publikationen – Sozialer Widerstand https://swiderstand.blackblogs.org Für die soziale, antipolitische und antinationale Selbstorganisation des Proletariats! Mon, 23 Sep 2024 19:53:23 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 https://swiderstand.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1128/2022/05/cropped-28385945-32x32.png publikationen – Sozialer Widerstand https://swiderstand.blackblogs.org 32 32 Die „K“PD gegen die „Ultralinken“ https://swiderstand.blackblogs.org/2019/10/28/die-kpd-gegen-die-ultralinken/ https://swiderstand.blackblogs.org/2019/10/28/die-kpd-gegen-die-ultralinken/#respond Sun, 27 Oct 2019 22:25:21 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/2019/10/28/die-kpd-gegen-die-ultralinken/ Vor hundert Jahren, im Oktober 1919, warf der „kommunistische“ Parteiapparat den revolutionären Flügel der „K“PD raus. Zu diesem Anlass veröffentlichen wir folgendes Kapitel aus unserer Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923). Die Broschüre könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) auch als E-Book hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

gprpDie führenden Persönlichkeiten des Linksradikalismus (Gorter, Pannekoek, Rühle, Pfemfert)

Die „K“PD gegen die „Ultralinken“

Die KPD war vom Dezember 1918 bis zum Oktober 1919 vom Widerspruch geprägt, dass sie als mit Moskau verbandelte Partei objektiv reaktionär war – aber dennoch stark von der revolutionären Subjektivität der Mehrheit ihrer Mitglieder geprägt war. Doch der strukturelle konterrevolutionäre Charakter der „kommunistischen“ Parteibürokratie als Anhängsel der Kreml-Herren musste sich früher oder später gegen die revolutionäre Subjektivität vieler BasisaktivistInnen durchsetzen.
Wie wir im Kapitel Die Formierung der revolutionären und konterrevolutionären Kräfte schon schilderten, setzte der radikale Flügel der KPD auf dem Gründungsparteitag gegen den Widerstand des „kommunistischen“ Apparates eine antiparlamentarische Linie durch. Eine weitere Niederlage in der Gewerkschaftsfrage konnten die „kommunistischen“ SozialreformistInnen nur durch die Vertagung dieser Frage durchsetzen. Paul Levi, nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg der „kommunistische“ Oberbonze, führte auch in der Gewerkschaftsfrage seinen Kampf gegen den radikalen Flügel der Partei.
Während des Jahres 1919 begannen sich Industrieunionen als klassenkämpferisch-revolutionäre Alternativen zum konterrevolutionären Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) herauszubilden, welche vom radikalen Flügel der KPD klar unterstützt wurden (siehe dazu das Kapitel Die Herausbildung der FAUD (S), des Unionismus und der KAPD). Levi und der gesamte Apparatflügel der „K“PD setzte dagegen auf die Eroberung der ADGB-Bürokratie durch „kommunistische“ Parteibonzen. Doch eine solche „kommunistisch“ eroberte Gewerkschaftsbürokratie hätte natürlich am strukturell sozialreaktionären Charakter der Gewerkschaften gar nichts geändert. Doch es war klar, dass wenn Levi im Verbund mit Moskau gegen den radikalen Flügel die opportunistische Anpassung an den ADGB durchsetzen würde, die Partei eindeutig eine „K“PD werden würde.
Levi hetzte auch total reaktionär gegen den Syndikalismus – eine Hetze, die mit der notwendigen revolutionären Kritik am Syndikalismus nichts zu tun hatte, sondern eine Frontstellung gegen das radikal klassenkämpferische Proletariat bedeutete. So hetzte der „kommunistische“ Parteibürokrat auch gegen die Klassenkampfformen des Langsam arbeiten und der Sabotage als angeblich „syndikalistische“ Kampfmethoden – dabei wendeten diese Methoden weltweit ProletarierInnen an, auch solche, die noch nie etwas vom „Syndikalismus“ gehört haben! Der Syndikalismus ideologisierte nur diese radikale Klassenkampfform. „Kommunistische“ Parteibonzen, die sich von solchen Klassenkampfformen distanzierten und distanzieren, zeigten und zeigen damit nur, dass sie nichts weiter als sich radikal gebärdende sozialdemokratische SpießerInnen waren und sind! Nichts anderes war auch der Moskauhörige Partei-„Kommunismus“!
Um seine konterrevolutionäre Linie durchzusetzen, musste der Apparatflügel die subjektiv ehrlichen RevolutionärInnen aus der Partei rausschmeißen. Dies tat er auch auf dem Heidelberger Parteitag vom 20. bis 24. Oktober 1919. Dieser Parteitag setzte die sozialreformistische Gewerkschaftspolitik der „K“PD-Führung gegen eine Mehrheit der Partei, die ungefähr etwas über 50 Prozent lag, durch. RevolutionärInnen, die diese opportunistische Anpassung an den ADGB ablehnten, wurden aus der Partei gedrängt. Dies kann mensch nicht anders als innerparteiliche Konterrevolution bezeichnen. Während die deutsche Bourgeoisie mit Hilfe der Sozialdemokratie (MSPD und USPD) die letzten Reste des Rätesystems liquidierte, schmissen die „kommunistischen“ Parteibonzen die konsequentesten KämpferInnen für das Rätesystem aus ihrem moskauhörigen Verein raus!
Im Gegensatz zu den Selbsttäuschungen vieler LinkskommunistInnen, die sich subjektiv für die einzig wahren Bolschewiken in Deutschland hielten, wurde der Apparat-Flügel der „K“PD vom Lenin/Trotzki-Regime unterstützt. Der für Deutschland zuständige bolschewistische Bürokrat Radek verteidigte dann auch ideologisch und praktisch die „K“PD-Führung um Levi, während der großartige marxistische Theoretiker Anton Pannekoek für die LinkskommunistInnen seine Lanze brach. Später, im April/Mai 1920 schrieb der Oberbolschewik Lenin gegen die LinkskommunistInnen sein sozialreaktionäres Buch Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit des Kommunismus, in dem er gegen die wirklichen RevolutionärInnen die Parteidiktatur gegen die proletarische Klassendiktatur, den sozialreformistischen Parlamentarismus gegen den revolutionären Antiparlamentarismus und das reaktionäre GewerkschafterInnentum gegen die revolutionäre Selbstorganisation im Klassenkampf verteidigte.
Die LeninistInnen passten sich dem linken Flügel der USPD an, so wie sich dieser opportunistisch an den Moskauer Brotkorb anpasste. Das Ziel Moskaus war eine radikal-sozialdemokratische Massenpartei in Deutschland als verlängerter Arm der sowjetischen Außenpolitik. So war der Rauswurf des radikalmarxistischen Flügels aus der „K“PD auch ein besonderes Geschenk an den linken Flügel der USPD. Der war auch sehr dankbar. Der erbärmliche Rechtszentrist Richard Müller, der durch sein kapitulantenhaftes Verhalten während der Märzkämpfe 1919 in Berlin der Konterrevolution sehr ihren blutigen Job erleichterte, war dann auch sehr zufrieden mit dem Rauswurf der wirklichen RevolutionärInnen aus der „K“PD. Müller schrieb: „Das illegale Leben der Partei machte eine Gesundung schwer. Die Partei hat sich nie von dem Gift ihrer ersten Tage befreien können.“ (Richard Müller, Der Bürgerkrieg in Deutschland, a.a.O., S. 90.) Der Reformist Müller nannte wahrhaft revolutionäre Subjektivität „Gift“ und die innerparteiliche Konterrevolution eine „Gesundung“. So konnte nur ein erbärmlicher Zentrist schreiben, bei dem nur der krankhafte Hass gegen alle wirklich proletarisch-revolutionären Kräfte nicht halbherzig war!

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Die Bayerische „Räterepublik“ https://swiderstand.blackblogs.org/2019/04/11/die-bayerische-raeterepublik/ https://swiderstand.blackblogs.org/2019/04/11/die-bayerische-raeterepublik/#respond Thu, 11 Apr 2019 20:38:22 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/2019/04/11/die-bayerische-raeterepublik/ Wir veröffentlichen hier das Kapitel Die Bayerische „Räterepublik“ aus der Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“. Die gesamte Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“ könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) auch als E-Book hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

nachkriegs

Die Bayerische „Räterepublik“

In Bayern führte am 7. November 1918 eine Münchener Antikriegsdemonstration unter der Führung des pazifistischen USPD-Politikers Kurt Eisner zum Sturz der Monarchie. Die meisten Soldaten wurden auch in München von der Novemberrevolution mitgerissen. In der Nacht bildete sich ein ArbeiterInnen- und Soldatenrat. Dieser ernannte Eisner zum provisorischen Ministerpräsidenten von Bayern. Eisner gehörte dem rechten Flügel der USPD an und war nicht mehr als ein Linksdemokrat. Er wollte das Rätesystem in die parlamentarische Demokratie integrieren. Damit stand er zwischen Revolution und Konterrevolution. Die Konterrevolution wollte das Rätesystem und die mehr oder weniger revolutionären Kräfte strebten die Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie zugunsten eines reinen Rätesystems an. In München gehörten zu den subjektiv revolutionären Kräften die KPD und die kommunistischen AnarchistInnen um Kurt Landauer und Erich Mühsam. Der Letztere hatte damals noch – so wie fast alle RevolutionärInnen – Illusionen in den staatskapitalistischen Bolschewismus und arbeitete, ohne Mitglied zu werden, eng mit der Münchener KPD zusammen. Der kommunistische Anarchismus schuf sich in München durch den Revolutionären Arbeiterrat (RAR) eine eigene Organisation.
Die Konterrevolution stellte in Bayern wie im Deutschen Reich ein Block aus demokratischen und nachmonarchistisch-vorfaschistischen Kräften dar. Hauptkraft des demokratischen Flügels der bayerischen Konterrevolution war die MSPD unter Führung von Erhard Auer, die zusammen mit der USPD unter Eisner eine gemeinsame provisorische Regierung bildete. Wie wir weiter oben schon schrieben, gehörte der rechte Flügel der USPD – einschließlich Kurt Eisners – zum inkonsequenten Schwanz der demokratischen Konterrevolution. Er war für ein parlamentarisches System, in welches das Rätesystem integriert werden sollte. Doch die MSPD wollte als konsequentester Ausdruck der Konterrevolution das Rätesystem vernichten, was auch dessen innere Zersetzung durch MSPD-Räte beinhaltete. Durch möglichst rasche Landtagswahlen sollte in Bayern die reaktionäre Demokratie stabilisiert und dem Rätesystem der Todesstoß versetzt werden. Schließlich einigten sich USPD und MSPD auf den 13. Januar 1919 als Wahltermin für den bayerischen Landtag.
Diesem Sieg der demokratischen Konterrevolution standen das Proletariat und die ArbeiterInnen- und Soldatenräte relativ hilflos gegenüber – aufgrund der eigenen demokratischen Illusionen. Der in München tagende Zentralrat als oberste Instanz des bayerischen Rätesystems hatte kaum eigene Konturen und war auch formal dem bayerischen Innenministerium unterstellt. Es bestanden also im damaligen Bayern beste Voraussetzungen für eine demokratische Zerschlagung des Rätesystems. Doch das mörderische Vorpreschen des ultrafanatischen nachmonarchistisch-vorfaschistischen Flügels der Konterrevolution gab auch den subjektiv revolutionären Kräften neuen Auftrieb.
Doch erzählen wir die Geschichte der Reihe nach. Die Wahlen vom 13. Januar 1919 endeten mit einem Sieg der Bayerischen Volkspartei, gefolgt von der MSPD. Das schwache Abschneiden der USPD mit 3,5 Prozent gab der politischen Hausmacht von Eisner den Todesstoß. Doch dem nachmonarchistisch-vorfaschistischen Flügel der Konterrevolution reichte der demokratische symbolische Todschlag von Eisner nicht aus. Auf dem Weg zum Landtag wurde Eisner am 21. Februar vom Grafen Arco Valley ermordet. Dieser Mörder stand der deutsch-völkischen Thule-Gesellschaft nahe. Lindner, ein Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats hielt MSPD-Chef Auer fälschlicherweise für den Auftraggeber für den Mord an Eisner, stürmte in den Landtag und schoss auf den mehrheitssozialdemokratischen Konterrevolutionär. Nach diesen Schüssen verließen die DemokratInnen fluchtartig ihren Tummelplatz, den Landtag. Das individualterroristische Aufeinanderprallen der konterrevolutionären und revolutionären Kräfte hatte den Parlamentarismus handlungsunfähig gemacht. Dieses Machtvakuum konnte wegen der mangelnden praktisch-geistigen Reife vom Proletariat in Bayern nicht genutzt werden, um sich selbst revolutionär aufzuheben.
So wurde das Machtvakuum vom nichtrevolutionären Zentralrat genutzt. Er berief einen Kongress der ArbeiterInnen-, BäuerInnen- und Soldatenräte ein. Auf diesem Kongress wurde viel geredet, aber nicht revolutionär gehandelt. Mühsam trat auf diesem Kongress für ein reines Rätesystem ein, doch die Mehrheit dieser von einem Teil der MSPD, USPD und des Bayerischen Bauernbundes dominierten Versammlung stand auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie, in welche die Räte integriert werden sollten. Am 18. März 1919 wurde schließlich eine neue bayerische konterrevolutionäre Regierung aus MSPD und USPD unter dem Mehrheitssozialdemokraten Johannes Hoffmann gebildet. Das Proletariat sollte von der neuen Regierung mit der sattsam bekannten Demagogie der „Sozialisierung“ abgespeist werden.
Doch inzwischen wurde am 21. März im benachbarten Ungarn durch eine vorübergehende staatskapitalistische Wende der dortigen Sozialdemokratie eine so genannte „Räterepublik“ gegründet. Die ungarische Sozialdemokratie sah sich außerstande auf privatkapitalistisch-demokratische Weise weiter die Radikalisierung des dortigen Proletariats zu blockieren. Also verschmolz sie mit der „Kommunistischen“ Partei Ungarns und schuf ein Regime, das von Anfang an noch radikaler staatskapitalistisch war als das sowjetrussische unter Lenin/Trotzki (siehe dazu in dieser Broschüre das Kapitel Die weltgeschichtliche Periode zwischen 1914 und 1945 und: Nelke, Klassenkämpfe in Ungarn (1918-1989), a.a.O., S. 11-16).
Illusionen in diese Ungarische „Räterepublik“ radikalisierte auch das Proletariat im benachbarten Bayern. Teile der bayerischen MSPD und die USPD hielten nun die Bildung einer „Räterepublik“ für eine gestaltbare Form von Parteipolitik. So rief dann der von den beiden sozialdemokratischen Parteien dominierte Zentralrat am 7. April 1919 eine Räterepublik aus. Verwirrte AnarchistInnen trugen den neuesten Schwenk sozialdemokratischer Parteipolitik in Bayern mit. Zu ihnen gehörte auch der subjektiv ehrliche – aber auch in wichtigen Fragen sehr verwirrte – Erich Mühsam. Er hatte damals große Illusionen in die Ungarische „Räterepublik“ und traute so eine von ihm verklärte Wende der dortigen Sozialdemokratie auch der in Bayern zu. Die Erfahrungen der 1. Bayerischen „Räterepublik“ sollten ihn eines Besseren belehren. In dieser ersten „Räterepublik“ waren führend der Dichter Erst Toller (USPD), der Schriftsteller Ernst Niekisch (MSPD) und die beiden anarchistischen Schriftsteller Landauer und Mühsam aktiv. Der hohe Anteil von Intellektuellen in dieser „Räterepublik“ erklärt dann auch das Übermaß an Phrasen, mit denen sie sich selbst berauschten. Am 7. April wurde die „Räterepublik“ ebenfalls in den bayerischen Städten Ansbach, Passau, Regensburg und Würzburg ausgerufen, am 8. April folgten unter anderem die Orte Hof, Rosenheim und Schweinfurt. Der gebildeten Regierung in München gehörten unter anderen die USPD-Politiker August Hagemeister, Franz Lipp sowie Soldmann, von der MSPD Otto Neurath – der zuvor in der „normalen“ bürgerlichen Regierung für die Produktion der Sozialisierungsdemagogie zuständig war – an. Der Bayerische Bauernbund war durch Konrad Kübler und Johann Wurzelhofer vertreten, während Landauer und Silvio Gesell (über dessen Theorien siehe das Kapitel Stärken und Schwächen der Rätebewegung von 1918/1919) den anarchistischen Schwanz dieser KleinbürgerInnen-Republik bildeten.
Mühsam versuchte vergeblich die KPD zur Mitarbeit in dieser „Räterepublik“ zu bewegen. Doch die KPD-Zentralen von Deutschland und Bayern lehnten das neue USPD/MSPD-Regime als „Scheinräterepublik“ ab. Der Begriff „Scheinräterepublik“ ist jedoch etwas Unsinniges. Die Republik ist eine demokratische Staatsform des sozialökonomischen Kapitalverhältnisses. Will sich das Proletariat vom Kapitalverhältnis sozial befreien, dann darf sie nicht BerufspolitikerInnen erlauben, es weiter unter dem Firmenschild einer „Räterepublik“ zu regieren. Dann muss es sich selbst revolutionär aufheben, das heißt den Staat zerschlagen und die Warenproduktion aufheben. Die realen Rätesysteme während der europäischen Nachkriegskrise stellten sich dieses Ziel nicht. Sie wurden von sozialdemokratischen und partei-„kommunistischen“ BerufspolitikerInnen dominiert, welche die Rätesysteme als – wenn auch stark deformierte – Organe des selbstorganisierten proletarischen Klassenkampfes nur von innen zersetzen konnten. Es gibt einen Unterschied zwischen privatkapitalistischen und staatskapitalistischen Republiken, aber keinen zwischen „Räterepubliken“ und „Scheinräterepubliken“. Die Ungarische „Räterepublik“ war radikal staatskapitalistisch, die sozialdemokratisch-anarchistische „Räterepublik“ in Bayern tat nichts Konkretes, um die Macht des Privatkapitals zu brechen. Das war auch der Grund, warum die Leitung der KPD sie ablehnte, wenn auch Teile der Parteibasis sie unterstützten. Auch eine wirkliche sozialrevolutionäre, nichtparteiengebundene, konsequent antipolitische und antistaatskapitalistische sozialrevolutionäre Strömung, die es damals noch nicht gab, hätte sich selbstverständlich nicht an dieser „Räterepublik“ beteiligt.
Auch der Teil der MSPD, der in der „Räterepublik“ aktiv war, dachte also nicht daran, konsequent gegen das Privatkapital vorzugehen, die mehrheitssozialdemokratisch dominierte alte Regierung unter Johannes Hoffmann begab sich nach Bamberg und bekämpfte sogar diese sehr inkonsequente „Räterepublik“ mit höchster konterrevolutionärer Konsequenz. Mehrheitssozialdemokratisches Militär putschte in München in der Nacht vom 12. zum 13. April gegen die „Räterepublik“ spielenden Kleinbürger. Doch die Putschisten trafen auf den militanten Widerstand der ArbeiterInnenklasse und der KPD. Die „Räterepublik“ hatte vorher so gut wie nichts gegen die drohende Konterrevolution unternommen. Nun wurde sie zwischen den konterrevolutionären und subjektiv revolutionären Kräften zerschlagen. Nachdem das klassenkämpferische Proletariat mit dem konterrevolutionären Putsch aufgeräumt hatte, dachte sie nicht daran, diese erbärmlichen KleinbürgerInnen weiterhin „Räterepublik“ spielen zu lassen. Eine von der KPD dominierte Versammlung der Betriebs- und Kasernenräte sprach der bisherigen Räteregierung das Misstrauen aus. Nun wurde eine neue, die zweite „Räterepublik“ gegründet, an der sich die KPD beteiligte.
Diese zweite „Räterepublik“ kämpfte wesentlich konsequenter gegen die privatkapitalistische Konterrevolution als die erste, doch als parteien- und staatsförmiges Politikmodell konnte sie objektiv nicht das Kapitalverhältnis aufheben, die Verstaatlichung der Produktionsmittel war das radikalste, was von ihr zu erwarten gewesen wäre. Damit wäre die „Räterepublik“ in die staatskapitalistische Konterrevolution umgeschlagen. Doch sowohl Bourgeoisie als auch Proletariat waren sozial schon zu stark entwickelt, als dass sie sich einen Staatskapitalismus wie in Russland hätten gefallen lassen. So machte dann die deutsche Bourgeoisie auch mit der Zweiten „Räterepublik“ durch konterrevolutionären Terror Schluss.
Die am 14. April 1919 gegründete zweite „Räterepublik“ entmachtete den alten Zentralrat und ermächtigte einen fünfzehnköpfigen Aktionsausschuss, dem MSPD-, USPD- und KPD-Mitglieder angehörten. Dieser Aktionsausschuss ermächtigte wiederum einen vierköpfigen Vollzugsrat unter der Führung des Kommunisten Eugen Leviné. Dieser Vollzugsrat rief sofort zu einem zehntägigen Generalstreik und der Bewaffnung des Proletariats auf. Durch eine Militärkommission wurde unverzüglich eine Rote Armee unter der Führung des Kommunisten Rudolf Egelhofer aufgebaut. Außerdem wurde eine Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution eingerichtet. Auch organisierte die zweite „Räterepublik“ die „ArbeiterInnenkontrolle“ in den Groß- und Verkehrsbetrieben sowie in den Banken. In Sowjetrussland war eine solche „ArbeiterInnenkontrolle“ die Vorstufe zur Verstaatlichung gewesen. Auch die zweite Bayerische Räterepublik bereitete die Verstaatlichung der Banken vor. Selbstverständlich wäre auch in Bayern der Sieg des Staatskapitalismus – für den es keinerlei objektive und subjektive Voraussetzungen gab – das Ende des Rätesystems als Ausdruck der proletarischen Selbstorganisation im Klassenkampf gewesen. Eine straffe staatsförmige Zentralisierung der Macht war der zweiten „Räterepublik“ schon anzusehen.
Doch die privatkapitalistische Konterrevolution verhinderte erfolgreich die Etablierung eines staatskapitalistischen Regimes in Bayern. Sie verhängte eine Blockade über das Gebiet der „Räterepublik“. Bayern wurde von Noske-Truppen und Freikorps besetzt. Die zentristische Münchener USPD widersetzte sich dem konsequenten Kampf gegen die Konterrevolution und trat für total illusorische Verhandlungen mit der MSPD-Regierung in Bamberg ein. Doch die hatte schon lange nichts mehr zu melden. Bluthund Noske hatte übernommen und erfüllte auch in Bayern konsequent-ultrafanatisch seinen konterrevolutionären Auftrag. Verhandeln mit der Konterrevolution?! Absolut sinnlos! Doch die USPD konnte sich auf einer Betriebsräteversammlung am 27. April gegen den Widerstand der KPD mit ihrer Forderung nach Verhandlungen durchsetzen. Der Aktionsausschuss trat daraufhin zurück und USPD-Politiker Toller als Wortführer der Kapitulanten wurde abermals zum Vorsitzenden gewählt. Das war das politische Ende der zweiten „Räterepublik“.
Doch die Rote Armee blieb weiterhin unter kommunistischer Kontrolle und begann ein Eigenleben zu entwickeln. Sie führte gegen den Willen der neuen politischen „Führung“ den Kampf gegen die Konterrevolution fort. Unsere Vorstellung von der Diktatur des Proletariats beruht auf ArbeiterInnenmilizen, die eindeutig unter Kontrolle der Organe der proletarischen Selbstorganisation stehen müssen. Doch in Fall Bayerns wollte die Mehrheit der Betriebsräte nicht kämpfen, sondern verhandeln. Dadurch hatte sich die Rote Armee, die weiterhin gegen die Konterrevolution kämpfte, objektiv vom realen Rätesystem gelöst. Im Gegensatz zu kleinbürgerlichen MoralistInnen wollen wir die Tötung von zehn Geiseln – meistens Mitglieder der konterrevolutionären Thule-Gesellschaft – am 30. April 1919 durch die Rote Armee angesichts des konterevolutionären Terrors weder verurteilen noch verteidigen. Nach der Darstellung von Richard Müller plante die Rote Armee auch gegen die neue politische Führung unter Toller zu putschen. (Richard Müller, Der Bürgerkrieg in Deutschland, a.a.O., S. 199.) Wir verteidigen keineswegs die kapitulantenhafte Politik der USPD, aber ein Militärputsch hätte mit der wirklichen sozialen Revolution auch nichts zu tun gehabt.
Doch zu einem solchen Putsch kam es ja auch nicht mehr. Die privatkapitalistische Konterrevolution brach den Widerstand der Roten Armee. Am 1. Mai 1919 drangen die konterrevolutionären Truppen in München ein, das nur noch von einem Teil der Roten Armee verteidigt wurde. Am 4. Mai kapitulierte die letztere nach verzweifeltem Widerstand. Nun begann die blutige Rache der Konterrevolution, die am 6. Mai 1919 auch nicht davor zurückschreckte mit der Räterepublik nicht das Geringste zu tun habende 21 katholische Gesellen zu ermorden. Landauer und Eglhofer wurden von diesen Handlangern der Bourgeoisie am 2. Mai ermordet. Ungefähr 1000 Menschen fielen der triumphierenden Konterrevolution zum Opfer. Levine wurde zum Tode verurteilt und am 6. Juni hingerichtet. Über 2200 AktivistInnen des Rätesystems – unter ihnen auch Erich Mühsam – wurden oft jahrelang eingesperrt. Mit dem Triumph der Konterrevolution in Bayern endete die heißeste Phase der revolutionären Nachkriegskrise.

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Die Bremer „Räterepublik“ https://swiderstand.blackblogs.org/2019/02/11/die-bremer-raeterepublik/ https://swiderstand.blackblogs.org/2019/02/11/die-bremer-raeterepublik/#respond Mon, 11 Feb 2019 21:25:49 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=158 Wir veröffentlichen hier das Kapitel Die Bremer „Räterepublik“ aus der Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“. Die gesamte Broschüre „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“ könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) auch als E-Book hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

nachkriegs

Die Bremer „Räterepublik“

In Bremen eroberten die politischen Parteien USPD und KPD (S) auf Basis des Rätesystems am 10. Januar 1919 die Staatsmacht und errichteten die Bremer „Räterepublik“. Objektiv betrachtet konnte die von politischen Parteien getragene „Räterepublik“ nur eine Keimform eines staatskapitalistischen Regimes sein, welche jedoch in Deutschland nicht weiter gedeihen konnte. Politische Parteien und das Kapitalverhältnis reproduzieren sich gegenseitig. Das Radikalste, was Parteien leisten können, ist die Verstaatlichung des Kapitals. Das Kapital überwinden können nur nicht parteienförmig organisierte ProletarierInnen. Doch damals fehlte es noch an Erfahrungen zur Formulierung dieser Erkenntnis und vor allem an einer revolutionären Praxis, die auf dieser Erkenntnis aufbaute. Urteilen wir deshalb nicht zu streng über die Bremer „Räterepublik“.
Sie entstand in aktiver Solidarität mit den Berliner Januarkämpfen. Sie bekämpfte konsequent die privatkapitalistische Konterrevolution. Der Bremer ArbeiterInnen- und Soldatenrat wurde von proprivatkapitalistisch-mehrheitssozialdemokratischen Kräften gesäubert, so dass diese nicht länger im Interesse der Bourgeoisie das Rätesystem von innen zersetzen konnten. Der demokratisch-reaktionäre Senat wurde aufgelöst und durch einen Rat der Volkskommissare ersetzt. Diesem gehörten je drei VertreterInnen von USPD und KPD an. Es bildete sich auch ein Vollzugsrat mit 15 Mitgliedern. Führende Persönlichkeiten der „Räterepublik“ waren Alfred Henke (USPD), Karl Jannack und Johann Knief (beide KPD). Der Rat der Volkskommissare erklärte Bremen zur selbständigen sozialistischen Republik. Er ordnete die Entwaffnung der bürgerlichen Kräfte und die Bewaffnung des Proletariats an. Auch das Standrecht wurde verhängt. Die bürgerliche Presse wurde unter Vorzensur gestellt. Bewaffnete Arbeiterbataillone bereiteten sich auf den Kampf mit der Konterrevolution vor. Alle ArbeiterInnen- und Soldatenräte in Deutschland wurden aufgefordert dem Bremer Beispiel zu folgen.
Am 14. Januar 1919 kam es in Bremen zu einem Putschversuch von Teilen der Garnison gegen die „Räterepublik“. Sie versuchten die ArbeiterInnen der Weser-Werft zu entwaffnen. Doch dieser Putschversuch wurde niedergeschlagen. Die Reichsbank verhängte den finanziellen Boykott über die Bremer „Räterepublik“. Noske schickte seine konterrevolutionären Truppen. Am 4. Februar 1919 drang die reaktionäre Division Gerstenberg in Bremen ein. Isoliert vom Reich stellte sich das revolutionäre Proletariat von Bremen einen Kampf, den es nur verlieren konnte. Am Abend des 4. Februar hatte der konterrevolutionäre Terror den letzten proletarischen Widerstand erstickt und die Bremer „Räterepublik“ niedergeschlagen.

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Neue Broschüre: Antinationale Schriften II https://swiderstand.blackblogs.org/2015/02/23/neue-broschuere-antinationale-schriften-ii/ https://swiderstand.blackblogs.org/2015/02/23/neue-broschuere-antinationale-schriften-ii/#respond Mon, 23 Feb 2015 21:00:52 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=102 Unsere neue Broschüre aus der Reihe Antinationale Schriften (ca. 120 Seiten) von Soziale Befreiung (Hg.) ist da. Die Broschüre könnt ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

 

Inhalt

Einleitung

Der kurdische Nationalismus als ein Feind des Weltproletariats

1. Der kurdische Nationalismus
2. Der Imperialismus, der IS und der kurdische Nationalismus
3. Hoch die antinationale Solidarität!

Nationalistische und rassistische Repression der „internationalen Gemeinschaft“

1. Internationale Repression gegen das migrantische Proletariat
2. Nationalistische Repression gegen MigrantInnen in der BRD
3. Weißer Rassismus und schwarzer Nationalismus in den USA

Einleitung

Mit der Herausgabe der Antinationalen Schriften bekämpfen wir konsequent den Nationalismus. Israelfahnen sind für uns genauso ein optisches Brechmittel wie Deutschlandfahnen. Auch bekämpfen wir den Nationalismus von unterdrückenden Staaten genauso konsequent wie den von nationalen Befreiungsbewegungen, die noch für einen eigenen Staat kämpfen. Der palästinensische Nationalismus zum Beispiel kann die soziale Unfreiheit der palästinensischen ProletarierInnen nur reproduzieren.
In der Schrift Der kurdische Nationalismus als ein Feind des Weltproletariats nehmen wir eine Projektionsfläche der kleinbürgerlichen politischen Linken kritisch unter die Lupe. In diesem Text weisen wir nach, dass der kurdische Nationalismus und damit auch sein Lautsprecher, die kleinbürgerliche politische Linke, in imperialistische Strategien eingebunden sind. Der linksbürgerliche „Antiimperialismus“ liegt schon halb mit dem Imperialismus im Bett. Einige Teile der Linken sind bereits zur Paarung bereit, andere zieren sich noch etwas…
Nationalstaaten sind die Durchsetzungsformen des globalen Kapitalismus. Durch den Nationalismus soll das jeweilige inländische KleinbürgerInnentum und Proletariat in das Nationalkapital integriert werden, während das unerwünschte „ausländische“ Proletariat auf die sozialdarwinistisch-nationalistische Repression trifft. Das ist ein globales Phänomen des Weltkapitalismus, wie wir in der Schrift Nationalistische und rassistische Repression der „internationalen Gemeinschaft“ ausführlicher darlegen werden. Auch die ethnische und rassistische Aufhetzung des jeweiligen Kernes einer Nation (wie zum Beispiel der weiße Rassismus in den USA gegen nationalistisch und rassistisch diskriminierte Minderheiten) funktioniert nach wie vor auch bestens in Demokratien, wie dieser Text ebenfalls aufzeigt.
Hoch die antinationale Solidarität!
ProletarierInnen aller Länder, vereinigt euch!

Nelke, im Februar 2015

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Neue Broschüre: Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923) https://swiderstand.blackblogs.org/2014/11/25/neue-broschuere-die-revolutionaere-nachkriegskrise-in-deutschland-1918-1923/ https://swiderstand.blackblogs.org/2014/11/25/neue-broschuere-die-revolutionaere-nachkriegskrise-in-deutschland-1918-1923/#respond Mon, 24 Nov 2014 22:12:38 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=97 Unsere neue Broschüre: „Die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland (1918-1923)“ (ca. 122 Seiten) von Soziale Befreiung (Hg.) ist da. Die Broschüre könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Inhalt

Einleitung
1. Das deutsche Kaiserreich
2. Marxismus und Anarchismus vor dem Ersten Weltkrieg
3. Die weltgeschichtliche Periode zwischen 1914 und 19451
4. Die Novemberrevolution
5. Die Formierung der revolutionären und konterrevolutionären Kräfte
6. Die Januarkämpfe in Berlin
7. Die Bremer „Räterepublik“
8. Das Hamburger Rätesystem
9. Massenstreiks und bewaffnete Kämpfe
10. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin
11. Die Bayerische „Räterepublik“
12. Stärken und Schwächen der Rätebewegung von 1918/19
13. Die „K“PD gegen die „Ultralinken“
14. Der Kapp-Putsch
15. Die Rote Ruhrarmee
16. Die Herausbildung der FAUD (S), des Unionismus und der KAPD
17. Die Märzkämpfe von 1921
18. Die angeblich „revolutionäre Situation“ von 1923
19. Das geistige Erbe der revolutionären Nachkriegskrise

Die weltgeschichtliche Periode zwischen 1914 und 1945

Um die weltgeschichtliche Bedeutung der revolutionären Nachkriegskrise in Deutschland zu verstehen, ist es zum einen notwendig sie als Teil der europäischen Nachkriegskrise zu betrachten und zweitens erforderlich die letztgenannte im Rahmen der Periode zwischen 1914 und 1945 zu analysieren. Wir wollen dies in dieser Broschüre relativ kurzgefasst tun. Die interessierten LeserInnen seien auf die ausführlicheren Darstellungen dieser welthistorischen Periode in der Broschüre Klassenkämpfe in Griechenland (2008-2013), Soziale Befreiung, Bad Salzungen 2013, S. 10-18 und in dem Text Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf in: Nelke, Schriften zum Klassenkampf III, 2014, S. 58-90 verwiesen. Während der erstgenannte Text sich stärker auf die sozialökonomischen Bedingungen dieser Periode konzentriert, legt die zweite Schrift mehr Wert auf die Schilderung der Klassenkämpfe in diesem Zeitraum.
Wie wir weiter oben schon ausführten, werden die objektiven Bedingungen einer revolutionären Situation stark von der weitgehend blinden Bewegung der Kapitalvermehrung bestimmt. Zur Kapitalvermehrung verwandelt der Kapitalist sein Geldkapital in produktives Kapital, indem er Produktionsmittel als sachliches produktives Kapital kauft und die menschlichen kleinbürgerlichen und proletarischen Arbeitskräfte anmietet. Die Arbeitskräfte sind im kapitalistischen Produktionsprozess nichts anderes als menschliches produktives Kapital, die mit Hilfe der Produktionsmittel das Warenkapital produzieren. Der Wert dieses Warenkapitals entspricht der durchschnittlichen gesellschaftlich notwendigen Herstellungszeit dieses Produktes. Allerdings wird der Preis einer Ware auch durch das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Markt bestimmt, der Warenpreis ist also in der Regel höher oder niedriger als der Warenwert.
Bei der Produktion des Tauschwertes/des Preises des neuen Produktes, übertragen die Arbeitskräfte den Wert der Produktionsmittel auf die neuentstehende Ware. Gleichzeitig fügen sie während ihrer Arbeitszeit dem neuen Produkt Neuwert zu. In einer selbstreproduktiven Arbeitszeit produzieren sie einen Wert, der ihrem eigenen Lohn entspricht, während sie in einer Mehrarbeitszeit Mehrwert für die Bourgeoisie produzieren. Das Verhältnis zwischen den Löhnen und dem Mehrwert ist die Mehrwertrate, die in Prozenten angegeben wird. Sie ist die Ausbeutungsrate des Proletariats.
Für die Bourgeoisie dagegen ist die Profitrate, das Verhältnis zwischen Lohn- und Produktionsmittelkosten auf der einen und dem Mehrwert auf der anderen Seite wirklich praktisch wichtig. Außerdem verschwindet in der theoretischen Kategorie der Profitrate die kapitalistische Ausbeutung des Proletariats, während die für alle SozialrevolutionärInnen wichtige Kategorie der Mehrwertrate diese Ausbeutung offenbart. Durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, bei der viele ursprüngliche Funktionen des menschlichen produktiven Kapitals zu Funktionen der sachlichen Produktionsmittel werden, steigen die Kosten für das sachliche produktive Kapital tendenziell relativ schneller als die Profitmasse. Die Folge ist ein tendenzieller Fall der Profitrate.
Zum tendenziellen Fall der Profitrate gibt es eine wichtige Gegentendenz und eine wichtige Kompensationsmöglichkeit. Die Gegentendenz ist die Erhöhung der Ausbeutung des Proletariats, was die Mehrwertrate anwachsen lässt. Doch die Erhöhung der Mehrwertrate trifft sowohl auf biosoziale Schranken als auch auf den klassenkämpferischen Widerstand des Proletariats. Der tendenzielle Fall der Profitrate führt also potenziell zu einer Verschärfung der Klassenkämpfe. Die Kompensationsmöglichkeit zum tendenziellen Fall der Profitrate ist die Erhöhung der Profitmasse. Ein größeres Kapital erzielt auch eine höhere Profitmasse. Die wachsende Konzentration und Zentralisation des Kapitals ist also eine wichtige Kompensation zum tendenziellen Fall der Profitrate. Sie setzt sich vor allem in der Konkurrenz durch. Größeres und ökonomisch potenteres Kapital frisst massenhaft kleineres und kriselndes. So verschärft der tendenzielle Fall der Profitrate die kapitalistischen Konkurrenzkämpfe.
Der tendenzielle Fall der Profitrate führt zu einem tendenziellen Fall der Kapitalvermehrungsrate. Auf den Warenmärkten verwandeln die KapitalistInnen ihr Warenkapital in Geldkapital zurück. Durch den vom Proletariat erzeugten Mehrwert haben sie jetzt mehr Geld als vor dem erloschenem Produktionsprozess. Ein Teil des Geldes setzt die herrschende kapitalistische Klasse in Konsumgüter für ihre biosoziale Reproduktion um, den anderen Teil investiert sie in noch mehr Produktionsmittel und in noch mehr lebendige Arbeitskräfte, also in die Kapitalvermehrung. Die Kapitalvermehrungsrate ist das Verhältnis zwischen dem bereits fungierendem Kapital und dem neu angelegten. Durch den tendenziellen Fall der Profitrate wird auch ein erheblicher Druck auf die Kapitalvermehrungsrate ausgeübt.
Es lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Perioden der Kapitalvermehrung unterscheiden: die beschleunigte Vermehrung des Kapitals und die strukturelle Kapitalvermehrungskrise. In beiden Perioden vermehrt sich das Kapital zyklisch, also durch Aufschwung und Krise hindurch. Doch während der strukturellen Kapitalvermehrungskrise sind die zyklischen Aufschwünge weniger expansiv wie in der Periode der beschleunigten Kapitalvermehrung. Dafür werden die Krisen häufiger und tiefer…
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren besonders sowohl die USA als auch das deutsche Kaiserreich in einer Periode der beschleunigten Kapitalvermehrung. Doch die allgemeinen Tendenzen der Kapitalvermehrung ließ auch diese beiden Länder durch den tendenziellen Fall der Profitrate in den Zustand der strukturellen Kapitaluntervermehrungskrise hinabgleiten. Diesen Zustand hatte der westeuropäische und US-amerikanische Kapitalismus im Jahre 1914 erreicht (siehe über das Sinken der Kapitalvermehrungsrate in den USA: Nelke, Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf, a.a.O., S. 58 und 61).
Die Periode der strukturellen Kapitaluntervermehrung zwischen 1914 und 1945 in Westeuropa und in den USA ist stark durch das Dreiecksverhältnis aus Krise, Krieg und Klassenkampf geprägt. 1914 befanden sich alle wichtigen Nationalkapitale in einer zyklischen Krise, welche zugleich auch die strukturelle Kapitaluntervermehrung zum Ausdruck brachte. Die Kapitalvermehrung ist sowohl durch die Nachfrage auf den Märken bestimmt, zugleich bestimmt aber auch die Kapitalvermehrung die Marktnachfrage. Sie bestimmt direkt die Nachfrage nach Produktionsmitteln und vermittelt über den Konsum der Bourgeoisie und des Proletariats auch indirekt die Nachfrage nach Konsumgütern. Eine sinkende Kapitalvermehrungsrate ist also mit einer sinkenden Nachfrage nach Produktionsmitteln, ein potenzieller Anstieg der Arbeitslosigkeit, ein Sinken der Profite und Löhne sowie eine sinkende Nachfrage nach Konsumgütern geprägt. Die Kapitale haben wachsende Schwierigkeiten auf den verschiedenen Märkten ihr Waren- in Geldkapital umzuwandeln und dadurch ihre Profite zu realisieren. Die strukturelle Kapitalvermehrungskrise ist dadurch die Quelle für zyklische Profitrealisationskrisen. Der Erste Weltkrieg erzeugte massenhaft eine dritte Nachfrage: die staatliche Nachfrage nach Zerstörungsmitteln. Dadurch kompensierten Rüstung und Erster Weltkrieg und deren Nachfrage nach Zerstörungsmitteln die rückgehende Nachfrage nach Produktionsmitteln und Konsumgütern.
Der Erste Weltkrieg hatte für die direkt teilnehmenden und die offiziell „neutralen Staaten“ unterschiedliche sozialökonomische Auswirkungen. Auch relativ und absolut schwache Nationalkapitale wie das spanische konnten sich sozialökonomisch durch den Ersten Weltkrieg stabilisieren, indem sie die kriegführenden Staaten mit notwendigen Waren versorgten. Aber die größte Kriegsgewinnerin waren die USA. Bevor sie 1917 in den Krieg direkt einstiegen, belieferten sie England und Frankreich mit Zerstörungs- und Lebensmitteln. Dadurch geriet das US-Nationalkapital aus einer Krise geradezu in ein Kriegsboom (siehe dazu ausführlicher: Nelke, Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf, a.a.O., S. 78-80). Gleichzeitig wurden durch den Ersten Weltkrieg die europäischen Hauptkonkurrenten der USA nachhaltig geschwächt.
Bei den am Krieg teilnehmen europäischen Staaten profitierten zwar die privaten Einzelkapitale von dem imperialistischen Gemetzel, aber die Nationalkapitale gerieten durch den blutigen Sog auch in schwere Krisen. Fast alle kriegsteilnehmenden Staaten verschuldeten sich im Ersten Weltkrieg. Deutschland war der größte Verlierer des Ersten Weltkrieges, aber die privaten deutschen Einzelkapitale gehörten zu den Kriegsgewinnern. Die Profite in der deutschen Metallindustrie stiegen während des Ersten Weltkrieges um durchschnittlich 175 Prozent und in der Chemischen Industrie sogar um 200 Prozent. Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals nahm in Deutschland während des blutigen Gemetzels ebenfalls enorm zu. Großunternehmen wie die AEG oder Siemens wurden noch größer, während viele kleinere Handwerksbetriebe und Unternehmen, welche Konsumgüter produzierten, massenhaft in eine prekäre Situation gerieten.
Durch den Ersten Weltkrieg konnte mit seiner starken Nachfrage nach Zerstörungsmitteln die zurückgehende Nachfrage nach Produktionsmitteln und Konsumgüter, die eine Folge der strukturellen Kapitalvermehrungskrise war, kompensiert werden. Der Erste Weltkrieg war auch eine Folge der Zunahme des Konkurrenzkampfes der Nationalkapitale, die letztendlich auch durch den tendenziellen Fall der Profit- und Kapitalvermehrungsraten verschärft wurde.
Gleichzeitig war der Erste Weltkrieg ein ultrarepressiver Klassenkampf von oben, den die Weltbourgeoisie gegen das globale Proletariat führte. Das Weltproletariat massakrierte sich gegenseitig für die Profite des Weltkapitals. Durch den nationalistischen Taumel zu Beginn des Krieges und durch die Integration des größten Teiles der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung in die Nationalkapitale gelang es der Bourgeoisie der kriegführenden Staaten den Klassenkampf des Proletariats zuerst einzudämmen. Die soziale Verelendung des Proletariats im Verlauf des blutigen Gemetzels führte aber zu dessen Ende wieder zu einer Verschärfung des Klassenkampfes und mündete schließlich in der europäischen revolutionären Nachkriegskrise (1917-1923).
Schauen wir uns den globalen Prozess, bei dem der Erste Weltkrieg zuerst zu einer Eindämmung des proletarischen Klassenkampfes und dann zu dessen Verschärfung führte, etwas genauer an. Besonders das letzte Jahrzehnt vor 1914 war global durch die Zunahme von Klassenkämpfen – besonders von Massenstreiks –geprägt. Große Massenstreiks entwickelten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Belgien und Schweden zur Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts. Das gewaltigste Beispiel des zunehmen Klassenkampfes war jedoch die russische Revolution von 1905 mit ihren dynamischen Massenstreiks. Auch die ArbeiterInnenräte entstanden in dieser Revolution zum ersten Mal. Die Sowjets (russisch für Räte) von 1905 waren viel unmittelbarer ein Ausdruck des selbstorganisierten Klassenkampfes als die während der europäischen revolutionären Nachkriegskrise, die leider von BerufspolitikerInnen der „ArbeiterInnenparteien“ weitgehend beherrscht wurden. Doch leider konnte diese Revolution von 1905 noch einmal vom Zarismus niedergeschlagen werden.
Der Erste Weltkrieg führte dann wie gesagt global zuerst zur Eindämmung und dann wieder zur Verschärfung des Klassenkampfes. Eröffnet wurde die europäische revolutionäre Nachkriegskrise im Jahre 1917 durch die Februarrevolution (nach dem alten russischen Kalender) in Russland. Das junge und sehr klassenkämpferische Proletariat Petrograds fegte den Zarismus hinweg. Es entstand eine Doppelherrschaft durch die in Räten organisierten ArbeiterInnen und Soldaten auf der einen und der provisorischen Regierung auf der anderen Seite. Die BerufspolitikerInnen der sozialdemokratisch-menschewistischen und der „sozialrevolutionären“ Partei saßen sowohl in der proprivatkapitalistischen Regierung als auch in den Räten. Durch diese Auspallancierung glaubten Menschewiki und „SozialrevolutionärInnen“ eine weitere Radikalisierung des Proletariats und der BäuerInnen verhindern zu können. Doch da die provisorische Regierung den imperialistischen Krieg weiterführte und unwillig und unfähig zu einer Bodenreform war, radikalisierten sich zwischen Februar und Oktober 1917 sowohl das Proletariat als auch die BäuerInnen.
Doch das Proletariat in Russland war sozial noch zu schwach und geistig unreif, um sich revolutionär aufheben zu können. Es war noch in der Minderheit, die kapitalistische Industrialisierung hatte erst begonnen. Außerdem hatten auch die klassenkämpferischsten ArbeiterInnen während der russischen Revolution noch kein klares antipolitisches Bewusstsein. So wurden die ArbeiterInnenräte von den PolitikerInnen der „ArbeiterInnenparteien“ dominiert. Doch die russische Bourgeoisie erwies sich ebenfalls 1917 als zu schwach, um sowohl mit der monarchistischen Konterrevolution als auch mit dem klassenkämpferischen Proletariat fertig zu werden. Diese soziale Schwäche von Bourgeoisie und Proletariat wurde von der Bürokratie des radikalen Flügels der russischen Sozialdemokratie, der bolschewistischen Partei, ausgenutzt. Durch eine geschickte Propaganda, die allen alles versprach, gelang es den bolschewistischen BerufspolitikerInnen in den Räten immer stärker zu werden, um dann im Oktober 1917 (ebenfalls nach dem alten russischen Kalender) die politische Macht zu erobern. Ihre Herrschaft nannte die bolschewistische Parteibürokratie demagogisch „Sowjetrepublik“. In Wirklichkeit begann die Ausschaltung der Räte gleich mit der politischen Machtübernahme durch den Bolschewismus. Die Oktoberrevolution war der Höhepunkt der antifeudal-antiprivatkapitalistischen Revolution und zugleich der Umschlagmoment in die staatskapitalistische Konterrevolution. Weil der staatskapitalistische Bolschewismus am besten den Bedürfnissen der Vermehrung des russischen/sowjetischen Nationalkapitals entsprach, konnte er sich auch im BürgerInnen- und imperialistischen Interventionskrieg (1918-1921) gegen alle sozialreaktionären und -revolutionären GegnerInnen durchsetzen und danach die Sowjetunion durch unvorstellbaren Terror zur Industrienation „gestalten“. Die russische Revolution wurde vom Bolschewismus im März 1921 durch die konterevolutionäre Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes beendet (siehe dazu ausführlicher: Nelke, Schriften zur russischen Revolution, Soziale Befreiung, Bad Salzungen 2012).
Neben dem russischen Zarismus und dem deutschen Kaiserreich überlebte auch die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie nicht den Ersten Weltkrieg und die revolutionäre Nachkriegskrise. Da besonders die so genannte „Ungarische Räterepublik“ im Jahre 1919 auch auf die damalige Situation in Deutschland einwirkte –besonders auf die „Bayerische Räterepublik“ (siehe das entsprechende Kapitel in dieser Broschüre) – wollen wir hier auf die Radikalisierung des Klassenkampfes in Ungarn infolge des Weltkrieges kurz eingehen. Eine ausführlichere Darstellung dazu können die interessierten LeserInnen in unserem Text Klassenkämpfe in Ungarn (1918-1989) in Schriften zum Klassenkampf II, Bad Salzungen 2013, S. 6-16 finden.
Im ungarischen Teil der Doppelmonarchie führten die verschärfte Ausbeutung und das wachsende soziale Elend des Proletariats ab 1915/16 zu einer Zuspitzung des Klassenkampfes. Auch in Ungarn stand die Sozialdemokratie auf der Seite der Kriegstreiber. Die sich anbahnende Niederlage im Krieg radikalisierten große Teile des Proletariats und des KleinbürgerInnentums. Mit Hilfe der Doppelmonarchie ließ sich 1918 nicht mehr erfolgreich der Klassenkampf von oben führen. Das Proletariat und große Teile des KleinbürgerInnentums konnten und wollten nicht mehr so leben wie bisher. So reifte objektiv eine revolutionäre Situation in Ungarn heran – ähnlich wie im deutschen Kaiserreich. Ausdruck der reifenden revolutionären Situation in Österreich-Ungarn und in Deutschland waren die Massenstreiks in diesen Ländern Januar/Februar 1918. Das ungarische politische Personal der Doppelmonarchie hatte sich im Verlauf des imperialistischen Gemetzels und des proletarischen Widerstandes dagegen zerschlissen. Nun mussten die ungarischen DemokratInnen – einschließlich der Sozialdemokratischen Partei Ungarns (SPU) – ran, um zu versuchen den Großgrundbesitz und das relativ schwach entwickelte Privatkapital in Ungarn zu retten.
Die wachsenden Widerstände gegen das Blutbad des Krieges führten im Oktober 1918 zu einer Zersetzung der ungarischen Armee. Am 25. Oktober bildete sich der Zentrale Soldatenrat, in welcher der radikalmarxistische Flügel der Sozialdemokratie eine große Rolle spielte. Ebenfalls am 25. Oktober wurde eine neue demokratisch-nationalistische Regierung unter Einschluss der SPU gebildet – um dem proletarischen und kleinbürgerlichen Widerstand zu brechen. Dieser demokratische Flügel produzierte auch viel Nationalismus zur Formierung eines von Österreich unabhängigen Ungarns. Mit dieser demokratisch-nationalistischen Politik konnte die neue Regierung unter dem liberalen Grafen Mihaly Karolyi sich aber nur eine kurze Zeit halten. Am 29. Oktober entwickelte sich in Budapest ein Generalstreik. In dem zuspitzenden Klassenkampf entwickelten sich auch in Ungarn die Organe der proletarischen Selbstorganisation während der revolutionären Nachkriegskrise, die ArbeiterInnenräte. Aber auch in diesem Land waren sie dominiert von den sozialdemokratischen BerufspolitikerInnen, was die Räte als Organe des selbstorganisierten Klassenkampfes stark deformierte. Die Doppelmonarchie konnte am 31. Oktober durch eine gewaltige proletarische Straßenbewegung in Budapest, die sich einen Tag davor zu entwickeln begann, gestürzt werden, doch nun übernahm es die Demokratie als neue Staatsform den Klassenkampf von oben zu organisieren. Am 3. November 1918 unterzeichneten Österreich und Ungarn einen Waffenstillstand mit der Entente und am 16. desselben Monats wurde die von Österreich unabhängige Ungarische Republik proklamiert.
Doch die ungarischen KleinbäuerInnen verlangten von der linksdemokratischen Regierung eine Bodenreform, die diese nicht durchführen wollte und konnte, da auch die ungarische Bourgeoisie zu stark sozial mit den GroßgrundbesitzerInnen verschmolzen war. Diese kleinbürgerliche Agrarbewegung verjagte die GroßgrundbesitzerInnen und setzte in der Landwirtschaft kleinbürgerlich-individuelles und kleinbürgerlich-kollektives Eigentum (Genossenschaften) durch. So entwickelte sich auf dem Land eine kleinbäuerliche Massenbewegung, die massenhaft nach einer kleinbürgerlichen Warenproduktion – einschließlich von Genossenschaften – strebte. Auch die lokalen ArbeiterInnenräte gingen zu Fabrikbesetzungen über. Durch die kleinbürgerliche Agrarbewegung und den proletarischen Klassenkampf war es der privatkapitalistischen Demokratie nicht möglich sich zu stabilisieren. Am 20. Februar 1919 entwickelten sich bewaffnete Kämpfe zwischen dem demokratischen Regime und dem klassenkämpferischen Proletariat.
Das nutzte die staatskapitalistische Sozialreaktion unter dem Firmenschild der „Ungarischen Räterepublik“. Am 21. November bildete sich die prostaatskapitalistische „Kommunistische“ Partei Ungarns („K“PU), welche nach bolschewistischem Vorbild die kleinbäuerliche und proletarische Unzufriedenheit mit der Demokratie auszunutzen begann. Doch ohne eine kurze staatskapitalistische Wende der zuvor proprivatkapitalistischen SPU wäre die so genannte „Räterepublik“ nie möglich gewesen. Zur kurzfristigen staatskapitalistischen Wende der ungarischen Sozialdemokratie kam es aufgrund des imperialistischen Druckes der Entente, welche die Aufgabe von Teilen Ungarns verlangte. Diesem Druck konnte das privatkapitalistisch-demokratische Regime nicht länger widerstehen und trat am 20. März 1919 zurück. Die SPU verschmolz mit der „K“PU unter Führung des „kommunistischen“ Bürokraten Bela Kun am 21. März. An diesem Tag wurde auch die „Ungarische Räterepublik“ als staatskapitalistisches Regime proklamiert. In dieser seltsamen „Räterepublik“ löste sich der Zentrale Arbeiterrat in Budapest selbst auf und übertrug die Legitimation an die sich formierende staatskapitalistische Regierung.
Die „ungarische Räterepublik“ war von Anfang an wesentlich radikaler staatskapitalistisch ausgerichtet gewesen als das bolschewistische Lenin/Trotzki-Regime. Während letzteres ein paar Monate zwischen Bourgeoisie und Proletariat schwankte und erst im Frühsommer 1918 die gesamte Großindustrie verstaatlichte, ging das ungarische Bela-Kun-Regime bereits ein paar Tage später nach seiner Bildung, am 27. März 1919, zur Verstaatlichung aller Banken und aller Industrie-, Bergbau- und Verkehrsunternehmen mit über 20 Beschäftigten über. Am 3. April 1919 folgte die Verstaatlichung aller Handelsunternehmen mit über 10 Beschäftigten. Noch krasser war der staatskapitalistische Kurs in der Landwirtschaft. Während der bolschewistische Oktoberstaatsstreich 1917 die durch die bäuerliche Agrarbewegung geschaffenen Fakten legitimierte, was bis zur Zwangskollektivierung ab Ende der 1920er Jahre zu einer kleinbäuerlichen Privatwirtschaft in Sowjetrussland führte, verstaatlichte die „Ungarische Räterepublik“ am 3. April 1919 alle landwirtschaftliche Betriebe über 100 Joch (57,5 Hektar). Dadurch vernichtete das staatskapitalistische Regime die GroßgrundbesitzerInnen und die Groß- und MittelbäuerInnen als soziale Schichten, ohne die KleinbäuerInnen und das Landproletariat für sich gewinnen zu können. Die Massen stützten das staatskapitalistische Regime nicht gegen die privatkapitalistische Sozialreaktion, als es am 1. August auch mit Hilfe rumänischer Truppen gestürzt wurde. Die ungarische Sozialdemokratie löste sich wieder vom Partei-„Kommunismus“. Der privatkapitalistisch-konterrevolutionäre Terror beendete die revolutionäre Nachkriegskrise in Ungarn.
Auch in Deutschland führte der Erste Weltkrieg zu einer verschärften Ausbeutung und Verelendung des Proletariats. Die ArbeiterInnenklasse wurde durch das imperialistische Blutbad völlig neu zusammengesetzt. Während viele deutsche männliche Arbeiter zum Wohle des Weltkapitalismus in Uniform gesteckt und gegen ihre ausländischen Klassenbrüder gehetzt wurden, nahmen viele Frauen und Jugendliche ihren Platz in den Fabriken ein, die jetzt größtenteils Zerstörungsmittel für das große Abschlachten von Menschen produzierten. Auch neue Industriekomplexe wie zum Beispiel die chemischen Werke in Leuna entstanden während des Krieges. Die Neuproletarisierung von Kräften, welche die Erfahrungen des Kriegselends machen mussten und nicht durch sozialdemokratische Tradition behindert wurden, trug entscheidend zur Radikalisierung des Klassenkampfes während des Krieges und zur revolutionären Nachkriegskrise bei.
Nachdem auch in Deutschland durch die Burgfriedenspolitik der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung –die deutsche Gewerkschaftsbewegung verzichtete während des Ersten Weltkrieges auf Streiks – zu Beginn des imperialistischen Gemetzels der Klassenkampf abflaute, wurde er ab 1916 verschärft. Es entwickelten sich mehrere wilde Streiks in der Rüstungsindustrie. Der Höhepunkt des Klassenkampfes in Deutschland während des Ersten Weltkrieges waren die unabhängig und gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie organisierten Massenstreiks Ende Januar 1918 – mit den Berliner RüstungsarbeiterInnen als Schwerpunkt. Organisiert wurden sie von ehrenamtlichen GewerkschaftsfunktionärInnen um Richard Müller, die sich „Revolutionäre Obleute“ nannten. Die Streiks richteten sich pazifistisch – und nicht revolutionär – gegen den Krieg und waren auf eine Demokratisierung des Staates – statt dessen Zerschlagung – ausgerichtet. Richard Müller, der Zeit seines Lebens ein radikaler Sozialdemokrat blieb, sorgte auch dafür, dass SPD-PolitikerInnen in die Streikleitung gewählt wurden. Das war seine Tendenz der Anpassung an die konterrevolutionäre SPD, die er auch während der revolutionären Nachkriegskrise beibehielt.
Trotz all dieser Schwächen der Massenstreiks vom Januar/Februar 1918 gab dieser Klassenkampf einen Vorgeschmack auf die kommenden revolutionären Ereignisse (siehe ausführlicher zu Deutschland während des Ersten Weltkrieges: Nelke, Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf, a.a.O., S. 63-71).
Bevor wir diese jedoch ausführlicher beschreiben, wollen wir noch die geistige Radikalisierung der marxistischen Intellektuellen in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und die sozialökonomische Situation in diesem Land als die objektiven und die subjektiven Bedingungen der revolutionären Nachkriegskrise genauer unter die Lupe nehmen.
Die meisten radikalmarxistischen Intellektuellen waren vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialdemokratie desorganisiert. Sie waren objektiv das revolutionäre Feigenblatt einer sozialreformistischen – also sozialreaktionären! – Partei. Eine rühmliche Ausnahme war der spätere rätekommunistische Intellektuelle Franz Pfemfert, der schon vor 1914 das staatstragend-nationale Wesen der deutschen Sozialdemokratie in deutlichen Worten hart auseinandernahm. Seit Februar 1911 brachte er die radikale Zeitschrift Die Aktion heraus. Unsere heutigen antinationalen Positionen haben wir SozialrevolutionärInnen auch Pionieren wie Pfemfert zu verdanken. Auf die kapitalistische Zivilisationsbarbarei des Ersten Weltkrieges reagierte er mit der Gründung der kleinen, aber wichtigen Antinationalen Sozialistischen Partei (ASP).
Aber auch innerhalb der Sozialdemokratie radikalisierten sich die marxistischen Intellektuellen und ArbeiterInnen. Der radikale Marxist Karl Liebknecht überwand im Dezember 1914 als erster und einziger Reichstagsabgeordnete der SPD die Fraktionsdisziplin und stimmte gegen die Kriegskredite. Im März 1915 ging Otto Rühle mit Liebknecht diesen Weg. Die radikalen MarxistInnen um Luxemburg und Liebknecht lehnten den imperialistischen Krieg aus revolutionärer Perspektive klar und grundsätzlich ab. Im März 1916 schlossen sich viele von ihnen zum Spartakusbund zusammen. In der SPD entwickelte sich neben dem Spartakus-Bund auch eine gemäßigtere Oppositionsgruppe, der sich schließlich auch Kautsky und Bernstein anschlossen. Diese Strömung befürwortete das globale Gemetzel zwar als „nationalen Verteidigungskrieg“, verurteilte aber dessen imperialistischen Charakter und richtete sich gegen jede Annexionsbestrebungen. Diese schwammige Haltung war natürlich objektiv reaktionär. Anfang 1916 trennte sich im Reichstag diese gemäßigte Oppositionsströmung als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ von der SPD-Fraktion. Im April 1917 schlossen sich die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft und der Spartakusbund zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) zusammen. Der Spartakusbund behielt zwar seine organisatorische Selbständigkeit, objektiv muss aber dessen Mitgliedschaft in diesem sozialdemokratischen Verein ganz klar als eine konservative Tendenz – besonders von Rosa Luxemburg – betrachtet werden. Und dass in einer Zeit, die den konsequenten Bruch mit der Sozialdemokratie erforderte.
Genau aus diesem Grunde blieb ein Teil der radikalen MarxistInnen vom Spartakusbund organisatorisch getrennt. Das waren zum Beispiel die „Bremer Linke“ um die von Johannes Knief und Paul Fröhlich herausgegebenen Zeitung Arbeiterpolitik und die Gruppe um die in Berlin erscheinenden Lichtstrahlen um Julian Borchardt. Die Bremer und Berliner radikalen MarxistInnen schlossen sich Ende 1915 zu den Internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD) zusammen. Diese Organisation war in wesentlichen Punkten – zum Beispiel im Bruch mit der Sozialdemokratie – konsequenter als der Spartakusbund. Die Hamburger MarxistInnen um Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim unterstützten zwar die ISD, aber sie lehnten deren Internationalismus ab. Sie formulierten schon während des Krieges ihre reaktionäre nationalbolschewistische Ideologie (siehe dazu die beiden Kapitel Das Hamburger Rätesystem und Die Herausbildung der FAUD (S), des Unionismus und der KAPD).
Der radikale Marxismus wurde dann während der revolutionären Nachkriegskrise wie der Anarchosyndikalismus der geistige Überbau einer sich weiter radikalisierenden starken Minderheit des Proletariats. Die objektiven Bedingungen dieser revolutionären Gärung war die zerrüttete sozialökonomische Situation und die starke Verelendung des Proletariats zwischen 1918 und 1923. 1919 lag die deutsche Industrie- und Agrarproduktion um rund 14 Prozent unter dem Stand von 1914. Dem deutschen Personal der Bourgeoisie gelang nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918/19 nicht die Stabilisierung des Geldsystems. Die zuerst galoppierende Inflation ging 1922/23 in eine Hyperinflation über, welche den sozialen Rahmen für den Putschismus der „K“PD im Jahre 1923 gab (siehe dazu das Kapitel Die angeblich „revolutionäre Situation“ von 1923). So lag der Kurs der deutschen Reichsmark zum US-Dollar im August 1923 bei 1 zu 4.600.000 und im November 1923 gar bei 1 zu 4,2 Billionen. Die Löhne wurden zuerst wöchentlich, dann täglich und schließlich mehr Mal am Tag ausgezahlt. Die Ersparnisse der ProletarierInnen und KleinbürgerInnen schmolzen zu Nichts dahin. Erst im November 1923 konnte die Inflation aufgehalten werden. Damit endete die revolutionäre Nachkriegskrise in Deutschland und die Periode der relativen Stabilisierung des westeuropäischen und US-amerikanischen Privatkapitalismus begann.
Doch die relative Stabilisierung des westeuropäischen Kapitalismus dauerte nicht lange. Im Jahre 1929 „brach“ die Weltwirtschaftskrise „aus“. In dieser Weltwirtschaftskrise kam die strukturelle Kapitalvermehrungskrise in zyklischer Form zum Ausdruck. Sie war im Wesentlichen eine Profitproduktionskrise, die jedoch auf der Marktoberfläche als Profitrealisationskrise, als Schwierigkeiten das Waren- in Geldkapital umzuwandeln, sichtbar wurde. Der tendenzielle Fall der Profit- und der Kapitalvermehrungsraten äußerte sich in einer nachlassenden Nachfrage nach Produktionsmitteln und über die Zunahme der Arbeitslosigkeit auch durch eine Zusammenziehung der Konsumgüternachfrage. Doch die Krise ist zugleich auch die Lösung der Krise. Wie wir bereits oben beschrieben haben, wird der tendenzielle Fall der Profitrate kompensiert durch eine Erhöhung der Profitmasse über eine verschärfte Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Größere Kapitale erzielen eine größere Profitmasse und kleinere Kapitale und unprofitable Kapitale unterliegen im Konkurrenzkampf. Außerdem musste eine so tiefe weltweite zyklische Krise wie die von 1929 auch zu einer gewaltigen körperlichen Vernichtung von nichtverkäuflichen Waren und Stilllegung von Produktionskapazitäten führen.
Auch die Entwertung des sachlichen produktiven Kapitals in der zyklischen Krise trägt zur Stabilisierung der Profitrate bei. Eine Entwertung des sachlichen produktiven Kapitals erhöht die Rate zwischen den Kosten der Produktion und den Profiten, die Profitrate. So war es auch in der Weltwirtschaftskrise. Mit Zunahme der Arbeitslosigkeit übte das Kapital auch einen gewaltigen Druck auf die Reallöhne aus. Deshalb kam es auch zu einer Zunahme des reproduktiven Klassenkampfes im Zuge der Weltwirtschaftskrise. Doch das europäische Proletariat – besonders das deutsche – hatte die gewaltigen Niederlagen der revolutionären Nachkriegskrise noch zu sehr in Erinnerung, als dass es sozialpsychologisch zu einem neuen revolutionären Versuch fähig gewesen wäre. Dazu kam die völlige Degeneration der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung. Zu dieser gehörte in Westeuropa und in den USA jetzt auch der moskauhörige Partei-„Kommunismus“. SPD und „K“PD und die Gewerkschaften organisierten in Deutschland die kampflose Kapitulation gegenüber den Nazis.
Der von diesen ausgelöste Zweite Weltkrieg war von allen Seiten ein imperialistisch-reaktionärer. Auschwitz, Hiroshima und Dresden sind die Synonyme des zivilisationsbarbarischen Terrors des Weltkapitals – einschließlich der staatskapitalistischen Sowjetunion – gegen die proletarische und kleinbürgerliche Zivilbevölkerung. Der Zweite Weltkrieg war ein ultrabrutaler Klassenkrieg von oben, in dem der globale Kapitalismus die strukturelle Kapitalvermehrungskrise löste und die Bedingungen für den Nachkriegsaufschwung schuf. Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals beschleunigte sich im Zweiten Weltkrieg gewaltig. Die Entwertung des produktiven Kapitals wurde durch die physische Vernichtung von Produktionsanlagen durch den Krieg ergänzt. Diese Zunahme der Konzentration und Zentralisation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals bei der Zerstörung von Teilkapitalen im Krieg setzte das begonnene „Reinigungswerk“ der Weltwirtschaftskrise fort. So wurden im Blutbad des Zweiten Weltkrieges auch die Bedingungen für das bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“ geschaffen…

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Buchvorstellung!!! https://swiderstand.blackblogs.org/2014/10/16/buchvorstellung-3/ https://swiderstand.blackblogs.org/2014/10/16/buchvorstellung-3/#respond Thu, 16 Oct 2014 04:48:13 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=94 Am Samstag, den 1. November um 15:00 Uhr im Rahmen der Linken Literaturmesse in Nürnberg Künstlerhaus K 4, Königsstraße 93, wollen wir gemeinsam mit Soziale Befreiung die Broschüre Antinationale Schriften I vorstellen. Ihr seid herzlich eingeladen zu kommen.

Anti_nation
Mit den Antinationalen Schriften bekämpfen wir konsequent den Nationalismus. Israelfahnen sind für uns genauso ein optisches Brechmittel wie Deutschlandfahnen. Auch bekämpfen wir den Nationalismus von unterdrückenden Staaten genauso konsequent wie den von nationalen Befreiungsbewegungen, die noch für einen eigenen Staat kämpfen. Wir bekämpfen also deutschen und „antideutschen“ Nationalismus, imperialistische Staaten und linksnationalen „Antiimperialismus“. Aus der Einleitung.

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Neue Broschüre: Das proletarische 1968 https://swiderstand.blackblogs.org/2014/06/01/neue-broschuere-das-proletarische-1968/ https://swiderstand.blackblogs.org/2014/06/01/neue-broschuere-das-proletarische-1968/#respond Sun, 01 Jun 2014 21:48:57 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=86 Unsere neue Broschüre: „Das proletarische 1968“ (ca. 120 Seiten) von Soziale Befreiung (Hg.) ist da. Die Broschüre könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Inhalt

Einleitung

„1968“ in Westeuropa

1. Frankreich
2. Italien
3. Dänemark

Der proletarische Klassenkampf in der BRD (September 1969 bis 1973)

1. Die Septemberstreiks 1969
2. Die frühen 1970er Jahre
3. Die wilde Streikwelle von 1973
4. Der IG-Metallstreik für den Lohnrahmentarifvertrag II von 1973

Die bundesdeutsche Lehrlingsbewegung

1. Die soziale Situation der Lehrlinge
2. Die Lehrlingsbewegung zwischen proletarischem Klassenkampf und
kleinbürgerlich-radikaler Straßenbewegung
3. Die Essener Lehrlingsbewegung
4. Die Hamburger Lehrlingsbewegung
5. Lehrlingsbewegung und institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung

Die Septemberstreiks 1969 (Auszug)

Eine Welle von wilden Streiks überflutete vom 2. bis 19. September 1969 das Land. Sie breitete sich von der Hoesch AG in Dortmund über nicht wenige Betriebe vor allem in der Montanindustrie in Nordrhein-Westfalen und im Saarland bis nach Bremen und der Oberpfalz aus. 140 000 ArbeiterInnen legten selbstorganisiert die Arbeit nieder. Die IG Metall und die IG Bergbau und Energie reagierten auf den proletarischen Druck, indem sie ihn durch vorgezogene Tarifverhandlungen in geordnete bürokratische Bahnen zu lenken versuchten.
Im Gegensatz zur 1973er Streikwelle waren die Septemberstreiks 1969 noch stärker von deutschen, männlichen, mehrheitlich sozialdemokratisch orientierten Facharbeitern geprägt, wie auch Peter Birke beschrieb. In nicht wenigen Streiks während des Septembers 1969 kam die Tradition der betrieblichen „Zweiten Lohnrunde“ zum Ausdruck, bei der durch wilde Streiks übertarifliche Lohnerhöhungen durchgesetzt wurden. Die in den Streiks oft erhoben Festgeldforderungen waren ein – wenn auch noch nicht voll bewusster – Angriff auf das Lohnsystem, welcher eben auch auf Lohnunterschiede beruht.
Peter Birke bringt das Engagement des deutschen männlichen und mehrheitlich sozialdemokratisch eingestellten FacharbeiterInnen auf den Punkt: „1969 waren die traditionellen Kerne, die den aktivistischen Flügel der bundesdeutschen Arbeiterbewegung nach 1949 geprägt hatten, noch einmal die dynamische Kraft der Streikwelle. Im Mittelpunkt nicht alleine des öffentlichen Interesses, sondern auch der faktischen Bewegung, standen die Belegschaften in den montanmitbestimmten Betrieben des Ruhrgebietes, in denen auf Grundlage der Arbeitsteilung, die sich in der Tarifpolitik der IGM in den 1960er Jahren entwickelt, die ,zweite Lohnrunde‘ ihre stärkste Ausprägung erfuhr. Die ,Veröffentlichung‘ dieser zuvor allgemein nur sehr selten wahrgenommene Tradition kehrte die Politik der ,individuellen‘ Lohnforderungen einzelner ,starker‘ (und gewerkschaftlich organisierter sowie sozialdemokratisch dominierter) Belegschaften nach außen. Damit konnte sich zumindest potenziell eine Art ,solidarische Lohnpolitik von unten‘ entwickeln, die zugleich Ansatzpunkte für eine Kritik des tayloristischen Fabrikregimes mit seiner Orientierung an ,Leistungslöhnen‘ und an der Umsetzung dieses Regimes in Form der Tarifverträge insgesamt enthielt. ,Das Brot ist für alle teurer geworden, also müssen auch die Löhne gleich steigen‘ – diese Mentalität der Streikenden bezog ihre Inspiration aus den Feldern der Reproduktion und einer Gebrauchswertorientierung, die der Idee der ,leistungsgerechten Bezahlung‘ diametral entgegenstand.“ (Peter Birke, Der Eigen-Sinn der Arbeitskämpfe. Wilde Streiks und Gewerkschaften in der Bundesrepublik vor und nach 1969, in: Bernd Gehrke/Gerd-Rainer Horn (Hrsg.), 1968 und die Arbeiter, a.a.O., S. 66.)
Der letzte Satz enthält einen theoretischen Fehler: Die Forderung nach größerer Lohngleichheit wird von Birke als „gebrauchswertorientiert“ bezeichnet. In diesem Begriff der „Gebrauchswertorientierung“ zeigt Birke theoretische Unklarheit über den Charakter der Warenproduktion. Er benutzt ihn wahrscheinlich als Gegenbegriff zu einer gewissen „Orientierung auf den Tauschwert“. Aber eine solche Gegenüberstellung ist unsinnig. Denn der Tauschwert ist nichts ohne Gebrauchswert. Ein Ding ohne bestimmte gewisse nützliche Eigenschaften ist in der Regel unverkäuflich. Außerdem gelangt mensch in der Warenproduktion an den Gebrauchswert der meisten Dinge nur über den Austausch, also über die Zahlung ihres Tauschwertes. Bei jedem Tausch geht es dem Käufer direkt und dem Verkäufer indirekt um den Gebrauchswert. Die Forderungen nach höheren Löhnen bzw. nach größerer Gleichheit zwischen ihnen sind also genauso tauschwert- wie gebrauchswertorientiert. Denn auch in den Septemberstreiks kämpften die beteiligten ArbeiterInnen vor allen Dingen um einen höheren Tauschwert bei der Vermietung ihrer Arbeitskraft, aber natürlich um damit mehr Lebensmittel einzutauschen, um deren Gebrauchswerte genießen zu können. Die Birkesche Behauptung von der gebrauchswertorientiertheit der Streikenden ist also inhaltlich unsinnig.
Aber er wollte wohl irgendwie zum Ausdruck bringen, dass in den Septemberstreiks eine gewisse praktische Kritik an der kapitalistischen Warenproduktion zum tragen gekommen sei. Dass war objektiv teilweise wirklich so, wenn auch nicht in der Art und Weise, wie es Birke meint. In jedem Streik wird die Produktion von Waren unterbrochen – also auch in den Septemberstreiks. Aber diese waren keine bewusste Sabotage um die Warenproduktion durch eine andere gesellschaftliche Produktionsweise zu ersetzen. Die Produktion von kapitalistischen Waren wurde unterbrochen, um für die Vermietung der Arbeitskraft einen höheren Tauschwert zu erzielen, um dann wieder Waren für das Kapital zu produzieren. Natürlich kommen in jedem größeren, selbstorganisierten Streik auch kritische Töne gegenüber der Warenproduktion als solcher zum tragen, aber diese Tendenzen waren in den Septemberstreiks nur als Minderheitenpositionen zu spüren. Die Forderung nach größerer Lohngleichheit bringt in der Tat ein gewisses Unbehagen an der Konkurrenz und Ungleichheit, ohne die eine kapitalistische Warenproduktion nicht zu haben ist, zum Ausdruck. Und Revolutionäre sollen diese Tendenzen auch durchaus schätzen, aber sie dürfen sie eben nicht mit einer bewussten Kritik am Warencharakter der Arbeitskraft, also des Lohnsystems, verwechseln. Denn eine klare Orientierung für eine Gesellschaft, in der direkt für die menschlichen Bedürfnisse produziert wird, und dies nicht nur als Mittel um die Tauschwerte, also das Geld, zu vermehren, kann nur in längeren, heftigeren und bewussteren Klassenkämpfen entstehen, als es die Septemberstreiks waren. Denn es ist eine gewaltige Radikalisierung der proletarischen Mehrheit nötig, bevor diese bewusst die Warenproduktion und damit auch die eigene elende Existenz in Frage stellt. Zu behaupten, die beachtenswerte und auf gar keinen Fall zu ignorierenden Tendenz zur größeren Lohngleichheit durch die ArbeiterInnen in den 1969er Septemberstreiks wären bereits eine ausgeprägte Kritik an der kapitalistischen Warenproduktion gewesen, bedeutet das damalige Klassenbewusstsein zu überschätzen und das Problem der Herausbildung eines revolutionären Massenbewusstseins zu verharmlosen. Denn nur der bewusste Kampf gegen die Lohnarbeit kann einer gegen die kapitalistische Warenproduktion sein. Die Forderung nach mehr Gleichheit innerhalb des Lohnsystems ist eine Forderung nach einer „gerechteren“ Warenproduktion und Lohnarbeit. Doch der Inhalt des Lohnsystems, der extremste Ausdruck der kapitalistischen Warenproduktion, in der die Proletarisierten als scheinbare Naturnotwendigkeit ihre eigene Arbeitskraft vermieten müssen und die Geldform des Lohnes als verselbständigter Ausdruck des Tauschwertes der vermieteten Arbeitskraft, wurde mehrheitlich von den streikenden ArbeiterInnen im September 1969 nicht in Frage gestellt.
Trotz unserer Kritik an Birke stimmen wir seiner grundsätzlichen Einschätzung der Aktivitäten der deutschen, männlichen und sozialdemokratisch orientierten FacharbeiterInnen im September 1969 zu. Aber auch die ArbeitsmigrantInnen und proletarischen Frauen kämpften in dieser Streikwelle für ihre materiellen und sozialpsychologischen Bedürfnisse, wie Birke ebenfalls beschreibt und betont, dass es bei migrantisch und weiblich geprägten Klassenkämpfen eher zur Radikalisierung der Proletarisierten und zur staatlichen Repression kam als bei den Arbeitskämpfen, bei denen deutsche Facharbeiter dominierten.
Birke schrieb über die migrantisch und weiblich geprägten wilden Streiks im September 1969:
„Während es in Bezug auf die Forderungen durchaus Ähnlichkeiten gab, unterschieden sich die migrantisch geprägten Streiks in ihren Ausdrucksformen von allen anderen Aktionen der Streikwelle. Zunächst muss bemerkt werden, dass solche Aktionen im September 1969 randständig blieben: Nur zwei derartige Streiks sind bekannt geworden. Die beiden betroffenen Metall verarbeitenden Betriebe unterschieden sich bereits in institutioneller Hinsicht stark von den sonst typischen Streikbetrieben: Es gab keine paritätische Mitbestimmung wie in der Montanindustrie, und der Organisationsgrad in den Gewerkschaften lag unter dem Durchschnitt. Die Ausgrenzung der ,Gastarbeiter‘ aus Gewerkschaften und betrieblicher Repräsentation hatte dazu beigetragen, dass die IG Metall hier im Wesentlichen die schmale Schicht der bundesdeutschen Arbeiter vertrat.
Am 10. September 1969 begann bei dem Autoteilehersteller Ehrenreich A. & Cie. in Oberkassel bei Düsseldorf ein wilder Streik. 40-45 Prozent der Arbeiter dieses Betriebes waren migrantischer Herkunft, die meisten davon mit griechischem Pass. Der Organisationsgrad der Beschäftigten in der IG Metall lag bei etwa 35 Prozent. Der Streik begann, nachdem die Kollegen, die in Schichtarbeit an den Fließbändern beschäftigt waren, feststellten, dass eine Akkordumstellung erhebliche Lohneinbußen bewirkt hatte. Am ersten Tag des Streikes beteiligten sich die wenigen deutschen Kollegen der Rohrabteilung, in der der Ausstand begann. Insgesamt nahmen von ungefähr 2.000 Beschäftigten des Werkes etwa 250 bis 300 ,Gastarbeiter‘ und zehn deutsche Arbeiter teil. Aus der Gruppe der Streikenden heraus wurden fünf Sprecher gewählt, darunter ein Deutscher. Kurz nach Beginn der Arbeitsniederlegung entließ die Geschäftsleitung zwei griechische Arbeiter und den deutschen ,Streiksprecher‘. Um eine weitere Solidarisierung zu vermeiden, versetzte sie am Tag nach Streikbeginn die deutschen Arbeiter der Rohrabteilung, woraufhin die griechischen Beschäftigten isoliert weiterstreikten. Während des Arbeitskampfes kam es zu einer Mobilisierung von Ressentiments: Die Streikenden wurden als ,Hetzer‘ bezeichnet, und deutsche Beschäftigte machten während des Streiks Überstunden, um ,den Griechen zu zeigen, dass es auch ohne sie geht.‘ (Institut für marxistische Studien und Forschung (IMSF), Die Septemberstreiks 1969, Frankfurt/M, S. 125f.) Der Arbeitskampf fand zudem keine Unterstützung der örtlichen IG Metall, die das Lohnsystem akzeptiert hatte und lediglich die Informationen darüber für unzureichend hielt. Er endete schließlich am 15. September weitgehend ohne Resultat: Das neue Lohnsystem wurde beibehalten, aber im Einzelfall einer Revision unterzogen. Forderungen nach einer Bezahlung der Streikzeit wurden nicht erfüllt. Immerhin wurden die Entlassungen zurückgenommen. Verglichen mit den migrantischen Streiks der ersten Hälfte der 1960er Jahre, in denen regelmäßig die Polizei gerufen wurde und Entlassungen beziehungsweise Abschiebungen üblich waren, hatte der Ehrenreich-Streik somit ein glimpfliches Ende gefunden.
Am 16. September begann dann in der ,Westfälischen Metallindustrie Hueck und Co.‘ in Lippstadt eine Arbeitsniederlegung. Im Hella-Nordwerk, dem Zentrum des Streiks, besaßen von 2.400 Beschäftigten nur 400 einen deutschen Bass. Die Streikenden forderten ein Ende der Ungleichbehandlung bei den Löhnen, deren niedrigsten Stufen auch der örtliche IG-Metall-Sekretär als ,schamlose Ausbeutung‘ bezeichnete. Die migrantischen Frauen wurden nach der ,Leichtlohngruppe‘ der Metallverarbeitung bezahlt. Auch die männlichen Migranten erhielten noch rund 1 DM weniger Stundenlohn als ihre deutschen Kollegen. Neben ,gleichen Lohn für gleiche Arbeit‘ forderten die Streikenden auch den ,Wegfall von Abzügen vom Weihnachtsgeld infolge von Fehlzeiten‘. Diese Forderung weist darauf hin, dass die Arbeiterinnen oft mit einer Doppelbelastung durch die Kindererziehung konfrontiert waren, wodurch sie größere Fehlzeiten hatten als die Männer. Für alle Migranten war es zudem schwierig, den vierwöchigen Urlaub für die Reise in ihre Heimatländer nicht zu überziehen.
Als die 2.400 Arbeiterinnen und Arbeiter am 16. September vom ,Hella-Nordwerk zum Hauptwerk gezogen waren, fanden sie nicht nur verschlossene Türen vor, sondern auch eine Geschäftsleitung, die sich weigerte, mit ihnen zu verhandeln. Daraufhin wurden die Tore überklettert und gewaltsam geöffnet. Der Betriebsrat berief eine Versammlung ein, um die Forderungen besprechen zu können. Gleichzeitig wählten die Streikenden eine eigene Verhandlungskommisssion. Im Laufe des Tages präzisierte sich die Forderung: Die Beschäftigten verlangten nun 1 DM mehr für alle. Um 14 Uhr brannte der Dachstuhl des Lagerhauses im Hauptwerk aus, worauf der Streik zunächst abgebrochen, dann aber am folgenden Tag fortgesetzt wurde. Am Donnerstag, den 17. September, streikten noch 1.500 Kolleginnen und Kollegen. Betriebsrat und IG Metall forderten zur Wiederaufnahme der Arbeit auf, was am Freitag, den 18. September 1969 auch geschah. Die deutschen Kollegen hatten sich anfangs mit den Streikforderungen identifiziert, der Dachstuhlbrand änderte diese Einstellung jedoch. Obwohl keine Brandstiftung vorlag, riegelte die Polizei das Hauptwerk ,zum Schutz der Gebäude‘ ab, was den Arbeiterinnen und Arbeitern eindeutig die Absicht der Brandstiftung unterstellte. Die Nachrichtenagentur dpa kommentierte die Ereignisse am 17. September: ,(Die) Gefährlichkeit südländischen Temperamentes scheint offenbar, nachdem am Dienstagmittag während des Streiks ein Lager urplötzlich in Brand geraten war.‘ (Zitiert nach IMSF, Die Septemberstreiks, a.a.O., S. 128.) Als Resultat des Streiks sagte die Geschäftsleitung lediglich die ,Überprüfungen der Einstufungen‘ zu. Von den Forderungen der Streikenden wurde nur die nach der Bezahlung der Streikzeit erfüllt.
Der Streik bei Hella war der Beginn einer ganzen Reihe von Arbeitskämpfen, in denen die Abschaffung der Lohnhierarchien und der geschlechtsspezifisch ungleichen Arbeitsbedingungen gefordert wurde. Noch am 22. September beteiligten sich die Erzieherinnen in 19 Kindertagesstätten in Berlin-Kreuzberg an einem kurzen wilden Streik, um gegen die Überbelegungen der Einrichtungen und die niedrige Entlohnung zu protestieren. Es war einer der ersten Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst, der, gegen den Willen der ÖTV (Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) geführt, die Unzufriedenheit von Frauen mit den Arbeitsbedingungen in diesem Sektor zum Ausdruck brachte. Das runde halbe Dutzend wilder Streiks, die im September und November 1969 in der Textilindustrie und der Bekleidungsindustrie stattfanden, hatte ebenfalls den Protest gegen die Niedriglöhne zum Gegenstand. Sie setzten in diesem Sektor eine Tradition fort, die bis in die 1950er Jahre zurückreichte. Bis heute bleibt die Wahrnehmung der Septemberstreiks häufig auf die Aktionen der Kernbelegschaften in der Montanindustrie beschränkt.“ (Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder, a.a.O., S. 235-139.)
Wenden wir uns jetzt den von Birke im letzten Satz erwähnten Klassenkämpfen der männlichen, deutschen Facharbeiter zu. Bei den wilden Streiks dieser sozialen Schicht des Proletariats gelang es den Betriebsräten und in deren Schlepptau den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten meistens die betrieblichen Auseinandersetzungen zu entschärfen und in geordnete Bahnen zu lenken, um sie nach Kompromissen mit der Bourgeoisie friedlich zu beenden.
Als typisch für die Septemberstreiks können die Klassenauseinandersetzungen im Mannesmann Hüttenwerk Huckingen gelten, über die das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) berichtete: „In Huckingen sind spontane Arbeitsniederlegungen nichts außergewöhnliches. In der Zeit von 1964 bis zum September 1969 wurde 17mal die Arbeit niedergelegt. Meist handelte es sich um Kurzstreiks, die sich um Lohnfragen drehten. Die Beteiligung war allerdings in der Regel gering. Am häufigsten streikten Arbeiter des Profilwalzwerkes, der Hauptwerkstatt und der Verkehrsbetriebe. Vor dem Streik im September wurde zuletzt am 10. 6. 1969 für 2 Stunden von 400 Arbeitern des Profilwalzwerkes und der Verkehrsbetriebe die Arbeit niedergelegt: Sie erlangten – erfolgreich – die Erhöhung einer Jahresdividende sowie einen veränderten Berechnungsmodus für diese Sonderzulage. Die Nachrichten vom Streik bei Hoesch erreichten also ein Werk, in dem schon seit Monaten eine gewisse Unruhe herrschte.
Am Donnerstag den 4. 9. wird nachmittags im Profilwalzwerk und Elektrostahlwerk von der Belegschaft für einige Zeit die Arbeit niedergelegt. Um 17.00 Uhr versammeln sich etwa 300 Belegschaftsmitglieder vor dem Betriebsratsgebäude und verlangen vom Betriebsrat die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Werksvorstand. Daraufhin findet ein Gespräch zwischen Betriebsrat und Werksvorstand statt. Während der Betriebsrat eine der Hoesch-Regelung (30 Pfennig Lohnerhöhung, nicht anrechenbar auf tarifvertragliche Lohnerhöhungen) entsprechende Vereinbarung für das Hüttenwerk Huckingen verlangt, kann der Werksvorstand dem Betriebsrat nichts Verbindliches sagen, da er den Konzernvorstand in dieser Frage konsultieren muss. Nachdem der Betriebsratsvorsitzende die vor dem Betriebsratsgebäude Versammelten über das Gespräch informiert hat, kehren diese in ihre Betriebe zurück. Am Donnerstagabend teilte der Konzernvorstand dem Werksvorstand mit, dass für Mannesmann keine besondere Vereinbarung getroffen werden soll. Vielmehr wird auf die Einschaltung des Arbeitgeberverbandes Eisen und Stahl verwiesen. (Anmerkung des SOFI: Inzwischen ist die Unruhe in mehrere Betriebe der Stahlbranche manifest geworden. So haben am Donnerstag die Arbeiter im nahegelegenen Rheinstahlwerk Meiderich die Arbeit niedergelegt. Deshalb liegt für die Konzernleitung die Einschaltung des Arbeitgeberverbandes nahe, da es sich um ein branchenspezifisches Problem zu handeln scheint.)
Am Freitagmorgen um 8.30 Uhr begeben sich die Arbeiter in Gruppen zum Betriebsratsgebäude. Um 9.00 Uhr haben sich etwa 400 vor dem Gebäude versammelt. (Anmerkung des SOFI: Hauptsächlich waren es Arbeiter aus dem Profilwalzwerk, dem Elektrostahlwerk und dem Hochofenbereich.) Gegen 9.30 Uhr sind es schon 600. Die Streikenden beginnen die Werkstore zu versperren, um auf diese Weise das Werk unter Kontrolle zu haben und die nachfolgenden Schichten zur Streikteilnahme zu veranlassen. Die Mittagsschicht schließt sich dem Streik weitgehend an. Nach und nach kommt im Laufe des Tages die Produktion in nahezu allen Werksbereichen zum Erliegen. Die Spätschicht nimmt im gesamten Werk die Arbeit nicht mehr auf. Darauf verfügt die Werksleitung die Einstellung der Produktion und fordert alle Belegschaftsmitglieder, mit Ausnahme der Notbelegschaft, auf, das Werksgelände zu verlassen. Die Streikenden reagieren darauf, indem sie die Tore von außen versperrten.
Die Belegschaft vertritt anfangs unterschiedliche Forderungen: Es werden von 30 bis zu 80 Pfennig Lohnerhöhung verlangt. (Anmerkung des SOFI: Nach der Westdeutschen Allgemeinen vom 6. 9. 1969 wurde auch die die volle Bezahlung der Streikzeit und die Klärung von Unstimmigkeiten bei den Lohnregulierungen gefordert. Letztere Forderung weist auf die (…) betriebsspezifische Streikursache hin. Die Forderung nach voller Bezahlung der Streikzeit wurde auf jeden Fall im Verlauf des Streiks erhoben, ob davon gleich zu Beginn die Rede war, konnte nicht ermittelt werden.) Der Betriebsrat entschließt sich jedoch, bei seinen Forderungen vom Vortag zu bleiben: 30 Pfennig, die nicht auf zukünftige Tariflohnerhöhungen angerechnet werden. Der Werksvorstand vertritt demgegenüber in den Gesprächen mit dem Betriebsrat, die ihm vom Konzernvorstand aufgetragene Linie und weist besonders auf die am Freitag beginnenden Gespräche zwischen den Tarifpartnern hin. (Anmerkung des SOFI: Nach Bekanntwerden dieser Ergebnisse fragt der Betriebsratsvorsitzende, vom Werksvorstand dazu aufgefordert, die vor dem Betriebsratsgebäude Versammelten, ob es nicht sinnvoll sei, den Streik abzubrechen. Die Streikenden lehnen dies jedoch ab. (…))
Freitagnachmittag geben die Tarifpartner in einer Verlautbarung bekannt, dass sie umgehend Tarifverhandlungen aufnehmen wollen, deren Ergebnisse rückwirkend ab 1. September wirksam werden sollen. Aus diesem Grunde will am nächsten Tag die große Tarifkommission der IG Metall für Nordrhein-Westfalen in Gelsenkirchen zusammentreten. In einer Sitzung von Betriebsräten und Vertrauensleuten wird am Freitagnachmittag diskutiert, ob eine Fortsetzung des Streiks noch sinnvoll sei, da Tarifverhandlungen anstünden. Um Druck auf die Tarifpartner und die Sitzung der Großen Tarifkommission auszuüben, entschließt man sich jedoch für eine Fortsetzung. (Anmerkung des SOFI: Einer der befragten Experten, der damalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, war der Ansicht, dass auf dieser Sitzung schon die Mehrheit für den Abbruch des Streiks war. Durch eine Falschinterpretation des Betriebsratsvorsitzenden sei jedoch ein Abbruch verhindert wurden.) Um ihren Unmut über die zu keiner Konzession bereite Firmenleitung zu zeigen, planen ungefähr 300 Arbeiter am Sonnabendvormittag einen Marsch zur Villa des Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann AG. Da der Betriebsrat jedoch militante Aktionen befürchtet, funktioniert er nach Rücksprache mit der Werksleitung diese Demonstration um, indem er stattdessen zu einer Demonstration aufruft. (Anmerkung des SOFI zu der Angst des Betriebsrates vor militanten proletarischen Aktionen: Die Berechtigung einer solchen Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen: Am Freitag waren die nichtstreikenden Angestellten daran gehindert worden, das Werksgelände zu verlassen. Am Freitagabend wollten einige Arbeiter in das Hauptverwaltungsgebäude eindringen. Dies wurde u. a. von den Vertrauensleuten verhindert. Vom Werksvorstand war – nach einer Meldung von der Rheinischen Post vom 8. 9. 1969 – Polizeischutz bestellt worden; zu einem Polizeieinsatz kam es aber nicht.)
Während zur gleichen Zeit die große Tarifkommission in Gelsenkirchen tagt, findet ein Marsch von ca. 3000 Arbeitern aus Huckingen in Richtung Duisburger Innenstadt statt. Sie verlangen Lohnerhöhungen und volle Mitbestimmung. Am Nachmittag wird der Betriebsrat sofort über die Ergebnisse der großen Tarifkommission – zentrales Ergebnis ist die Forderung nach 14 % Lohnerhöhung unterrichtet. Daraufhin beschließen die anwesenden Mitglieder des Betriebsrates in einer ad-hoc-Sitzung , die in der Nacht zum Sonntag stattfindet, den Streikabbruch und akzeptieren das Angebot des Werksvorstandes, einen in fünf Monatsraten zurückzuzahlenden Vorschuss in Höhe von 50 DM auf die zu erwartenden Lohn- und Gehaltserhöhungen zu zahlen. Eine Bezahlung der Streikzeit schloss das Angebot nicht ein. (Anmerkung des SOFI zur Betriebsratssitzung: Auf dieser Sitzung waren weniger als die Hälfte der Betriebsratsmitglieder anwesend. Ein großer Teil war vorher übermüdet nach Hause gegangen. Es scheint so gewesen zu sein, dass dies ins besonders dem linken Flügel des Betriebsrates zuzurechnende Betriebsratsmitglieder (linke SPDlerInnen und DKPlerInnen, Anmerkung von Nelke) waren, so dass das politische Spektrum dieser entscheidenden Betriebsratssitzung wohl nicht als repräsentativ für den gesamten Betriebsrat angesehen werden kann.) In der anschließend stattfindenden Verhandlung mit dem Werksvorstand unterzeichnet der Betriebsrat eine vom Werksvorstand vorgelegte Bekanntmachung für die Belegschaft. In dieser heißt es u. a.: ,Der Werksvorstand der Mannesmann AG Hüttenwerke und der Betriebsrat des Werkes Huckingen sind sich darüber einig, dass die anstehenden Lohnprobleme ausschließlich durch die Tarifvertragsparteien –Industriegewerkschaft Metall und Arbeitgeberverband Eisen und Stahl – zu regeln sind.‘ Die Belegschaft wird im übrigen aufgefordert, am Sonntag um 6.00 Uhr die Arbeit wieder aufzunehmen.
Die Frühschicht folgt am Sonntag der Aufforderung zur Arbeitsaufnahme nahezu geschlossen. Damit ist der Streik in Huckingen beendet. Wegen der Ungewissheit über eine Bezahlung der Streikzeit bleibt aber anfänglich eine gewisse Unruhe in der Belegschaft.
Auf einer Sitzung der Vertrauensleute am Sonntagvormittag wird scharfe Kritik an dem Verhalten des Betriebsrates geübt, insbesondere weil eine Bezahlung der Streikzeit nicht vereinbart worden war. Schließlich billigt die Mehrheit der Vertrauensleute die vom Betriebsrat getroffene Entscheidung. Gleichzeitig wird der Betriebsrat aufgefordert, vom Werksvorstand, die Bezahlung der Streikzeit zu verlangen. (Anmerkung des SOFI: Bezüglich der Bezahlung der Streikzeit wurde später folgende Einigung erzielt: Der weitaus größte Teil der Belegschaft erhielt die Streikzeit bezahlt. Nur der Frühschicht, die am Freitag den Streik initiiert hatte, wurde kein Lohnausgleich zuerkannt.)“ (Studienreihe des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI), Am Beispiel der Septemberstreiks – Anfang der Rekonstruktionsperiode der Arbeiterklasse? Eine empirische Untersuchung von Michael Schumann, Frank Gerlach, Albert Gschlössl und Petra Milhoffer, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1971, S. 82-86.)
Das SOFI versuchte auch das „Verhalten einzelner Gruppen bzw. Institutionen während des Streiks“ etwas genauer zu analysieren:
„- Der Werksvorstand bzw. der Konzernvorstand lehnte von Anfang an eine besondere Lohnvereinbarung für Mannesmann ab und war auch im Verlaufe des Streiks zu keinerlei Konzessionen in dieser Hinsicht bereit. An diese Verhandlungslinie hielt sich auch der Arbeitsdirektor. Erst als sicher war, dass es zu vorzeitigen Tarifverhandlungen kommen würde (um den proletarischen Druck in ordentliche gewerkschaftsbürokratische Kanäle zu lenken, Anmerkung von Nelke), und als die Tariflohnforderung der IG Metall bekannt waren, bot er 50 DM Vorschuss an. Damit sollte in erster Linie dem Betriebsrat geholfen werden, sein Gesicht zu wahren. (Beim Streikabbruch!, Anmerkung von Nelke) Auch in dem direkten Verhalten gegenüber der Belegschaft zeigte sich diese Unnachgiebigkeit der Unternehmensleitung, wie die Aussperrung in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend beweist.
– Der Betriebsrat spielte eine wichtige Rolle bei der Initiierung des Streiks, war de facto Leiter der Streikbewegung, traf die wichtigsten Entscheidungen und hatte fast durchweg die Kontrolle über die Streikbewegung. (Anmerkung von Nelke: Die Behauptung der bürgerlichen SoziologInnen, dass der Betriebsrat den Streik initiiert hätte, ist eine grobe Übertreibung! Aus der von ihnen selbst erstellten Streik-Chronologie geht eindeutig hervor, dass die ArbeiterInnen von selbst zu streiken anfingen und der Betriebsrat erst auf diesen proletarischen Druck reagierte. Auch die Initiative zu einer Demonstration ging von den ArbeiterInnen aus, sie wollten sogar direkt vor der Villa des Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann AG demonstrieren. Der Betriebsrat verhinderte diese direkte Konfrontation mit dem Klassenfeind, indem sie den proletarischen Druck durch eine gemäßigte Latschdemo nach Duisburg entschärfte. Dass es dem Betriebsrat allerdings ziemlich gut gelang, die Kontrolle über den Streik zu behalten, ist eine nicht zu leugnende Tatsache.) Die zentrale Bedeutung des Betriebsrates ist schon daraus ersichtlich, dass er allein den Streikabbruch beschloss und dass diese Entscheidung von der Belegschaft befolgt wurde. (Anmerkung von Nelke: Wie aus der SOFI-Streikchronologie ebenfalls hervorgeht, versuchte der Betriebsratsvorsitzende schon am Freitag, den Streik zu beenden. Diese Intervention, welche ganz klar die Rolle des Betriebsrates als Co-Management des Kapitals unter Beweis stellte, war jedoch noch nicht erfolgreich. Die ArbeiterInnen beschlossen weiter zu streiken. Dass das SOFI diese erfolglose Intervention ein paar Seiten weiter einfach unterschlägt und ihre eigene, von ihnen selbst erstellte Streikchronologie so mangelhaft auswertet, hat durchaus Methode, wie wir auch weiter unten noch sehen werden: Die Herabsetzung bzw. Leugnung der proletarischen Selbstorganisation bei Huckingen im September 1969.)
Die im Betriebsrat vertretenden unterschiedlichen politischen Einstellungen könnten in Bezug auf die Frage, ob Streikabbruch oder Streikfortsetzung eine Rolle gespielt haben: Die dem linken Flügel zuzurechnenden Betriebsratsmitglieder (d.h. linke SPD-Mitglieder und Kommunisten (DKP)) tendierten wohl eher dahin, den Streik fortzusetzen, um noch eine Bezahlung der Streikzeit zu erreichen; den anderen Betriebsratsmitgliedern erschien der Streikabbruch in dem Augenblick sinnvoll, als es sicher war, dass vorzeitige Tarifverhandlungen stattfinden würden, und als die Höhe der Lohnforderungen der Gewerkschaft bekannt war. Damit war ihrer Meinung das Streikziel – Lohnerhöhung – erreicht worden, die Nichterfüllung der Forderung nach Bezahlung der Streikzeit – ein wichtiger Grund für die die Befürworter einer Streikfortsetzung – fiel für sie, nicht zuletzt wegen der vergleichsweise kurzen Streikzeit nicht ins Gewicht.
– Die Vertrauensleute hatten bei der Initiierung des Streiks in einzelnen Werksteilen (z. B. Profilwalzwerk) eine wichtige Funktion als Katalysatoren der Unruhe in der Belegschaft. Während des Streiks vermochten sie keine eigenständige, von den Betriebsratsaktivitäten unabhängige Rolle zu spielen. (Anmerkung des SOFI: Ein Indiz hierfür ist die personelle Verflechtung von Betriebsrat und Vertrauensleutekörperleitung: Der Betriebsratsvorsitzende war damals gleichzeitig Leiter des Vertrauensleutekörpers.) Sie fungierten weitgehend als verlängerter Arm des Betriebsrates.
– Der erste Bevollmächtigte der IG Metall in Duisburg stand während des Streiks in ständigem Kontakt zum Betriebsrat. Nach der Sitzung der großen Tarifkommission setzte er sich beim Betriebsrat und bei den Vertrauensleuten entschieden für die Wiederaufnahme der Arbeit ein. (Anmerkung des SOFI: Nach seiner eigenen Darstellung war er zu Beginn für den Streik; nach der Darstellung der IMSF (Die Septemberstreiks 1969, Frankfurt/Main 1969) lehnte er den Streik von Anfang an ab.) (…)
– Wie die zahlreichen verschiedenen spontanen Arbeitsniederlegungen in Huckingen zeigen, scheint bei vielen Arbeitern im Huckinger Hüttenwerk eine latente Streikbereitschaft vorhanden zu sein. Unterschiede bestehen hierbei allerdings zwischen den Arbeitergruppen in den verschiedenen Werksteilen. (Anmerkung des SOFI: So tritt z. B. die Mittagsschicht am Freitag im Blassstahlwerk I noch vollständig zur Arbeit an, während dieselbe Schicht im Elektrostahlwerk nicht die Arbeit aufnimmt.) Während des Streiks gab es in Huckingen keine Formen der Selbstorganisation; vielmehr verließen sich die Arbeiter ausschließlich auf den Betriebsrat als die von ihnen gewählte innerbetriebliche Interessenvertretung.“ (Ebenda, S. 87-89.)

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Der Kampf der MigrantInnen https://swiderstand.blackblogs.org/2013/12/03/der-kampf-der-migrantinnen/ https://swiderstand.blackblogs.org/2013/12/03/der-kampf-der-migrantinnen/#respond Tue, 03 Dec 2013 00:27:40 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=77 Wir veröffentlichen hier ein Kapitel aus der Broschüre „ Klassenkämpfe in Griechenland (2008-2013)“ über die Lage und Kampf von Flüchtlingen und MigrantInnen in Griechenland. Die Broschüre könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Khriek

Der Kampf der MigrantInnen

Sowohl das Weltproletariat als auch das in jedem Nationalstaat ist multiethnisch zusammengesetzt. Auch das Proletariat in Griechenland bildet da keine Ausnahme. Die Weltbourgeoisie und ihre Nationalstaaten spalten sowohl das globale Proletariat als auch das innerhalb der Nationalstaaten an Hand nationaler Linien, hetzen und verheizen es in den ökonomischen und militärischen Konkurrenzkämpfen der Nationalkapitale und halten gleichzeitig in fester Klassensolidarität gegen dessen Klassenkampf zusammen. Auch wenn die Weltbourgeoisie in unzählige nationale Bourgeoisien gespalten ist, ist doch die Kategorie „Weltbourgeoisie“ viel stärker mit sozialem Leben gefüllt, als der Begriff des „Weltproletariats“. Es gehört zur Mentalität von proletarischen RevolutionärInnen überall auf der Welt sich nicht als Deutsche, Franzosen, Ägypter, Japaner, US-Amerikaner usw. zu fühlen, sondern als Teil des globalen Proletariats. Sie müssen in ihren Diskussionen mit ihren Klassengeschwistern jedem Nationalismus entgegentreten und einen klaren antinationalen Standpunkt vertreten. Wenn sich die proletarisierten Menschen von kapitalistischer Ausbeutung und staatlicher Unterdrückung befreien wollen, dürfen sie sich nicht mehr von der Weltbourgeoisie gegeneinander aufhetzen lassen. Ein Angriff auf eine/n, ist ein Angriff auf alle! Wir sind das Weltproletariat, und haben potenziell die Kraft unsere nationalstaatlichen Käfige zu sprengen, um in einer globalen klassen- und staatenlosen Gesellschaft zu leben! Von diesem Bewusstsein müssen proletarische RevolutionärInnen überall auf der Welt durchdrungen sein. Sie kämpfen dafür, dass der Begriff des „Weltproletariats“ in einem langen und komplizierten Prozess mit sozialrevolutionärem Leben gefüllt wird.
Für alle SozialrevolutionärInnen überall auf der Welt ist die soziale Solidarität mit den zumeist proletarischen MigrantInnen gegen den Staatsrassismus, den kleinbürgerlichen und proletarischen Alltagsrassismus von unten und den organisierten Terror rassistischer SchlägerInnen- und MörderInnenbanden eine verdammt wichtige Aufgabe. Diese sozialrevolutionäre Solidarität mit dem migrantischen Teil des Proletariats richtet sich nicht nur gegen den Rassismus in allen seinen Formen, sondern auch gegen den kleinbürgerlichen Antirassismus. Wir führen keinen Kampf für die Liberalisierung des Staatsrassismus, so wie die kleinbürgerlichen AntirassistInnen –oder wie sie es nennen: für „weltoffene“ Nationalstaaten – sondern für die Zerschlagung aller Nationalstaaten durch die revolutionäre Aufhebung des Weltproletariats. Unsere sozialrevolutionäre Solidarität ist also nicht von einem klassenneutralen abstrakten „Humanismus“ geprägt, sondern von konkreter Klassensolidarität. Gleichzeitig wissen wir auch, dass unsere migrantischen Klassengeschwister in den Nationalstaaten um die Anerkennung der primitivsten Bedürfnisse durch diese Nationalstaaten kämpfen müssen. Staatlich anerkannte menschliche Bedürfnisse sind Rechte. Wer „Rechte“ sagt, sagt also immer auch Staat. Es ist klar, dass migrantische ProletarierInnen den jeweiligen Nationalstaaten das Bleiberecht abtrotzen müssen. Es ist ihr reproduktiver Klassenkampf als dem entrechtesten Teil der nichtlohnarbeitenden Schichten des Proletariats. Diesen reproduktiven Klassenkampf des migrantischen Proletariats unterstützen SozialrevolutionärInnen mit aller Kraft –und bekämpfen gleichzeitig die Humanitäts- und Menschenrechtsideologie des kleinbürgerlichen Antirassismus und seine hilflosen und entwaffnenden Phrasen. „Kein Mensch ist illegal!“ Doch, die Nationalstaaten illegalisieren das Proletariat anderer Nationen auf ihrem Territorium. Der Staat teilt Menschen in unterschiedliche Rechtssubjekte, in „InländerInnen“ und „AusländerInnen“. Er schließt ein in Käfige und grenzt aus. Deshalb kämpfen wir SozialrevolutionärInnen offensiv für proletarische Bedürfnisse, die kein Staat erfüllen kann, und betteln nicht bei den Staaten für die Anerkennung von abstrakten „Menschenrechten“! Kampf dem Staatsrassismus durch einen generellen Kampf gegen den Staat!
Der strukturelle Rassismus der griechischen Klassengesellschaft richtet sich sowohl gegen Asylsuchende, die zu den nichtlohnarbeitenden Schichten des Proletariats gehören, als auch gegen ArbeitsmigrantInnen. Die Bullen der griechischen Demokratie, von denen viele mit den FaschistInnen sympathisieren, terrorisieren tendenziell alle nichteuropäisch aussehenden Menschen. Das reicht von Kontrollen ohne einen anderen Anlass als dem eines strukturellen Rassismus. Die Bullen nehmen „AusländerInnen“, bei denen etwas mit den Papieren nicht stimmt, oft für unbestimmte Zeit fest. Manchmal behaupten auch die bezahlten Hooligans der Obrigkeit die vorhandenen Papiere von MigrantInnen seien gefälscht und sperren die Menschen einfach ein. Dabei schlagen sie auch oft mit ihren Knüppeln zu. Sogar koreanischen TouristInnen wurden von griechischen Bullen ohne konkreten Anlass angehalten, kontrolliert und festgenommen. Erst als sich „ihre“ Botschaft einmischte, wurden „die AusländerInnen“ von den uniformierten NationalistInnen wieder frei gelassen. Die FaschistInnen operieren als verlängerter Arm des Staatsrassismus. Ja, für die MigrantInnen existiert eine demokratisch-faschistische Sozialreaktion als eine sie im höchsten Maße bedrohende Realität.
Der griechische Staatsrassismus versucht das migrantische Proletariat möglichst erst gar nicht in das Land kommen zu lassen. So berichtete der 17jährige B. aus Afghanistan, der mit anderen über die Türkei nach Griechenland flüchtete: „Wir sind um 11.15 Uhr aufgebrochen. Es war Ende Februar 2013. (…) Wir waren seit dreieinhalb Stunden auf dem Meer, als wir auf das griechische Polizeiboot stießen. Sie nahmen uns an Bord. Sie schlugen uns sehr hart. Sie nahmen uns unser Geld, unsere Mobiltelefone, unsere Kleidung. Alles was wir hatten. Sie schlugen auch meine Schwester so, dass sie überall am Körper Blutergüsse hatte. (…) Gegen 18.00 Uhr fuhren sie uns in türkische Gewässer zurück. Sie setzten uns wieder in unser Boot, schlitzten dessen Seite mit dem Messer auf, zerstörten das Boot und nahmen den Motor weg und ließen uns mitten auf dem Meer zurück. Wir waren insgesamt 42 Menschen, darunter drei kleine Kinder. Es gab noch weitere Kinder, die waren älter. Sie ließen uns mitten auf dem Meer zurück mit nichts als einem zerstörten Boot.“ (Zitiert nach Heike Schrader, Verbrechen auf hoher See, in: junge Welt vom 11. Juli 2013, S. 7.)
Die Flüchtlinge, die trotz diesem rassistischen Staatsterror griechisches Hoheitsgebiet erreichen, werden auf diesem erst mal weggesperrt – und möglichst wieder abgeschoben. Von den Bullen werden die Flüchtlinge nicht selten mit Kriminellen in eine Zelle gesperrt. In der Regel werden sie in ein Knastsystem eingesperrt, welcher der griechische Staatsrassismus extra für sie geschaffen hatte – das so genannte Aufnahmezentrum. Die linke deutsche Kleinbürgerin Ulla Jelpke besuchte in ihrer Eigenschaft als Bundestagsabgeordnete ein solches „Aufnahmezentrum“ in Amygdaleza bei Athen. Sie beschrieb ihre Eindrücke folgendermaßen: „Es ist eine Art Containerlager, um das ringsherum ein Stacheldrahtzaun gezogen ist. Die Flüchtlinge werden meist in Gruppen nach Herkunftsländern zusammengefasst, die auch untereinander durch Stacheldraht getrennt sind. Es gibt keinen Sportplatz, keine Freizeiteinrichtungen, keine Möglichkeiten einer Arbeit nachzugehen, keine Bibliothek. Die Flüchtlinge können keinen Besuch empfangen. Mit einer Gesetzesänderung ist im vorigen Jahr (2012) die maximale Haftdauer von drei auf 18 Monate verlängert worden. Alle Flüchtlinge, mit denen ich sprechen konnte, saßen schon seit mindestens zehn Monaten ein, und sie hatten noch nicht eine einzige Anhörung zu ihrem Asylantrag. Kein Wunder, dass viele eine Art Lagerkoller entwickeln und das Gefühl haben, allmählich durchzudrehen.“ (Ulla Jelpke, Haftgrund Flucht, in: junge Welt vom 13. Juni 2013, S. 10.)
In der jungen Welt vom 12. August 2013 konnte mensch folgenden kurzen Artikel lesen, der vom sozialen Widerstand des migrantischen Proletariats in griechischen Abschiebelagern kündet: „In einem Abschiebelager nördlich von Athen sind in der Nacht zum Sonntag (den 11. August 2013, Anmerkung von Nelke) gewaltsame Proteste ausgebrochen. Nach Medienberichten wurden dabei mindestens zehn Bereitschaftspolizisten verletzt. Die Flüchtlinge hätten demnach im Lager von Amygdaleza Feuer gelegt und mit Steinen und anderen Objekten geworfen. 24 Inhaftierte entkamen, 14 sind aber bereits wieder festgenommen worden. Der Radiosender Skai berichtete, Auslöser der Proteste sei ein Beschluss der griechischen Behörden gewesen, die maximale Dauer der Abschiebehaft von 12 auf 18 Monate zu erhöhen. Außerdem sei wegen Wartungsarbeiten der Strom abgestellt worden, wodurch die Klimaanlagen in den überfüllten und mit bis zu 40 Grad aufgeheizten Containern ausgefallen seien. In dem Lager, das nur für 820 Insassen ausgelegt sei, sollen nach Polizeiangaben 1620 Menschen untergebracht sein.“ (Athen: Aufstand in Abschiebelager, in: junge Welt vom 12. August 2013, S. 1.)
Neben den Flüchtlingen, die zu den nichtlohnarbeitenden ProletarierInnen gehören, gibt es noch die ArbeitsemigrantInnen in Griechenland, welche zu den besonders hart ausgebeuteten und unterdrückten Schichten des Weltproletariats gehören. Die Situation philippinischer Hausangestellter beschreibt Debbie Valenci, Sprecherin der Vereinigung philippinischer Hausangestellter in Griechenland Casapi Hellas, so: „Für die Griechen sind die Auswirkungen der Krise verheerend, aber den ausländischen Hausangestellten ergeht es noch schlimmer. Viele haben ihre Arbeit verloren. Anderen wird weniger für die gleiche Arbeit gezahlt. Sie arbeiten zehn bis zwölf Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche –dafür bekommen sie oft nur noch 500 Euro im Monat. Viele haben Griechenland inzwischen verlassen, sind zum Beispiel in ein anderes europäisches Land gezogen, was nicht ganz einfach ist. Einige sind auch in ihre Heimat zurückgegangen, weil sie in Griechenland keine Zukunft sehen.“ („Migranten werden auch mit Knüppeln geschlagen.“ Gespräch mit Debbie Valenci, in: junge Welt vom 19. Juni 2013, S. 8.)
Auch der reproduktive Klassenkampf der ArbeitsmigrantInnen in Griechenland ist sehr hart. Sie müssen sich gegen den rassistischen Terror des Kapitals, der integrierter Teil des Klassenkampfes von oben ist, wehren. Einen dieser harten Klassenkämpfe der ArbeitsmigrantInnen beschrieb Heike Schrader: „Mit Schüssen in die Menge beantworteten am Mittwoch (den 17. April 2013, Anmerkung von Nelke) drei Angestellte eines Großbauern in der Region Manolada die Aufforderung von etwa 200 migrantischen Erdbeerpflückern, ihnen die ausstehenden Löhne auszuzahlen. Mindestens 35 Arbeiter wurden zum Teil schwer verletzt. Nach Angaben der Betroffenen hatten die als Aufseher fungierenden Angestellten des Agrarunternehmens AE auf Köpfe und Körper gezielt. Der Anblick Dutzender verletzter Menschen hätte ihn an Szenen aus einem Krieg denken lassen, erklärte der stellvertretende Direktor der Klinik von Vardas, in der die Verletzten gebracht wurden.
Wenige Stunden später nahm die Polizei den Firmenverantwortlichen unter dem Vorwurf der Anstiftung fest, die Täter selbst sind flüchtig. Nach Informationen der griechischen Initiative ,Vereint gegen Rassismus und die faschistische Bedrohung‘ handelt es sich bei ihnen um diejenigen, die im vergangenen August einen ägyptischen Erdbeerpflücker an ihr Fahrzeug gebunden und durch die Straßen der Provinzstadt Manolada gezerrt hatten.
Bereits in den vergangenen Jahren waren Berichte über die entwürdigenden Arbeits- und Lebensbedingungen der meist aus Nordafrika oder Asien stammenden Arbeiter bekanntgeworden. Danach müssen die Pflücker bis zu zwölf Stunden täglich für 25 Euro Tageslohn und ohne Sozialversicherung schuften. Von diesem werden ihnen dann noch etwa drei Euro für die Unterbringung in Baracken aus Holz und Plastikfolie ohne fließend Wasser und Strom abgezogen. Auch die Praxis, die teilweise ohne Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis beschäftigten Pflücker unter Androhung einer Anzeige bei der Polizei um ihren Lohn zu prellen, ist demnach gängige Praxis.“ (Heike Schrader, Blutige Erdbeeren, in: junge Welt vom 19. April 2013, S. 7.)

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Buchvorstellung!!! https://swiderstand.blackblogs.org/2013/10/22/buchvorstellun/ https://swiderstand.blackblogs.org/2013/10/22/buchvorstellun/#respond Tue, 22 Oct 2013 20:54:44 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=74 Eine Folge der Nichtassimilation der Juden und Jüdinnen Osteuropas war die Herausbildung eines besonderen jüdischen Proletariats in Osteuropa, welches vor und während der russischen Revolution von 1905 oft militante Kämpfe gegen kapitalistische Ausbeutung, staatliche Unterdrückung und mörderischen Antijudaismus in Form der Pogrome führte. Aus dem Kapitel Die jüdische Emigration aus Osteuropa

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Am Samstag, den 2. November um 15:00 Uhr im Rahmen der Linken Literaturmesse in Nürnberg Künstlerhaus K 4, Königsstraße 93, wollen wir gemeinsam mit Soziale Befreiung die Broschüre „Der Kampf des jüdischen Proletariats (1900-1945)“ vorstellen. Ihr seid herzlich eingeladen zu kommen.

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Privatisierung und Vernichtung des ostdeutschen Kapitals https://swiderstand.blackblogs.org/2013/06/15/privatisierung-und-vernichtung-des-ostdeutschen-kapitals/ https://swiderstand.blackblogs.org/2013/06/15/privatisierung-und-vernichtung-des-ostdeutschen-kapitals/#respond Sat, 15 Jun 2013 21:20:29 +0000 http://swiderstand.blogsport.de/?p=62 Wir veröffentlichen hier einen Auszug aus der Broschüre „Schriften zum Klassenkampf II“ über die Privatisierung in der DDR. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Treuehand in der DDR

Die am 1. März 1990 gegründete Treuhandanstalt sollte zunächst die Kombinate in Kapitalgesellschaften umwandeln, die aber nach kruder kleinbürgerlicher Ideologie in „Volkseigentum“ bleiben sollten. Westliches Kapital sollte nach diesen Vorstellungen nur Minderheitenanteile erwerben dürfen, um „Ausverkauf“ zu verhindern. Denn damals wurde die DDR-Politik noch von MarktsozialistInnen (SED/PDS) und der kleinbürgerlichen DDR-Opposition bestimmt. Diese Politik war grundsätzlich proprivatkapitalistisch – allerdings durchmischt mit kleinbürgerlich-moralistischer Bedenklichkeit.
Das damalige Treuhandgesetz war also ein klassischer Ausdruck der linksdemokratischen Ideologieproduktion in Ostdeutschland während der Wende. Als dann durch die „freien Wahlen“ vom 18. März 1990 die kleinbürgerlichen DemokratInnen durch die ostdeutschen Ebenbilder der großbürgerlichen Parteien ersetzt und schließlich am 3. Oktober die DDR an die BRD angeschlossen wurde, stand der Übernahme und Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft im Interesse des westdeutschen Kapitals nichts mehr im Wege. Das Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990 diente genau diesem Ziel. Die Treuhandanstalt wurde zum verlässlichen Instrument der Privatisierung und Plattmachung der ostdeutschen Wirtschaft. So wurden 85 Prozent des Produktivvermögens an westdeutsches oder an ausländisches Kapital verkauft. Wir sind keine kleinbürgerlichen ostdeutschen RegionalistInnen. Auch eine Privatisierung, welche stärker eine „ostdeutsche“ Kapitalbildung gefördert hätte, wäre aus antikapitalistischer Sicht natürlich genau so zu kritisieren gewesen wie die vorwiegende reale Übernahme der ostdeutschen Wirtschaft durch westdeutsches Kapital.
Für das westdeutsche Kapital war die Privatisierung und Vernichtung des ostdeutschen Kapitals ein Riesengeschäft. So konnte auch die Überanhäufungssituation von Kapital, indem sich der bundesdeutsche Kapitalismus seit 1974 befand (siehe dazu das Kapitel Der polnische Staatskapitalismus in der Geschichte der globalen Kapitalvermehrung im Text Klassenkämpfe im staatskapitalistischen Polen), stark abgemildert werden. Die westdeutsche Kapitalvermehrung befand sich nach dem Anschluss der DDR in einer zweijährigen Sonderkonjunktur. Die Profitmasse erhöhte sich gewaltig durch das Erschließen des neuen ostdeutschen Absatzmarktes und durch den billigen Kauf ostdeutscher Betriebe. Letzteres wirkte sich auch positiv auf das Wertverhältnis des produktiven Kapitals in Ostdeutschland –dem Verhältnis zwischen Produktionsmittelkosten und Lohnkosten – aus, was ebenfalls die Profitrate des westdeutschen Kapitals, das jetzt im Besitz des größten Teiles der ostdeutschen Wirtschaft war, steigen ließ. Die niedrigeren Löhne in Ostdeutschland wirkten sich ebenfalls positiv auf Mehrwert- und Profitraten des westdeutschen Kapitals aus.
Werner Biermann und Arno Klönne schrieben über die Sonderkonjunktur des westdeutschen Kapitals durch den DDR-Anschluss auf Kosten des gesamtdeutschen Proletariats: „Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Gewinne westdeutscher Unternehmen sich nach dem Anschluss durchschnittlich verdoppelten, und zwar von insgesamt 345 Milliarden DM jährlich zwischen 1980 und 1989 auf 653 Milliarden für 1995. Nun war die Bundesregierung gefordert, durch entsprechende Gesetzte dafür zu sorgen, dass der Großteil dieser Gewinne auch bei den Unternehmen verblieb. Das Standortsicherungsgesetz von 1994 senkte den Einkommenssteuersatz von 53 auf 44 %. Unter Berücksichtigung weiterer steuerlicher Vergünstigungen liegt der effektive Steuersatz bei ungefähr 15% und damit weitaus niedriger als in den USA oder Frankreich.
Andererseits wurden die Transferleistungen durch höhere Belastungen für die lohn- und gehaltsabhängige Bevölkerung im Westen (Steuern und Abgaben) und Kappung sozialer Leistungen erwirtschaftet: Steuererhöhungen auf Benzin und Tabak, Anhebung des Mehrwertsteuersatzes und Einführung des Solidaritätszuschlages, der eine Steigerung der Steuerlast auf Lohn- und Gehaltseinkommen in Höhe von 7,5 Prozent bedeutete. Es bildete sich aus der deutschen Vereinigung eine günstige Konstellation heraus, um langgehegte Pläne des westdeutschen Kapitals umzusetzen, nämlich die sozialen Leistungen strukturell zu mindern, die Finanzierung staatlicher Aufgaben verstärkt der lohnabhängigen Bevölkerung aufzubürden und gleichzeitig die Politik der Umverteilung von unten nach oben durch Senkung der Besteuerung von Unternehmen und hoher Einkommen zu forcieren.
Seit der Einverleibung der DDR hat sich vor dem Hintergrund grassierender Arbeitslosigkeit in Ost- und Westdeutschland das Machtverhältnis massiv zugunsten der Unternehmerseite verschoben. Das besonders betroffene Anschlussgebiet Ost wurde zum Exerzierfeld neuer Gestaltungsformen: 1993 rückten Firmen wie Jenoptik AG und IBM von der drei Jahre zuvor beschlossenen Vereinbarung ab, die Ost-Löhne dem westdeutschen Standard gleitend anzupassen. Beide Unternehmen waren auch Vorreiter bei der Aufkündigung von Tarifverträgen. Generell gilt: Das Kapital nutzte die Strukturprobleme im Osten, um soziale Errungenschaften auch im Westen auszuhebeln.“ (Werner Biermann/Arno Klönne, Ein Spiel ohne Grenzen. Wirtschaft, Politik und Weltmachtambitionen in Deutschland 1871 bis heute, PapyRossa Verlag, Köln 2009, S. 211/212.)

…..

Eine strukturelle Überanhäufungssituation von Kapital, in der sich die BRD seit 1974 befindet, ist zugleich eine Unteranhäufung von Kapital: Es ist zu viel kleines und nicht wirklich überlebensfähiges Kapital angehäuft. Durch den Konkurrenzkampf wird massenhaft kleines und/oder nicht überlebensfähiges Einzelkapital durch großes und ökonomisch potenteres Kapital geschluckt. Einzelkapital wird vernichtet und die Konzentration und Zentralisation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals erhöht sich und ein höher konzentriertes und zentralisiertes Gesamtkapital erzielt eine höhere Profitmasse. Das geschah in der BRD nach dem DDR-Anschluss. Westdeutsche Kapitale konnten sich in Ostdeutschland billig Großbetriebe dazukaufen. Zum Beispiel Siemens. Der Elektronikkonzern kaufte von der Treuhand 16 ehemalige DDR-Betriebe zum Schnäppchenpreis von insgesamt 250 Millionen D-Mark.
Doch eine strukturelle Überanhäufungssituation ist nicht nur durch ein Zuviel an zu kleinem und nicht überlebensfähigen Kapital gekennzeichnet, sondern es existiert auch zu viel Warenkapital, dass nicht oder nur sehr schwer auf den verschiedenen Märkten durch Verkauf der Waren in Geldkapital umzuwandeln ist. Dieses Zuviel an Warenkapital – sowohl zu viel produzierte Produktionsmittel als auch zu viele Konsumgüter – heißt immer auch zu viel produktives Kapital, zu viele Betriebe und zu viele LohnarbeiterInnen, die zu viel unverkäufliches Zeug produzieren. Diese Situation lässt sich im Rahmen des Kapitalismus nur durch physische Vernichtung von Waren- und produktiven Kapital lösen. Waren werden vernichtet, Betriebe stillgelegt und LohnarbeiterInnen massenhaft entlassen. Auch dies geschah in Ostdeutschland nach dem Anschluss durch die BRD. Seit dem 1. Juli 1990 galt in der DDR die D-Mark. Das viel unproduktivere DDR-Kapital war von heute auf morgen der bundesdeutschen Konkurrenz ausgesetzt worden, der es massenhaft unterlag. Dazu kam, dass DDR-Produkte durch die Verklärung des bundesdeutschen Kapitalismus und seiner Erzeugnisse so gut wie gar nicht mehr gefragt waren. So waren ein Jahr nach der Vernichtung der DDR das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt um 40 Prozent gesunken, die Industrieproduktion um 70% und die Beschäftigtenanzahl um 40% zurückgegangen. Ostdeutsches Kapital wurde massenhaft im Interesse der westdeutschen Bourgeoisie vernichtet, damit sich für sie die Verwertungsbedingungen ihres Kapitals verbesserten.
Über die Treuhand kauften bundesdeutsche Konzerne auch ostdeutsche Betriebe der gleichen Branche auf, um die Produktion gezielt herunterzufahren, um den Markt unter ihrer Kontrolle von zu viel Waren- und produktivem Kapital zu reinigen. Zum Beispiel Krupp. „Das Kaltwalzwerk Oranienburg gehörte seinerzeit zu den neuesten und modernsten in Europa überhaupt. Für rund 40 Millionen Euro hatte Krupp 1990 das Werk erworben und Millionen an Fördermitteln für die Sicherung von 600 Arbeitsplätzen kassiert. Was den Konzern nicht daran gehindert hatte, die Zahl der Mitarbeiter dennoch auf 270 und die Produktion kräftig herunter zu fahren. Bis die Grenze der Wirtschaftlichkeit erreicht wurde. Die Anlagen wurden nach der Schließung –wie verlautete – demontiert und an China verkauft. Das Gelände ging an einen Handelskonzern. (…) Erst viele Jahre später, 1996, hatte Krupp sieben Millionen Mark an Investitionsförderung an das Land Brandenburg zurückgezahlt. Erst nach einer langen Auseinandersetzung ließ sich der Konzern auf diesen Vergleich ein.“ (Klaus Huhn, Raubzug Ost. Wie die Treuhand die DDR plünderte, edition Ost, Berlin 2009, S. 155.)
Doch durch den Anschluss der DDR durch die BRD konnte die Überanhäufungssituation von Kapital in Deutschland lediglich abgemildert, aber nicht aufgelöst werden.

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