Category Archives: Eigenbeiträge

Struktureller Antiziganismus – z.B. das Feindbild Bettler

In Zeiten der sich ausweitenden Wirtschaftskrise in Europa macht sich im öffentlichen Diskurs eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber Bettlerinnen und Bettlern breit. Beispielsweise in Österreich haben einige Städte totale Bettelverbote erwirkt.
Ressentiments gegen Bettelei haben eine lange Geschichte und waren schon immer weit verbreitet, unterliegen aber politischen Konjunkturen.

Es gibt erkennbar starke Überschneidungen vom Anti-Bettler-Ressentiment zum antiziganistischen Ressentiment. Einmal gibt es Anfeindungen gegen Bettler_innen, die gleichzeitig gegen Sinti & Roma und Sintize & Romnija sind bzw. dieser Bevölkerungsgruppe zugeordnet wurden (z.T. als „Bettel-Roma“ bezeichnet), andererseits gibt es auch starke strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den beiden Ressentiments.
Beide Ressentiments:
… werfen Menschen einen angebliche „faulen“ und „verwerflichen“ Lebenswandel und vor allem Lebenserwerb vor.
… ignorieren, dass die reale Lebensweise der Angefeindeten, sofern sie sowieso nicht nur ein vollkommenes Klischee ist, verfolgungs- und armuts-bedingt zustande gekommen ist.
… verkörpern das Unbehagen des Spießbürgers gegen alle die vermeintlich freier und unbeschwerter leben. „Zigeuner“ wie Bettler gelten als „faul“ und „arbeitsscheu“, finden aber angeblich über Betrug und andere Machenschaften ein gutes Auskommen.
… werfen den Angefeindeten vor auf Kosten der Allgemeinheit zu leben.
B.Z. hetzt gegen Roma
Diese Gemeinsamkeiten lassen es durchaus zu von einer Art struktureller Antiziganismus zu sprechen.

Bettelei gilt in den Augen des Durchschnittsbürgers als Nichtstun. Auf Bürostühlen oder an der Rezeption darf man tatenlos rumsitzen, aber nicht in der Kälte an belebten Plätzen.

Viele Bürger_innen fühlen sich von Bettler_innen belästigt. In den allermeisten Fällen dürfte aber nicht das angeblich „aggressive“ Betteln die eigentliche Ursache sein, sondern das den Normalmenschen Armut direkt und ungefragt unter die Augen tritt. Unkontrollierte Armut aber, die nicht in den Fernseher gebannt ist, ist dem Wohlstandsbürger unheimlich und peinlich.

Gibt es einerseits die Tendenz, dass Armut bewusst „übersehen“, also unsichtbar „gemacht“, wird, so wird sie andererseits häufig auch als „Schandfleck“, also als „störend“, angesehen. Tatsächlich durchbrechen Bettler_innen und andere so genannte „Elendsgestalten“ die Illusion einer heilen Welt in der westlichen Marktwirtschaft. Die Bürgerschaft fühlt sich „gestört“ durch Bettler_innen, Straßenpunks, Prostituierte oder Drogenkranke. So stellt sie an den Staat die Forderung nach „Abhilfe“.
Der Staat kann als kapitalistischer Staat Armut aber nicht wirklich abschaffen, denn dafür bräuchte es eine neue Gesellschaft, u.a. auf Basis einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel.
Während der faschistische Staat nicht Armut beseitigt, sondern Arme wie z.B. bei der „Aktion Arbeitsscheu“ 1938 im „Dritten Reich“, kann der bürgerliche Rechtsstaat nicht zu derart drastischen Mitteln greifen. Er illegalisiert die „störenden“ Randgruppen und vertreibt sie aus der Innenstadt in Randgebiete, den Untergrund oder inhaftiert sie gleich für längere Zeit.
So geraten Armut und soziale Randgruppen aus dem Blickfeld der bürgerlichen Gesellschaft. Ähnliches geschah mit Sinti und Roma, die einer Vertreibung oder der Forderung nach Zwangsassimilation ausgesetzt waren.

Von „Zigeuner“ zu „Bettel-Roma“

Im progressiven Sprachgebrauch wurde die häufig als Schimpfwort verwendete und eng mit Klischees verbundene Bezeichnung „Zigeuner“ durch den Begriff „Roma“ bzw. „Sinti und Roma“ ersetzt, der mehrheitlich auch als Eigenbezeichnung Verwendung findet.
Trotzdem muss „Roma“ nicht immer ein emanzipatorischer Begriff sein. In der TV-Dokumentation „The Truth lies in Rostock“ drohen Rechte „Roma“ zu „klatschen“. Die Berliner Tageszeitung „B.Z.“ schreibt auch von „Bettel-Roma“.

B.Z. hetzt gegen Roma

Damit wird die eigentlich progressive Namensgebung ad absurdum geführt. Der Klischee-Ballast der alten Bezeichnung „Zigeuner“ wird so auch an die neue Bezeichnung angehängt. Mit „Bettel-Roma“ entsteht das Klischeebild vom faulen und bettelnden „Zigeuner“ aufs Neue.

Sehr wenig hilfreich ist auch der Unsinnsbegriff „Rotationseuropäer“, der offenbar von besonders einfallslosen Beamten erschaffen wurde. In „Rotationseuropäer“ steckt das Klischee vom nomadisch lebenden „Zigeuner“ fest mit im Begriff drin. Das eine kleine Minderheit von Roma auch heute auf der Straße noch unterwegs ist, ist historisch bedingt durch eine Verfolgungsgeschichte. Antiziganist_innen lieben den Begriff „Rotationseuropäer“ und nehmen ihn gerne als Beleg für eine scheinbar vorherrschende politische Korrektheit. So wird der durch den Kontext ins Ironische gewendete Begriff von rechten Medien gerne verwendet.

Fazit: Ein Begriff ist also nicht per se emanzipatorisch, sondern wird es erst in einem bestimmten Verwendungs- und Gebrauchs-Kontext.

Zeitschriftenvorstellung: „Newess“ – das Magazin des Zentralrats

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gibt zusammen mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, beide mit Sitz in Heidelberg, neuerdings halbjährlich das Magazin „Newess“, zu Deutsch „Neues, heraus. Die Ausgabe 1/2011 vom August 2011 des Magazins ist farbig, hat 50 Seiten und eine Auflage von 6.500 Exemplaren.
Im Geleitwort von Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats, schreibt dieser, dass das Magazin sich der „Trias Menschenrechte, Dialog und Erinnerung“ widmen wolle.
In dem Text über die Tätigkeiten des Kulturzentrums wird auch von den Besuchen von Norbert Lammert oder vom US-Botschafter in Deutschland berichtet, was zeigt das das Kulturzentrum und sein Thema eine hohe Akzeptanz erfahren. Dafür spricht auch die Rede des niederländischen Sinto Zoni Weisz am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, diesen Jahres im Bundestag, über die das Magazin berichtet. Inzwischen gebe es auch, so „Newess“, im deutschsprachigen Raum über 100 Gedenkorte für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma.
Das Kulturzentrum verfügt auch über eine eigene Bibliothek mit über 12.000 Medieneinheiten, die seit diesem Jahr öffentlich zugänglich ist, wie es im Magazin heißt.
Zum Thema Online-Antiziganismus heißt es, dass dieser sich in 75% der rechten Szene-Angebote findet, aber 59% aller Fälle auf Mitmachnetzwerken wie Facebook oder Youtube zu finden seien, dort vor allem in der Kommentarspalte.
Das Magazin „Newess“ kann kostenlos bestellt werden, Kontakt unter www.sintiundroma.de

Antiziganistische Unruhen und Pogrome in Bulgarien: Wer steckt dahinter?

In der Nacht vom 24. zum 25. September 2011 kam es in dem bulgarischen Dorf Katunitsa (2.400 Einwohner_innen) zu heftigen Ausschreitungen gegen Roma. Daran waren bis zu 3.000 Menschen beteiligt, also weitaus mehr als Katunitsa an Einwohner_innen hat. Die Medienberichte sprechen von bis zu 2.000 angereisten rechten Fußballhooligans aus der nahe gelegenen Stadt Plovdiv, der zweitgrößten Bulgariens. Drei Häuser einer Roma-Großfamilie wurden in einem Pogrom gestürmt und teils in Brand gesetzt, eines der Gebäude wurde dabei weitgehend zerstört. In den folgenden Tagen breiteten sich die rassistischen Unruhen auf mindestens 20 Orte in Bulgarien aus.

In den deutsch- und englischsprachigen Berichten ist übereinstimmend davon die Rede, dass der lokale Konflikt in der Nacht zum 25. September eskalierte als Hooligans aus Plovdiv intervenierten. Das soll aber keinesfalls den rassistischen Mob des Ortes entschuldigen, der einen sozialen Konflikt bzw. einen Autounfall bereits vor der Nacht zum Anlass für antiziganistische Proteste genommen hat. Keinesfalls lässt sich die schuld einfach zugereisten Rowdys allein zuschieben. Vielmehr muss wie bei den antiziganistischen Protesten im nördlichen Tschechien davon ausgegangen werden, dass die örtliche antiziganistisch eingestellte Bevölkerung und die angereisten Hooligans zusammengearbeitet haben bzw. die Lokalbevölkerung in hohem Maße mit den gewalttätig agierenden Hooligans sympathisiert hat. Continue reading Antiziganistische Unruhen und Pogrome in Bulgarien: Wer steckt dahinter?

Wie aus antiziganistischen Pogromen und Angriffen in den Medien ein Bürgerkrieg gemacht wird

Pogrom in Bulgarien
OBEN: Kein Bürgerkrieg, sondern ein Pogrom hat in Bulagrien stattgefunden (Screenshot: Spiegel-Online)

Etwas zeitverzögert nach Beginn der antiziagnistischen Pogromversuche und Angriffe auf die Roma-Minderheit in Tschechien und später auch in Bulgarien begannen auch die deutschsprachigen und internationalen Medien zu berichten.
In Teilen der Berichterstattung findet sich dabei eine extrem verzerrte Darstellung der Situation. Da wird von „ethnischer Konflikt“, von „ethnic tensions“ oder gar von einer Art Bürgerkrieg geschrieben oder gesprochen. So entsteht in der Leser- und Zuschauerschaft der Eindruck, es gäbe hier zwei relativ gleichstarke Parteien, die sich aggressiv gegenüberständen. Tatsächlich aber stehen sich sowohl in Tschechien als auch in Bulgarien eine sozial schwache und gesellschaftlich isolierte Minderheit und eine in weiten Teilen rassistisch eingestellte Mehrheitsbevölkerung gegenüber, die aus antiziganistischen Motivation die Minderheit anfeindet und angreift. Es ist handelt sich somit um keinen ethnischen Konflikt oder Bürgerkrieg zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, sondern um die „klassische“ Situation, in der eine Mehrheit eine Minderheit diskriminiert.
In Tschechien selbst versuchen Neonazis und der rassistische Mob genau mit diesem Bild ihre Taten zu legitimiere. Angeblich würden Roma aus rassistischen Motiven Angehörige der tschechischen Mehrheitsbevölkerung angreifen. Da Roma in Ländern wie Tschechien massive Diskriminierung erfahren und am unteren Ende der sozialen Hierarchie stehen, sind sie oft sehr isoliert. Nach dem fall des Eisernen Vorhangs wurden Roma in eigenen Vierteln und Quartieren konzentriert. Inzwischen existieren in Tschechien über 300 von diesen Vierteln.

Aus Armut und Verzweiflung entstehen tatsächlich manchmal Verstöße gegen Gesetze, weil man schlicht zum Überleben in einigen Fällen Eigentumsdelikte begehen muss. Nur Personen bei denen berereits eine antiziganistische Prägung vorhanden ist, lasten diese Armutskriminalität einem herbeihalluzinierten Wesen oder einer spezifischen Kultur der Roma an.
Aus denselben rassistischen Motiven werden Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Roma und Nicht-Roma zu „antitschechischer Gewalt“ umgedeutet. Das sich hier Gruppen unterschiedlicher Herkunft gegenüberstehen liegt zumeist daran, dass die Roma-Minderheit besonders auf dem Land und in kleineren Städten so isoliert ist, dass ihre Angehörigen gezwungenermaßen unter sich bleiben. Dass spiegeltt sich auch in dem Umstand wieder, dass Roma-Kinder in Tschechien mehrheitlich auf Sonderschulen abgeschoben werden.

Das in den Medien auch gemeldet wurde das sich die Bewohner der bedrohten Quartiere mit Stöcken bewaffnet haben, ist auch kein Indiz für einen ethnischen Konflikt. Es handelt sich um eine Notwehrsituation, in der Menschen versuchen ihre Familien vor Übergriffen zu schützen.

Diese angebliche „Tschechenfeindlichkeit“ lieferte dann den Vorwand für die antiziagnistischen Masseaufmärsche. Bei diesen bildeten zumeist die angereisten Neonazis eine Art gewalttätige Vorhut und versuchten die Roma-Quartiere anzugreifen.
Da diese von Sonderkräften der Polizei beschützt wurden, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Neonazis. Die meisten bürgerlichen Demonstrant_innen nahmen an diesen direkten Angriffen nicht teil, äußerten aber laut Zustimmung für die Nazis.

Chronik der antiziganistischen Massenaufmärsche in Nordböhmen

In Nordböhmen (Tschechien) kam es Ende August und September 2011 zu mehreren antiziganistisch motivierten Aufmärschen und Kundgebungen, dan denen nicht selten mehrere hundert Angehörige der ethnisch-tschechischen Mehrheitsbevölkerung aus der Region und angereiste Rechte teilnahmen. Die meisten der Aufmärsche nahmen zeitweise den Charakter eines Progroms gegen die Roma-Minderheit an. Nur starke Polizeikräfte verhinderten erfolgreiche Angriffe auf die Wohnungen und Quartiere der Minderheit. Hier eine Chronologie der Ereignisse:

Screenshot antiziganistischer Aufmarsch Continue reading Chronik der antiziganistischen Massenaufmärsche in Nordböhmen

Zwei kurze Buchkritiken zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma

Das Pariser Zentrum für Sinti- und Romaforschung hat mit dem schmalen Band „Sinti und Roma unter dem Nazi-Regime. Von der „Rassenforschung“ zu den Lagern“ (Berlin, 1996) ein bemerkenswert detailreiches Buch herausgegeben, dass auch mit Originalquellen arbeitet.
Im Buch selbst werden die diversen Analogien von Antiziganismus und Antisemitismus betont. Beide Minderheiten stehen aus völkisch-nationalistischer Sicht dem Ideal der nationalkulturellen Homogenität im Weg.
Sinti und Roma dienten dazu auch noch als Objekte um von Staatsseite Einheit und Einheitlichkeit durchzusetzen, d.h. sie waren eine Minderheit, an der allen sozialen Randgruppen exemplarisch gezeigt wurde, wie mit ihnen verfahren wird, wenn sie sich nicht in die „Volksgemeinschaft“ integrieren: „Sinti und Roma dienten als Modelle zur Definition des Asozialen“ (Seite 12)
Als rassisch definierte Minderheit hatten die deutschen Sinti und Roma freilich nie diese Möglichkeit. Bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gibt es eine Tradition der Verfolgung und Bevormundung von Sinti und Roma. Im Dritten Reich setzt dann ein „Völkermord auf Raten“ ein, mit Zwangssterilisierungen seit 1934 beginnt. Auch die Überwachung verschärft sich:

„Die Polizei ging von der traditionellen Überwachung der als suspekt geltenden mobilen Bevölkerung zu einer vorbeugenden Identitätskontrolle in den Städten über.“ (Seite 11)

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Literarischer Antiziganismus – zum Beispiel „Die Brücke über die Drina“

Der jugoslawische Nobelpreisträger Ivo Andric erzählt in seinem sehr lesenswerten Buch „Die Brücke über die Drina“ (München, 7. Auflage 1995) die wechselvolle Geschichte Bosniens am Beispiel einer Grenzstadt. Dabei kommen verschiedene Ethnien und Religionsgruppen vor: Serben, Türken, Christen, Muslime, Juden und auch „Zigeuner“. An einer Stelle im Buch beschreibt Andric gut den vorherrschenden, christlichen Antiziganismus der Mehrheitsbevölkerung:

„Der Bauer quälte sich, er machte ein finsteres Gesicht und dachte bei sich: Er ist ein Zigeuner, ein Wesen ohne Gott und Seele, weder kannst du ihn zum Gevatter machen noch dich mit ihm verbrüdern oder ihn bei irgend etwas auf Erden oder im Himmel beschwören […].“ (Seite 66)

Da dieses Denken einem Protagonisten zugeordnet ist und nicht die Meinung des Autors wiedergibt, ist es lediglich eine realistische Wiedergabe eines vorherrschenden Ressentiments. An anderer Stelle aber, verfängt sich der Autor in seiner Beschreibung in einem antiziganistischen Klischee:

„Schacha ist eine schielende Zigeunerin, ein freches Mannweib, das mit jedem trinkt, der es bezahlen kann, aber nie betrunken wird. Ohne sie und ihre gewagten Scherze kann man sich kein Trinkgelage denken.“ (Seite 258)

Hier wird, eindeutig negativ konnotiert, das Bild von der „Zigeunerin“ wiedergegeben, die als „Mannweib“ gegen die herrschende Geschlechterordnung verstößt, indem sie wie ein Mann trinkt und scherzt.
Diese Stelle ist keinesfalls prägend für das Buch „Die Brücke über die Drina“, es ist nur ein Beispiel wie auch in wirklich guter und engagierter Literatur vereinzelt antiziganistische Klischees auftauchen können.

Exklusiv-Interview zu der Situation der Roma-Minderheit in Tschechien

Der in Prag lebende Journalist Menschenrechtsaktivist Markus Pape vom „Europäischen Zentrum für Romarechte“ war so freundlich für http://antizig.blogsport.de einige Fragen zur Situation der Roma in Tschechien zu beantworten.

Antizig-Watchblog: Wie groß ist überhaupt die Roma-Minderheit in CZ?

Pape: Es gibt nur Schätzungen, die sich zwischen 150 und 250 tausend Roma bewegen. Bei Volkszählungen bekennen sich nur wenige tausend Bürger zur „Volksgruppe der Roma“, weil sie entweder Nachteile dadurch befürchten oder aber sich in erster Linie als Tschechen oder Slowaken fühlen.

Antizig-Watchblog: Wie ist ihre gesetzliche Stellung und wie ihre soziale?

Pape: Gesetzlich sind die Roma als ethnische Minderheit anerkannt, etwa zwei Drittel der Roma leben nach Schätzungen in Armut. In den Medien werden Roma zumeist nur in Verbindung mit Kriminalität, Armut oder Konflikten erwähnt. Darum weiß niemand, dass Zehntausende von Roma hier einer ordentlichen Arbeit nachgehen.

Antizig-Watchblog: Wie war die Stellung der Roma in der CSSR?

Pape: Dadurch es ein Arbeitspflicht gab, mussten sie beschäftigt werden, zumeist mit schwerer körperlicher Arbeit und mit Arbeiten, die ethnische Tschechen nicht verrichten wollten. Schwere körperliche Arbeit wurde überdurchschnittlich bezahlt und dadurch hatten viele Romafamilien einen relativ guten Lebensstandard. Nach der Wende wurden die meisten Roma entlassen und durch Billigarbeiter aus der Ukraine oder anderen Ländern ersetzt.

Antizig-Watchblog: Gibt es eine Roma-Bürgerrechtsbewegung bzw. – Selbstvertretung? Wie ist sie entstanden und was tut sie?

Pape: Es gibt Fragmente einer Bürgerrechtsbewegung, aber keine politische Selbstvertretung. Am Regierungsamt trifft sich regelmäßig ein Rat für Angelegenheiten der Romakommunität. Seine Mitglieder – zur Hälfte Vertreter von Ministerien, ansonsten Vertreter von NGOs, zum Teil auch Roma – werden von der Regierung ernannt und nicht von Roma selbst gewählt. Zurzeit funktioniert dieser Rat kaum.

Antizig-Watchblog: Gibt es in der politischen Linken Unterstützer und Freunde für die Minderheit?

Pape: Es gibt einzelne Politiker, Aktivisten und Bürgerrechtler quer durch das politische Spektrum, welche die Roma unterstützen. Die Parlamentarische Linke tut dies nur selten und sehr zögerlich. Allein die tschechischen Grünen setzten sich aktiv für die Roma, scheiterten vermutlich auch deswegen aber bei den letzten Parlamentswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde.

Antizig-Watchblog: Erhalten Angehörige der Roma-Minderheit, die die Verfolgung unter der nationalsozialistischen Besatzung überlebt haben, so genannte „Entschädigungen“ durch die Bundesrepublik?

Pape: Zwischen der BRD und Tschechien wurde vereinbart, dass die Entschädigungen von tschechischer Seite aus aber mit Mitteln eines gemeinsamen Fonds ausgezahlt werden. Dies wurde nach langwierigen Verhandlungen und auf Druck von Opferverbänden Ende der Neunziger Jahre bilateral beschlossen.

Antizig-Watchblog: Immer wieder wird in den Medien von antiziganistischen Übergriffen durch extreme Rechte berichtet. Wie häufig passiert das und wie reagieren die Mehrheitsbevölkerung und die Behörden darauf?

Pape: Es gab in den letzten Jahren viele antiziganistische Übergriffen von Neonazis. Viele wurden von der Polizei verheimlicht oder nur in Statistiken anonym erwähnt. Die Bevölkerung reagiert eher gleichgültig. Wenn bestimmte Fälle medialisiert werden, kommt es auch zu Beschwerden, dass diese Übergriffe in keinem Verhältnis zur angeblich „großen“ Kriminalität der Roma stehe. Dementsprechend werden sie verharmlost. Eine Ausnahme stellt der Brandanschlag von Vítkov vom 18. April 2009 dar, bei dem ein kaum zweijähriges Mädchen durch schwere Verbrennungen schrecklich entstellt worden ist. Auch dieser Fall ist jedoch mittlerweile fast wieder in Vergessenheit geraten.

Antizig-Watchblog: Wie realistisch sind die Hoffnungen in EU-Bemühungen zur Verbesserungen der Lage der Minderheit?

Pape: Die EU investiert viel Geld in Verbesserungen der Lage der Minderheit, kümmert sich jedoch selten darum, wo diese Gelder versickern. Zumeist erreichen sie nicht die Roma selbst, sondern werden in Berichten, Analysen oder Programmen verpulvert.

Antizig-Watchblog: Wie könnte praktische Solidarität in der Bundesrepublik für Roma in Tschechien aussehen?

Pape: Qualifizierte Berichterstattung, finanzielle Unterstützung von effektiv arbeitenenden Roma-NGOs und aktive Beteiligung an Aktionen gegen Nazis in Tschechien.

Antizig-Watchblog: Wir bedanken uns für das Interview!

Rechtes Wochenblatt übt sich in antiziganistischer Hetze

In der neurechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“ (JF) Nr. 25/11 vom 17. Juni 2011 finden sich zwei Beiträge, die beispielhaft sind für einen rechten Antiziganismus.

Auf Seite 2 in dieser JF-Ausgabe findet sich unter der bezeichnenden Überschrift „Nicht unser Problem. Roma: Die Lage der Minderheit zu verbessern ist Sache ihrer Herkunftsländer“ ein Text von Andreas Mölzer aus Österreich. Mölzer gilt als Chefideologe der rechtspopulistischen „Freiheitlichen Partei Österreichs“ (FPÖ) und er war seit 1995 Chefredakteur der extrem rechten österreichischen Wochenzeitung „Zur Zeit“.
In seinem Beitrag für die JF schreibt Mölzer über eine angebliche „Roma-Problematik“. Das „Problem“ liegt für Mölzer vor allem bei den Roma selbst und nicht im Umgang mit dieser Minderheit. So schreibt von „der ihrem Wesen und ihrer Kultur inhärenten Umstände und Probleme im Hinblick auf wirtschaftliche und soziale Integration“.
Mölzer baut ein wohlstandschauvinistisches Feindbild auf, wenn er schreibt:

Diese Möglichkeit des „Sozialtourismus“ kommt dem fahrenden Volk naturgemäß gelegen.“ Mölzers „Lösung“ orientiert sich an der Vertreibunspolitik von Sarkozy: „Die Auflösung der illegalen Lager durch die Franzosen und die Rückführung der Roma in ihren herkömmlichen Lebensraum stieß naturgemäß auf heftige Kritik der politisch-korrekten Gutmenschen des EU-Establishments.

Auffällig ist in Mölzers Beitrag, dass er einen Teil seines Vokabulars aus der Tier- und Naturbeschreibung zu entnehmen scheint („ihrem Wesen […] inhärent“, „naturgemäß“, „herkömmlichen Lebensraum“).
Damit steht Mölzer exemplarisch für eine alte antiziganistische Traditionslinie in der Sinti und Roma zu „Naturmenschen“ gemacht werden, die dann den „Kulturmenschen“ gegenübergestellt werden.

Der zweite antiziganistische Beitrag trägt den Titel „»Das kontrolliert niemand«. Berlin-Neukölln: Ein Stadtteil wird dank Osterweiterung und Freizügigkeitsregelung zur Zigeunerhochburg“, ist auf Seite 4 zu finden und stammt aus der Feder von Lion Edler aus Berlin.
Es setzt gleich mit einem Zitat aus einem Lied ein, das geprägt ist von antiziganistischen Klischees: „Lustig ist das Zigeunerleben“.
Es geht um rumänische Roma, die in jüngster Zeit nach Berlin-Neukölln gekommen sind, um der Armut und Diskriminierung in ihrer Heimat zu entkommen. Auch in Berlin müssen die Roma als „illegale“ Einwanderer und zumeist ohne kapitalistisch verwertbare Berufskenntnisse unter sehr schlechten Bedingungen leben.
Lion Edler schreibt über den in Berlin neu angekommenen Roma in typisch antiziganistischer Manier angebliche Kriminalität und angeblich fehlende Hygiene als originäre Eigenschaften zu:

Immer öfter kocht die Wut über illegal eingewanderte Roma-Großfamilien hoch, die sich zumeist mit Bettelei und Diebstahl ihren Lebensunterhalt verdienen. Doch damit nicht genug: Erschreckt sind Ordnungsämter und Polizei häufig über die hygienischen Gepflogenheiten der Clans.

Das Roma-Flüchtlinge in Deutschland unter schlechten hygienischen Verhältnissen leben müssen, ist nach Lion Edler nicht etwa das Ergebnis einer Lebenssituation, die sie nicht beeinflussen können, sondern von „hygienischen Gepflogenheiten“.
Wurde am Anfang noch behauptet, die zugewanderten rumänischen Roma in Berlin würde „sich zumeist mit Bettelei und Diebstahl ihren Lebensunterhalt verdienen“, wird später das Blatt B.Z. Mit den Worten zitiert man wisse „nicht, von welchem Geld sie leben“. An anderer Stelle heißt es in dem Artikel „Viele Roma arbeiten schwarz […]“. Trotz der typisch antiziganistischen Gewissheit Edlers, dass Sinti und Roma überwiegend von Kleinkriminalität leben würden, weiß man im Grunde gar nichts Genaues über den Lebenserwerb der Gruppe. Stattdessen beklagt sich Edler, darüber dass „im Bezirk bereits Dutzende neue Lehrer eingestellt [wurden], nur um die Zigeunerkinder zu unterrichten“.
Um die angebliche Zustimmung zu seinem Antiziganismus durch die Mehrheitsbevölkerung zu illustrieren, zitiert Edler einen Ortsansässigen, nämlich „Rüdiger A., der vom Verhalten vieler Neuköllner Roma-Einwanderer ein Lied singen kann“, mit folgenden Worten: „Wer sich so benimmt wie die, braucht sich doch nicht zu wundern, wenn er diskriminiert wird. […].“
Die Roma sind also an ihrer eigenen Diskriminierung Schuld, so die Grundaussage des Artikels, der mit einem Vers aus „Lustig ist das Zigeunerleben“ auch wieder endet.