importieren. Díaz nahm 1911 bei US-Banken Millionenkredite auf und überließ als Sicherheit der US-Regierung die direkte Kontrolle der nikaraguanischen Zolleinnahmen. Im Jahre 1912 unterstützte Washington seine nikaraguanische Marionette mit US-Marines gegen ein aufständisches Heer des bisherigen Kriegsministers Luís Mena. Die US-Marines landeten am 14. August 1912 in Nicaragua und besetzten die Städte Managua, Granada und León. Der US-Imperialismus behielt Nikaragua bis 1933 besetzt und unterstützte in der Regel die konservativen Regierungen gegen liberale Rebellen.
Die Liberalen und Konservativen führten von 1926 bis 1929 einen BürgerInnenkrieg als einen innerkapitalistischen Konkurrenzkampf um die Staatsmacht. Auch der General Augusto César Sandino gehörte am Anfang zur liberalen Fraktion des Kapitals. Nachdem der persönliche Abgesandte des US-Präsidenten Calvin Coolidge dem Anführer der Liberalen, General José María Moncada die Präsidentschaft versprochen hatte, erzwang er den Pakt von Espino Negro, in dem die Entwaffnung der Liberalen festgeschrieben wurde und der den BürgerInnenkrieg damit faktisch beendete. Doch Sandino führte weiterhin einen Guerilla-Krieg gegen die regierende Rechtsreaktion und den US-Imperialismus. Seit 1927 bauten die USA in Nikaragua die „Nationalgarde“ (Guardia Nacional de Nicaragua) auf, deren Oberbefehl sie ihrem Vertrauten, Anastasio Somoza García, zusprachen. Diese Washington hörige Nationalgarde übte gleichzeitig die Armee- und die Polizeifunktion aus. Zum Präsidenten wurde in einer von den USA durchgeführten Wahl der Schwiegeronkel Somozas, der Liberale Juan Bautista Sacasa, gewählt. Als der US-Imperialismus im Jahre 1933 seine Truppen aus Nikaragua abzog, legten auch Sandino und seine Guerilla die Waffen nieder und gingen mit Sacasa am 2. Februar 1933 ein Friedensabkommen ein. Doch Somozas Nationalgarde hielt die Friedensbestimmungen nicht ein und bekämpfte Sandinos Truppen weiterhin. Ein Jahr nach dem Friedensabkommen lud Somoza Sandino und seine engsten Offiziere zu einem Bankett, bei dem sie auf seine Veranlassung am 21. Februar 1934 ermordet wurden. 1937 putschte sich Somoza an die Macht. Diese behielt die Familie Somoza bis 1979.
1961 gründete sich in Nikaragua die kleinbürgerlich-radikale Guerilla-Organisation FSLN (SandinistInnen), die einen bewaffneten Kampf gegen das rechtsreaktionäre Somoza-Regime führte. Der bewaffnete Kampf um die Beherrschung des Staates ist vom Ziel her grundsätzlich sozialreaktionär, nur die Zerschlagung des Staates durch das sich selbst aufhebende Proletariat kann möglicherweise wirklich revolutionär sein. Die FSLN benutzte objektiv die bäuerliche Bevölkerung als Manövriermasse für einen innerkapitalistischen Konkurrenzkampf um die Staatsmacht. Dieser war durch die Krise des Somoza-Regime für die sandinistische FSLN erfolgreich. Am 19. Juli 1979 eroberte sie die Staatsmacht. Daniel Ortega wurde die regierende Charaktermaske Nikaraguas.
Das sandinistische Regime (1979-19090) verkörperte eine staatsinterventionistische und -kapitalistische Tendenz im Rahmen des Privatkapitalismus – und war somit absolut sozialreaktionär. Der staatskapitalistische Sektor erzeugte Mitte der 1980er Jahre 40 Prozent des Bruttosozialproduktes. Noch heute wird das sandinistische Regime von der internationalen Linksreaktion „kritisch“ oder kritiklos abgefeiert. Die Zeitschrift Wildcat – die dafür bekannt ist, zwischen linksreaktionären und sozialrevolutionären Positionen hilflos hin und her zu schwanken – schrieb über das erste sandinistische Regime: „Neben revolutionärer Rhetorik und Symbolik sah das soziale Maximalprogramm Agrarreform, Alphabetisierung, Gesundheitsversorgung, vorsichtige Verstaatlichung der Bodenschätze sowie Demokratisierung vor. In einem Land mit der Geschichte Nikaraguas durchaus radikale Vorhaben.“ Doch die von Wildcat hier hochgelobte „Radikalität“ bewegte sich im Rahmen des Privatkapitalismus. Innerbürgerlicher „Fortschritt“ ist jedoch immer im Rahmen der kapitalistischen Zivilisationsbarbarei gefangen und deshalb grundsätzlich sozialreaktionär. Auch das Regime der SandinistInnen war ein struktureller Klassenfeind des Weltproletariats.
Doch im Gegensatz zu völlig reaktionäre „AntiimperialistInnen“, die die Maßnahmen des sandinistischen Regimes gegen das Proletariat entweder leugnen oder mit der imperialistischen Aggression der USA ab 1981 (siehe Kapitel 5 unseres Textes Lateinamerika im Fadenkreuz der Imperialismen) rechtfertigen, kritisiert Wildcat diese – wenn auch nicht mit der notwendigen Schärfe und Konsequenz: „Bereits vor der Phase des offenen konterrevolutionären Kriegs niedriger Intensität (finanziert und bewaffnet aus den USA über ihren Stützpunkt Honduras) gegen ,die Revolution‘, also vor 1981 verteidigte die FSLN häufig auf repressive Weise ihren Alleinanspruch auf Absicherung ,des Prozesses‘: Arbeiterstreiks in einem großen Zuckerbetrieb wurden niedergeschlagen, spontane Landbesetzungen rückgängig gemacht, Gewerkschaftswahlen manipuliert, eine linke Zeitung sowie die dazugehörige Organisation verboten, die Abtreibung aus Rücksicht auf die katholische Kirche geächtet.
Die offizielle Losung für das Jahr 1980 lautete düster: ,Arbeit, Disziplin, Produktivität‘. Das 60-köpfige Zentralkomitee der Partei, die sandinistische Versammlung, wurde ernannt. Das Neunergremium der FSLN-Führung (…) blieb unantastbar, gottgleich. Massenmobilisierungen dienten zur öffentlichen Absegnung bereits gefällter Entscheidungen. Es herrschte die Vorstellung, möglichst alles zentralisiert zu kontrollieren. Das mündete in undurchschaubare bürokratische Strukturen, die Eigeninitiative abwürgten. Mit dem Krieg der Contra bekam diese Praxis eine Legitimation, die nicht mehr kritisierbar war.
Nach einem neunjährigen Abnutzungskrieg verlor die FSLN – für sie selber völlig überraschend die Präsidentschaftswahlen 1990. Zwei Faktoren waren ausschlaggebend: Die vielen Toten, die entgegen der Propaganda täglich in den Armenvierteln Managuas beerdigt werden mussten, sowie die – von der FSLN bis zuletzt geleugnete – Beteiligung eines Teils der Landbevölkerung an konterrevolutionären Aktivitäten im Norden.“ (Von der Fokus-Theorie zum Volkskrieg langer Dauer, in: Wildcat Nr. 103 vom Frühjahr 2019, S. 65.)
Dieser Artikel verbreitet nicht die sozialrevolutionäre Schlussfolgerung, dass jeder Staat und damit auch jede Regierung nur kapitalistisch-sozialreaktionär sein kann. Er seziert lediglich an den Symptomen der regierenden strukturellen Linksreaktion in Nikaragua. Die Kritik am Sandinismus fällt durch eine schwammige Wortwahl auf. So wird die bewaffnete Rechtsreaktion „Konterrevolution“ genannt. Konterrevolution ist die Reaktion gegen eine revolutionäre Kraft. Aber der Sandinismus verkörperte in der Wirklichkeit nicht die soziale Revolution, sondern er gehörte zur linken Fraktion des Kapitals. Die Menschen, die im Konflikt zwischen Rechts- und Linksreaktion beziehungsweise zwischen US-Imperialismus und nikaraguanischen Nationalismus starben, waren die Opfer eines innerkapitalistischen politischen Konkurrenzkampfes. Wildcat fehlt es an revolutionärer Konsequenz, dies eindeutig so zu sehen und so zu sagen.
Ab 1990 wurde also der Sandinismus von der regierenden Rechtsreaktion abgelöst. Diese war das Wahlbündnis UNO (Unión Nacional Opositora). Die UNO verhinderte einen BürgerInnenkrieg mit den linksreaktionären SandinistInnen, indem sie Humberto Ortega (den Bruder von Daniel Ortega) zum obersten Befehlshaber der Streitkräfte machte. Auch sonst hatte die sandinistische FSLN wichtige Funktionen in den rechtsreaktionären Regierungen ab 1990. Mensch kann von einer regelrechten Kumpanei des Sandinismus mit der regierenden Rechtsreaktion sprechen. Diese führten einen neoliberalen Klassenkampf von oben gegen das Proletariat. Die kapitalistische Privatwirtschaft wurde durch Entstaatlichungen ab 1996 gestärkt, die Preise für die Grundnahrungsmittel stiegen, die Agrarreform wurde rückgängig gemacht und Kindergärten geschlossen. Die Folge dieses brutalen Klassenkrieges von oben war die Zunahme des Elends. Es stiegen die Arbeitslosigkeit, die Analphabetenrate und die Kindersterblichkeit.
Unter der Präsidentschaft Bolaños (2001-2005) beendete die regierende Rechtsreaktion die Kooperation mit der FSLN, die wieder einen auf Opposition machte – bis sie abermals im Jahre 2005 innerhalb des Wahlrummels die Staatsmacht eroberte. Daniel Ortega wurde wieder regierende Charaktermaske Nikaraguas, in dieser Funktion wurde er auch vom demokratischen Wahlzirkus 2011 und 2016 bestätigt. Um sich als soziale Wohltäterin aufzuspielen und dies in Stimmzettel für sich umzuwandeln, milderte das Ortega-Regime zuerst etwas das kapitalistische Elend – was aber selbstverständlich erhalten blieb. So wurde ein Null-Hunger-Programm aufgelegt, durch das Schulkinder unentgeltlich täglich eine Mahlzeit bekamen. Außerdem wurden Gesundheitsvorsorge und Bildung wieder kostenlos. Die regierende Linksreaktion spielte sich auch als Wohltäterin der kleinen und mittleren BäuerInnen sowie UnternehmerInnen auf, die Land und Kredite zu niedrigen Zinsen bekamen, aber als Gegenleistung in die FSLN eintreten mussten.
Im April 2018 ging das Ortega-Regime im Klassenkampf von oben in die Offensive, indem es die Rente um fünf Prozent kürzte. Daraufhin entwickelte sich eine Protestbewegung. Die regierende Linksreaktion ging mit tödlicher bewaffneter Gewalt gegen die Proteste vor, die auch nicht abflammten als das Ortega-Regime die Rentenreform zurücknahm. Im Juli 2018 gelang es dem Regime nach über 200 Toten wieder für eine Friedhofsruhe zu sorgen. Der Fakt, dass dieser Protest von der Rechtsopposition und dem westlichen Menschenrechts-Imperialismus in ihrem politischen Konkurrenzkampf gegen das Ortega-Regime instrumentalisiert wurde, musste für den reaktionärsten Teil des linksnationalen „Antiimperialismus“ herhalten, um die Repression der bluttriefenden FSLN zu unterstützen. Widerliches linksreaktionäres Pack!

….

Im Kapitel 6 unserer Schrift Lateinamerika im Fadenkreuz der Imperialismen haben wir bei der Schilderung des imperialistischen Druckes der damals sozialdemokratisch regierten BRD auf das erste sandinistische Regime (1979-1990) bereits ein ehemaliges Mitglied der Nikaragua-Solidaritätsbewegung zitiert – versehen mit einigen kritischen Anmerkungen. Über den von uns zitierten Autoren heißt es in Wildcat: „Der Autor war zwischen 1982 und 1990 in der Nikaragua-Solidaritätsbewegung aktiv und vertrat lange die Linie, jede öffentliche Kritik an der FSLN spiele ,dem Imperialismus‘ in die Hände.“ (Rückblicke mit Ecken und Kanten, a.a.O., S. 64.) Wenn Menschen sich radikalisieren und Irrtümer überwinden, ist das immer toll. Auch der Autor dieser Zeilen, Nelke, war in den 1990er Jahren Mitglied in sozialdemokratischen Organisationen (PDS, SAV) – gehörte also objektiv zum proletarischen Schwanz der linken Fraktion des Kapitals. Der Selbstkritik des ehemaligen Aktivisten der Nikaragua-Solidaritätsbewegung fehlt es allerdings an sozialrevolutionärer Konsequenz. So können wir bei ihm nirgendwo lesen, dass die „Solidarität“ mit einem bürgerlich-kapitalistischen Staat wie dem sandinistischen Nikaragua grundsätzlich sozialreaktionär war. Auch wird von ihm nicht reflektiert, dass die „Nikaragua-Solidaritätsbewegung“ der 1980er Jahre objektiv eine Schwanzfeder der linken Fraktion des Kapitals war.
Trotz dieser prinzipiellen Kritik halten wir die Ausführungen des ehemaligen Mitglieds der Nikaragua-Solidaritätsbewegung für sehr interessant, so dass wir Auszüge davon hier widergeben wollen: „Die (Nikaragua-) Solidaritätsbewegung war auch ein Ausdruck der Abwendung von den Verhältnissen in der BRD, wo die Massen als integriert und korrumpiert galten. Die eigenen (aufgegebenen) Revolutionshoffnungen wurden einem Ministaat in 10 000 km Entfernung aufgebürdet. Durch den Mythos des bewaffneten Kampfs, der als Gipfel der Radikalität galt, konnte in Nikaragua ein linkssozialdemokratisches Programm als ,soziale Revolution‘ gelten. (…)
Der Aufbau des neuen Staates in Nikaragua wurde von der Solidaritätsbewegung ohne offene Kritik mitgetragen. Obwohl sich die Solidaritätsbewegten (im Vergleich zu Kuba) relativ unkontrolliert im Land bewegen konnten, ignorierten sie jede FSLN-unabhängige oder gegen diese gerichtete Mobilisierung. Es gab lange den stillschweigenden Konsens, über unangenehme Themen öffentlich nicht zu reden, auch wenn z. B. die Widerstände gegen die Agrarreform unübersehbar waren (…). Der Übergang von einem von außen angeheizten und organisierten gegenrevolutionären Krieg zu einer Art ,Bürgerkrieg‘ in einigen ländlichen Gebieten wurde verdrängt.
Die internationale Solidaritätsbewegung sollte idealtypisch befehlsempfangende Unterorganisation der FSLN im jeweiligen Land sein. Das funktionierte in Italien und Frankreich mit ihren starken KPs recht gut. In der BRD war die ,apparatunabhängige‘ Solidarität stark. Versuche der FSLN, mit ihrem umfassenden Kontrollanspruch alle Gruppen einem zentralistisch-hierarchischen Modell zu unterwerfen, schlugen fehl. (…) Die unabhängige Bewegung in der BRD wollte eine eigenständige politische Kraft bleiben. Aber sie unterstützte die FSLN insofern weitgehend, als sie oft geschwiegen oder nur in Hinterzimmergesprächen Kritik geübt hat. Das galt auch, als Mitte der 1980er Gelder aus der internationalen Kampagne ,Nikaragua muss überleben‘ für die Renovierung der nikaraguanischen Botschaft benutzt wurden. (…)
Die Arbeitsbrigaden konnten diese Muster etwas aufbrechen. Vor allem als Propagandainstrument gegen den Contra-Krieg konzipiert, hatten sie einen unvorhergesehenen Nebeneffekt. Die BrigadistInnen sollten in der BRD von den Greueltaten der Contra und den daraus resultierenden schwierigen Lebensbedingungen auf dem Land berichten. Sie wurden aber vor allem Zeugen der Realität: Entscheidungsstrukturen, Hierarchien, Verhalten der überwiegend jungen städtischen Kader der FSLN etc. Hier wurde die romantische Vorstellung vom ,neuen Menschen‘ bei vielen Solidaritätsbewegten gründlich entzaubert.
Die Wahlniederlage der FSLN im Februar 1990 war ein Schock für die Solidaritätsbewegung. Der von der SPD organisierte Wahlkampf unter der Parole ,todo será mejor‘ (,alles wird besser‘) hatte zwar intern Kritik ausgelöst, und die Konzentration auf FSLN-Chef Daniel Ortega (der als Macho-Figur ,el gallo‘ in jedes nikaraguanische Dorf einritt und dort die Miss Sandinista wählen ließ) führte zu Protesten. Aber auch die ,unabhängige‘ Strömung der Solidaritätsbewegung hatte den Wahlkampf der Regierungspartei FSLN unterstützt, da nur dadurch ,die Weiterentwicklung der Revolution‘ unterstützt werden könne.
In der Zeit zwischen Wahlen und Regierungsübernahme der Rechtsopposition verteilte die FSLN Grundstücke, Häuser, Autos an verdiente Parteimitglieder, damit die ,Somozisten‘ nicht zu viel in die Hände fallen konnte, so die spätere Legitimation. Das Volk ging dabei leer aus.“ (Rückblicke mit Ecken und Kanten, a.a.O., S. 63/64.)
Die Verwendung des schwammigen und klassenneutralen Begriffs des „Volkes“ – das Berufungsobjekt aller Rechts- und LinksnationalistInnen schlechthin! – durch den ehemaligen Aktivisten der „Nikaragua-Solidaritätsbewegung“ weist wie vieles andere auf seine mangelnde vollständige Abnabelung vom linksreaktionären „Antiimperialismus“ hin.

5. Venezuela

Über das in Venezuela seit 1998 existierende linksreaktionäre Regime in Venezuela wurde in dem Kapitel 5 der Schrift Lateinamerika im Fadenkreuz der Imperialismen schon alles Wesentliche geschrieben: Es versuchte, durch Ölexport finanziert, ein wenig Sozialstaatspolitik als kapitalistische Elendsverwaltung zu betreiben, um das Proletariat zu befrieden. Begleitet war diese bürgerliche Politik mit übler demagogischer „antiimperialistischer“ und „antikapitalistischer“ Rhetorik. Über diese Sozialstaatspolitik schrieben die italienischen LinkskommunistInnen von Battaglia Comunista im Jahre 2017: „Zu einem wirklichen sozialen Fortschritt, den das Chavez-Regime angeblich ausgezeichnet haben soll, ist es nie gekommen. Der Kampf gegen den Analphabetismus, die Eindämmung der Gewalt in den Großstädten und die Verbesserung der miserablen Lebensbedingungen in den Favelas sind größtenteils Projekte auf dem Papier geblieben. Das Wenige was getan wurde, zielte lediglich darauf ab, sich eine soziale Basis unter den Millionen verzweifelter Menschen zu verschaffen, die auf die falsche Hoffnung setzten, dass das Programm von Chavez zwar nicht den Himmel auf Erden, aber zumindest ein wenig Verbesserung bewirken könnte. Das Programm, was zu seiner Wiederwahl führte, musste zwar den weitverbreiteten Illusionen einige Tropfen aus den Öl-Einnahmen zugestehen, doch der Großteil floss in den Regierungsapparat, wo sich eine neue Staatsbourgeoisie hemmungslos bereicherte und die Finanzspekulation wie in jedem anderen kapitalistischen Land ihre Blüten trieb. Der einzige Unterschied bestand darin, dass all das als ,sozialistisches Experiment‘ ausgegeben wurde. Als der Rohölpreis drastisch einbrach, lagen die Mängel und Schwächen des Regimes hinsichtlich des Bildungssektors, der Gesundheitsversorgung und dem Kampf gegen Armut zutage. Laut einem Bericht der Caritas (…) gibt es in Venezuela Hinweise auf eine chronische Unterernährung von Kindern. In einigen Regionen habe diese nach internationalen Standards ein kritisches Niveau erreicht: ,Es gibt gefährliche und irreversible Überlebensstrategien in wirtschaftlicher, sozialer und gesundheitlicher Hinsicht, und was besonders besorgniserregend ist, ist der Verzehr von Nahrungsmitteln, die auf der Straße aufgelesen werden.‘ (http://www.caritas.org/2017/05/children-face-hunger-crisis-in-venezuela-as-malnutrition-soars/) Nach einer Umfrage im venezolanischen Bundesstaat Miranda haben 86% der Kinder Angst, nicht genug zu essen zu haben. 50% von ihnen mussten hungrig zu Bett gehen, da nichts zum Essen im Hause war. Die Regionaldirektorin von Amnesty International, Erika Guevara, berichtete im Juni 2016: ,Das Krankenhaus ‚JM de los Rios‘ in Caracas war der Stolz des Landes und ein Vorbild für Pädiatrische Pflege. Heute ist es ein tragisches Symbol für die Krise in dem lateinamerikanischen Land. Die Hälfte des großen Gebäudes ist zusammengebrochen, an den Wänden blättert die Farbe ab, die Fußböden sind überflutet und die Zimmer in so schlechten Zustand, dass sie nicht mehr genutzt werden können. Das Krankenhaus ist nur noch zur Hälfte in Betrieb, hunderte Kinder werden behandelt. Aber aufgrund des Fehlens dringend benötigter Medikamente und grundlegender medizinischer Versorgung haben ihre Mütter schon aufgegeben nach ihnen zu fragen. Der Mangel an medizinischer Versorgung ist nur ein Aspekt der tiefen humanitären Krise, die das Land seit drei Jahren im Griff hält. Diese Tragödie hätte verhindert werden können. Jahrelang verfügte das Land über eine der weltweit größten Ölvorkommen. Aber der plötzliche Fall des Ölpreises hat eine Wirklichkeit offenbart, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: Die venezolanische Regierung hat vergessen, in die Infrastruktur zu investieren. Ein Land, dass bisher von Nahrungsmitteln bis hin zu Medikamenten alles importierte, kann sich nicht einmal mehr Antibiotika leisten. Die Folgen sind katastrophal. Nach venezolanischen Berechnungen fehlen dem Land 80% der Lebensmittel und Medikamente, die es braucht. In Venezuela gibt es eine der höchsten Sterberaten in der Welt. Ärzte die mit so einem Mangel konfrontiert sind, müssen improvisieren um Leben zu retten und unter Bedingungen arbeiten, die einem Kriegsgebiet gleichen. Private Krankenhäuser stehen bei der Beschaffung dringendst benötigten Medikamente vor ähnlichen Problemen. Das Leitungspersonal der Geburtsklinik ,Conception Palacios‘, einer der größten des Landes, erzählten uns, dass im ersten Quartal 2016, 101 Neugeborene gestorben sind. Das sind doppelt so viele wie in der gleichen Periode im vergangenen Jahr. Im gleichen Krankenhaus sind seit Anfang 2016 ca. 100 Frauen bei der Geburt gestorben. Das Fehlen einer offiziellen Statistik zeigt, dass die Regierung von Nicolas Maduro, die internationale Hilfsleitungen ablehnt, ihre innenpolitischen Gegner für die schrecklichen Zustände verantwortlich machen möchte.‘ (http://aristeguinoticias.com/2206/mundo/venezuela-en-cuidados-intensivos-articulo-de-erika-guevara-rosas/)
In der Reportage ,Las Voces del Haber‘ (Stimmen des Hungers) des venezolanischen Journalisten Fernando Girón sind Szenen zu sehen, in denen Kinder mit Raubvögeln um ein paar Schweineknochen kämpfen, die ein Metzger weggeworfen hatte. ,Der Hunger in Venezuela ist kein Spaß. Der Mangel an Nahrungsmitteln hat undenkbare Grenzen überschritten und Menschen brechen bei dem Versuch ihren Familien etwas zu Essen zu besorgen vor Erschöpfung regelrecht zusammen.‘ (http://www.el-nacional.com/noticias/crisis-humanitaria/las-voces-del-hambre-reportaje-que-muestra-crisis-venezolana_83027 )
Unter dem Chavez-Regime konnte dank der Öl-Einnahmen in relativ hohen Maße Kapital akkumuliert werden, allerdings ohne selbst eine mittelmäßige industrielle Entwicklung voranzubringen. Stattdessen wurden einige Krümel den ,kleinen Leuten‘ gegeben, um sich ihre Wahlstimmen zu sichern, während die Öleinnahmen die mit dem Regime verbundene ,Staatsnomenklatura‘ aus hohen Offizieren, Bankern, Managern und allerlei Spekulanten bereicherte. In der Zeitspanne von 2003 bis 2013 flossen 180 Milliarden Dollar aus Venezuela in die Finanzspekulation ,made in USA‘.
Dieser Kapitalflucht lag der Skandal mit strukturierten Anleihen zugrunde, die wiederum Ausdruck der korrupten Verwaltung der Öl-Einnahmen war, und von staatlichen Stellen gedeckt wurde, da es sich aus ihrer Sicht um einen ganz normalen Vorgang handelte. Auch in der öffentlichen Meinung fand dieser Skandal milde Beurteilung und wurde als Einzelfall abgetan, da schließlich auch niemand verurteilt wurde. Ebenso wenig wurde der gesellschaftliche Schaden dieser vom Staat als Ganzes ausgelösten Spekulationsbewegung jemals ermittelt.“ (http://gis.blogsport.de/2017/06/30/venezuela-der-bolivarische-weg-zum-sozialismus-in-der-sackgasse/#more-442)
Das Sinken des Ölpreises hat der chavistischen Kapitalvermehrungsstrategie und die Befriedung der Armen das Genick gebrochen. Doch wie das global generell der Fall ist, begünstigte auch der Niedergang des linksreaktionären Regimes in Venezuela bei der weltweiten Schwäche antipolitisch-sozialrevolutionärer Strömungen die rechtsreaktionäre politische Opposition in diesem Staat. So konnte die rechte Opposition bei den Parlamentswahlen am 6. Dezember 2015 eine Zweidrittelmehrheit erringen. Nun etablierte sich eine Doppelherrschaft. Während die ChavistInnen weiterhin den Staatsapparat beherrschten, dominierte die rechte politische Opposition das Parlament. Doch der Oberste Gerichtshof Venezuelas erkannte die Wahl von vier Abgeordneten – von denen drei der rechtsreaktionären Opposition angehörten – nicht an. Dadurch ging die Zweidrittelmehrheit der rechten politischen Opposition im Parlament wieder flöten.
Selbstverständlich versuchte die rechte politische Opposition diesen Sieg bei den Parlamentswahlen zu nutzen, um das chavistische Regime zu stürzen. Die Wortführer der rechten politischen Opposition wie Freddy Guevara von der Partei Voluntad Popular (Volkswille) forderten monatelang die sofortige Durchführung von vorgezogenen Präsidentschaftswahlen. Das von der politischen Rechtsreaktion beherrschte Parlament wurde jedoch vom linksreaktionären Regime weitgehend umgangen, indem das regierungstreue Oberste Gericht im Oktober 2016 beschloss, dass der Staatsapparat sein Budget per Dekret am Parlament vorbei beschließen könne. Am 9. Januar 2017 erklärte das rechte Parlament den linken Präsidenten Maduro für abgesetzt. Daraufhin entzog das linksreaktionäre Oberste Gericht am 29. März 2017 allen ParlamentarierInnen die Immunität sowie dem Parlament alle Kompetenzen
Das linksreaktionäre Regime entmachtete das von der rechtsreaktionären politischen Opposition beherrschte Parlament, in dem es dieses weitgehend durch die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung am 30. Juli 2017 ausschaltete. Diese Wahl zu einer verfassungsgebenden Versammlung wurde wiederum von der rechten politischen Opposition boykottiert. Auch der westliche US- und EU-Imperialismus bekämpften diese neue Institution des Chavismus. Kaum war die verfassungsgebende Versammlung gewählt, versetzte sie der rechtsreaktionären politischen Konkurrenz auch schon einen Tritt gegen das Schienenbei. Während das chavistische Regime die Regionalwahlen über Monate immer weiter verschob, verlegte die verfassungsgebende Versammlung sie am 12. August vom 10. Dezember 2017 auf Oktober dieses Jahres vor. Damit sollten die Teile der rechten politischen Opposition geschwächt werden, die an den Regionalwahlen teilnehmen wollten. Auf diese Weise sollte ihnen die Vorbereitungszeit auf die Regionalwahlen gekürzt werden.
Die Doppelherrschaft entlud sich in einem BürgerInnenkrieg zwischen Rechts- und Linksreaktion. Die Fußtruppen der rechtsreaktionären Straßenbewegung gegen das chavistische Regime besteht überwiegend aus StudentInnen und Angehörigen des KleinbürgerInnentums. Neben gewaltsamen Straßendemonstrationen griffen Teile der Rechtsreaktion die linksreaktionäre Regierung auch offen militärisch an. So drangen am 6. August 2017 rund 20 Bewaffnete in den Stützpunkt Paramacay nahe der Stadt Valencia westlich von Caracas ein, der Angriff konnte jedoch vom linksreaktionären Regime zurückgeschlagen werden. Während des Angriffes kursierte im Internet ein Video, in dem mehrere Uniformierte erklärten, dass sie Venezuela zur Demokratie zurückführen wollten. Sie riefen auch zur landesweiten Erhebung gegen Präsident Maduro auf. Dies wäre kein Staatsstreich, sondern eine bürgerliche und militärische Aktion zur Wiederherstellung der Verfassungsordnung, behauptete ein Mann, der sich als Exoffizier der Nationalgarden vorstellte.
Der Chef der von der rechten Opposition beherrschten Nationalversammlung, Juan Guaidó, ernannte sich selbst am 23 Januar 2019 zum Übergangspräsidenten Venezuelas. Die Rechtsopposition ging also gegenüber der regierenden Konkurrenz zu einer putschistischen Politik über, die auch noch sehr kläglich daherkam. Maduro blieb real an der Macht. Am 30. April 2019 versuchte in Venezuela die Rechtsreaktion durch einen Militärputsch an die politische Macht zu gelangen, scheiterte jedoch kläglich.
Wie wir bereits im Kapitel 5 des Textes Rechts- und Linksreaktion in Lateinamerika geschrieben haben, spielt der US-Verbündete Kolumbien eine große Rolle als Schutzmacht der venezolanischen rechten Opposition. Als Teile der ehemaligen FARC-Guerilla im Spätsommer 2019 wieder den bewaffneten Kampf aufnahmen (siehe Kapitel 1 dieses Textes), warf die regierende Rechtsreaktion in Kolumbien ihrer linken Konkurrenz in Venezuela vor, dies zu unterstützen. Kolumbien begann Anfang September 2019 einen Propagandakrieg gegen Venezuela. Der kolumbianische Schwanz versuchte mit dem US-amerikanischen Hund zu wedeln und forderte Washington auf, Venezuela auf die Liste der Staaten zu setzen, die den Terrorismus unterstützen. Nach der Offensive Kolumbiens im Propaganda-Krieg, rasselte das linksreaktionäre venezolanische Regime mit dem Säbel und gab Anfang September 2019 die zweithöchste Alarmstufe Orange für die an der Grenze zum konkurrierenden Nachbarstaat stationierten Truppen aus. Daraufhin erklärte die vom US-Imperialismus dominierte „Organisation Amerikanischer Staaten“ den militärischen Beistand gegen Venezuela. Mitte September 2019 tauchten dann Fotos auf, die den selbsternannten „Übergangspräsidenten“ Guaidó in gemeinsamen Posen mit kolumbianischen Paramilitärs zeigten. Guaidó behauptete, er hätte nicht gewusst mit wem er da zusammen fotografiert wurde.

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