Fremd, frei, fahrend, faul – seit Jahrhunderten halten sich Stereotype über Menschen, die als „Zigeuner“ diskriminiert und zur Nazi-Zeit ermordet wurden. Auch danach wurden sie ausgegrenzt.
„Ein Roma-Dorf zieht nach Berlin“ titelte die BZ am 2. April 2012, „Roma-Kinder überfordern Berlins Lehrer“ heißt es in der Morgenpost am 3. April – nur zwei Beispiele der jüngsten Vergangenheit aus deutschen Zeitungen. Gepaart werden solche Schlagzeilen oft auch noch mit Berichten über Müllberge, aggressives Betteln oder angebliches Erschleichen von Sozialleistungen in Deutschland. Das ohnehin verzerrte Bild einer Bevölkerungsgruppe droht sich auf diese Weise in der Gesellschaft noch zu verfestigen, einer Minderheit, die in Europa jahrhundertelang verunglimpft wurde. Auch heutzutage noch sind 44 Prozent der Bevölkerung in Deutschland überzeugt, dass Sinti und Roma zu Kriminalität neigen, das ergaben Studien des Konfliktforschers Prof. Wilhelm Heitmeyer. 4 von 10 Befragten sagten, sie hätten Probleme, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Umgebung aufhielten. Heitmeyer und andere Forscher gehen davon aus, dass die Befragten gar keine Mitglieder der Bevölkerungsgruppe kennen, gegen die sich ihre Feindseligkeit richtet.
Das ist typisch für sogenannten Antiziganismus. Diese Haltung beruht nicht auf Erfahrungen sondern auf Projektionen der Mehrheitsgesellschaft, davon ist auch der Berliner Politologe Markus End überzeugt: „Es ist möglich, antiziganistisch eingestellt zu sein, ohne dass man jemals irgendwie konkreten Kontakt gehabt hat zu Menschen, die man als ‚Zigeuner‘ wahrnimmt“. Dies speise sich aus einer jahrhundertelangen Überlieferung von Klischees, wie Heimatlosigkeit, Faulheit oder Kriminalität, die auch in den Medien das Bild von Sinti und Roma prägen, ebenso wie vieler anderer Gruppen, gegen die sich Antiziganismus richte. Continue reading Antiziganismus – die Mehrheit macht sich ein Bild
Category Archives: Sonst in Europa
Auch 2012: Antiziganismus in Tschechien
von Lara Schultz
In den ersten Stunden des Jahres 2012 erschießt ein Rentner im nordböhmischen Tanvald einen 22-jährigen Rom und verletzt dessen Bruder schwer. Zeugen gibt es keine, so steht Aussage gegen Aussage. Er habe in Notwehr gehandelt, da er mit einem Messer angegriffen worden sei, sagt der 63-Jährige, der nach seiner Vernehmung noch in der Neujahrsnacht wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Die Brüder seien außerdem auf Beutezug gewesen. Der jugendliche Überlebende fürchtet derweil um sein Leben. Er versteckt sich derzeit bei Verwandten und verlässt aus Angst die Wohnung nicht mehr. Seine Version der Ereignisse klingt vollkommen anders. Das Internetportal romea.cz zitiert ihn wie folgt:
Ich ging hinter meinem Bruder her und schaute auf meine Füße, damit ich nicht stolpere. Dort gibt es keine Straßenlaternen, es war dunkel. Plötzlich hörte ich einen Schuss, mein Bruder viel mir blutüberströmt vor die Füße. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Ich kniete mich neben ihn und schrie ihn an, er möge mit mir sprechen. In diesem Moment sah ich den Mann, wie er über mir stand, hörte einen weiteren Schuss und verspürte einen starken Schmerz im Bauch.
Er weist außerdem den Vorwurf zurück, er und sein Bruder wären zum Klauen unterwegs gewesen.
Zu einer Ortsbegehung wurde nur der Täter, nicht aber das überlebende Opfer geladen. Die Ermittler kamen dann auch zu dem Schluss, der Rentner habe ich Notwehr gehandelt. Der Täter habe sich gegen eine Messerattacke geschützt, teilte die zuständige Kreisstaatsanwältin Lenka Bradačová mit, somit handle es sich also nicht um Mord. Durch Gutachten soll nun geprüft werden, inwiefern der Einsatz der Schusswaffe in der Situation angemessen war. Eine rassistisch motivierte Tat wurde übrigens von Anfang an ausgeschlossen, obwohl der Bürgermeister Petr Polák (Bürgerdemokraten, ODS) von aktuellen ethnischen Spannungen zwischen der Mehrheitsbevölkerung und den Roma spricht. Unlängst wurden Roma aus anderen Teilen Tschechien uns der Slowakei in der 7.000-Einwohner-Stadt angesiedelt.
Die Trauerfeier für das Opfer musste von mehreren Dutzend Polizisten geschützt werden, die den Friedhof absperrten und eine Gruppe abhielten, die Beerdigung zu stören. Ein Mann aus der Gruppe sagte gegenüber der tschechischen Presseagentur ČTK:
Er war weit entfernt davon, unschuldig zu sein. Sie [die Roma] müssen wissen, dass wir uns verteidigen werden, wir werden es nicht zulassen, ausgeraubt und angegriffen zu werden. Wir haben Kinder und wir bekommen Angst, sie allein auf die Straße zu lassen.
Auch im nordböhmischen Varnsdorf gehen seit Beginn des Jahres die antiziganistischen Ausschreitungen weiter. Nachdem die antiziganistischen Demonstrationen Ende Oktober 2011 mit Wintereinbruch zum Erliegen gekommen waren, gab es an den ersten beiden Wochenenden des neuen Jahres wieder Aufmärsche mit 50 bzw. 200 Teilnehmenden. Wie bereits im Herbst wird ein angeblicher Rassismus der Roma gegenüber der Mehrheitsbevölkerung als Begründung herangezogen. Tatsächlich wurde eine dreiköpfige Familie in der Neujahrsnacht mit Verletzungen in Krankenhaus eingeliefert. Am 2. Januar erstatteten sie Anzeige, sie seien vor dem „Hotel Sport“ (einer der Sammelunterkünfte für Roma in Varnsdorf) von Roma angegriffen worden. Seit den Ausschreitungen im Herbst wird das Gebiet mit Videokameras überwacht. Von einem derartigen Angriff war auf dem Überwachungsvideo nichts zu sehen.
»600 Jahre vogelfrei«
Zur Aktualität antiziganistischer Gewalt in Europa
In den letzten Wochen und Monaten wurde in der kritischen und linken Öffentlichkeit in Deutschland zunehmend über die pogromartigen Demonstrationen und Ausschreitungen gegen Roma in der Tschechischen Republik und in Bulgarien berichtet und diskutiert.
In der tschechischen Republik kam es seit Ende August 2011 in der Region Sluknovsky vybezek (Schluckenauer Zipfel) zu regelmäßigen Versuchen, Wohnungen und Häuser von Roma anzugreifen. Die tschechische Polizei konnte erst verspätet und unter massivem Aufgebot den demonstrierenden Mob aus »normalen« Bürger_innen und Neonazis daran hindern, zu den von Roma bewohnten Häusern vorzudringen. Die Massenaufläufe begannen am 26. August, als sich in Rumburk nach einer Kundgebung der Menschenauflauf selbstständig machte und unter Rufen wie »Cikáni do prace!« (»Zigeuner, geht arbeiten!«) und »Cikáni do plynu!« (»Zigeuner ins Gas!«) in Richtung der Unterkünfte marschierte. Die antiziganistischen Demonstrationen fanden darauf jedes Wochenende in mehreren Städten der Region mit bis zu 1200 Teilnehmenden statt. War am ersten Wochenende die Beteiligung von Neonazis noch gering, so knüpften sie in den darauffolgenden Wochen an die rassistische Grundstimmung an. Ihren Höhepunkt erreichten die antiziganistischen Aufläufe am 10. September, als die rechte Partei »Delnická strana sociální spravedlnosti« DSSS (»Arbeitspartei der sozialen Gerechtigkeit«) gemeinsam mit Autonomen NationalistInnen vom »národní odpor« (»Nationaler Widerstand«) zu Kundgebungen in Rumburk, Varnsdorf und Novy Bor aufriefen.
Doch solche Demonstrationen sind in der tschechischen Republik keine Seltenheit. So hat beispielsweise die mittlerweile verbotene Vorläuferorganisation der DSSS, die DS, Ende 2008 alle zwei Wochen zu Demonstrationen gegen ein Roma-Viertel in Litvínov aufgerufen, wobei es mehrfach zu Straßenschlachten zwischen bis zu 1000 bewaffneten Neonazis und der tschechischen Polizei kam.
Allerdings sprechen die aktuellen Ereignisse im Sluknovsky vybezek für eine neue Qualität des gesellschaftlichen Antiziganismus – denn hier gingen die Demonstrationen und die Straßengewalt von der ganz »normalen« Bevölkerung aus. In den Medien wurden diese Aktivitäten mit eindeutig antiziganistischem Inhalt als »soziale Proteste« von Bewohner_innen einer ökonomisch abgeschlagenen Region verharmlost. Das Problem wurde auf Seiten der Roma verortet – was die Intensität des Antiziganismus in der tschechischen Republik verdeutlicht. Der gesellschaftliche Ausschluss von Roma ist an der Tagesordnung. Eine negative Besonderheit stellen die in den beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei immer noch verbreiteten Zwangssterilisierungen an Romnija1 dar. Bis heute kommt es regelmäßig vor, dass Romnija in Gesundheitsämtern und öffentlichen Krankenhäusern während der Entbindung eines Kindes oder bei Routine-Untersuchungen durch psychischen Druck oder ganz ohne ihr Wissen sterilisiert werden. Continue reading »600 Jahre vogelfrei«
Über Roma
Eine Ausstellung in Berlin zeigt Werke von Künstlern, die sich mit kulturellen Zuschreibungen und politischer Repräsentation von Roma in der Gegenwart und in der Vergangenheit beschäftigen.
Im Oktober dieses Jahres räumte die Polizei in Essex im Einzugsgebiet von London einen Wohnwagenplatz. Das Land gehörte zu diesem Zeitpunkt den Bewohnern, auch wenn sie noch nicht über eine offizielle Erlaubnis verfügten, sich auf dem Land niederzulassen oder es zu bebauen. Berichte über diese bürokratische Absurdität und die Bilder von der brutalen Räumung führten dazu, dass die Opfer dieser Polizeiaktion, die Irish Travellers, europaweit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückten.
Irish Travellers sind eine eigene soziokulturelle Gruppe mit nomadischem Lebensstil. Darin ähneln sie den aus Süd- und Südosteuropa stammenden Roma. Einige Roma wiederum hatten sich in einem Bidonville in der Nähe von Paris angesiedelt. Ihre Siedlungen waren bereits im September auf Weisung von Nicolas Sarkozy geräumt und sie selbst nach Rumänien abgeschoben worden.
Bidonville, das bedeutet Slum, Kanisterstadt oder Barackensiedlung. Eine Art Bidonville, ein Flüchtlingslager, auf mutmaßlich verseuchtem Boden, gibt es auch in Osterode im Kosovo, wo Roma leben, die aus der BRD abgeschoben wurden. Ein Bidonville entwickelte sich auch im Sommer dieses Jahres im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg, nachdem zugewanderte Roma aus überbelegten Wohnungen vom Vermieter gekündigt und einfach auf die Straße gesetzt worden waren.
In Osterode wie in anderen Siedlungen können abenteuerlustige Touristen jetzt eine authentische Erfahrung machen: »Hotel Gelem – Embedded Tourism« heißt das Projekt der beiden Schweizer Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud, die Touristen in Romasiedlungen unterbringen und derzeit an der Kunstausstellung teilnehmen, die am 11. November im Kunstquartier Bethanien eröffnet wurde. Continue reading Über Roma
Conditions Faced by Roma People – from Bad to Worse
Roma leaders are alarmed at the growing discrimination faced by their people in Europe, especially because of the anti-gypsy stance taken by many political parties, which blame the ethnic minority group for a wide range of social ills.
On a two-day visit to Lisbon this week, Dezideriu Gergely, executive director of the Budapest-based European Roma Rights Centre (ERRC), and the group’s legal adviser, Lydia Gall, spoke out against the terrible housing conditions faced in Portugal by the Roma, also known as gypsies or Romani.
The most overtly anti-gypsy policies are seen in Bulgaria, the Czech Republic, France, Hungary, Italy, Romania and Slovakia, Gall said. But, the activist added, in terms of the housing situation, „Portugal is not so different from those countries.“
Gergely, citing in particular the cases of Bulgaria, Romania and Hungary, said that „what we have found is that in many countries, the situation of the Romani communities is getting worse instead of better.“
In many European countries, „there are parties that have identified the gypsies as the target of their attacks, through increasingly aggressive and dangerous language – and not only the extreme right but also conservative and centrist parties,“ he added. Continue reading Conditions Faced by Roma People – from Bad to Worse
Roma Pride: Marches take place in European cities
Roma Pride marches took place yesterday in several European countries. Several hundred persons convened in the afternoon in Paris for a celebratory assembly to demonstrate the dignity of the Romani people as well as the migratory nations of Europe. A similar event in the center of the Romanian capital of Bucharest was attended by about 300 people.
Agence-France Presse reports that the historic Roma Pride demonstrations also took place in Bulgaria, Denmark, Italy, Norway, and Turkey. In Sofia, Romani boys and girls distributed flowers to passers-by in order to reduce the current tensions between ethnic Bulgarians and Romani people there.
Roma Pride events in Paris and other European metropolises demonstrated pride in the Romani nation primarily through Romani music performances. The events also condemned „the racism and discrimination suffered by individuals considered Romani“. The co-organizers of the pro-Roma demonstration in Paris, such as the SOS Racisme organization and the French Union of Romani Associations (Ufat), took advantage of the opportunity to express their demands that freedom of movement be respected for all Europeans and that caravans be legally recognized as housing units. Continue reading Roma Pride: Marches take place in European cities
Chronik der antiziganistischen Massenaufmärsche in Nordböhmen
In Nordböhmen (Tschechien) kam es Ende August und September 2011 zu mehreren antiziganistisch motivierten Aufmärschen und Kundgebungen, dan denen nicht selten mehrere hundert Angehörige der ethnisch-tschechischen Mehrheitsbevölkerung aus der Region und angereiste Rechte teilnahmen. Die meisten der Aufmärsche nahmen zeitweise den Charakter eines Progroms gegen die Roma-Minderheit an. Nur starke Polizeikräfte verhinderten erfolgreiche Angriffe auf die Wohnungen und Quartiere der Minderheit. Hier eine Chronologie der Ereignisse:
Continue reading Chronik der antiziganistischen Massenaufmärsche in Nordböhmen
Day Of Remembrance Of Romani And Sinti Extermination
A meeting of the Joint Government-National Minorities Commission’s Team for Romani Affairs was held in Cracow. On Tuesday its members visited Auschwitz-Birkenau.
Observances of the Day of Remembrance of Romani and Sinti Extermination are events accompanying Poland’s European Union Council Presidency.
‘It is very important that such a day has been established. And its date was by no means coincidental, because it was on 2nd August 1944 that the Gypsy camp at Auschwitz was liquidated,’ stressed Elżbieta Radziszewska, Government Plenipotentiary for Equal Treatment. The Romani Team will also support the Romani minorities’ efforts to establish a European Romani Extermination Remembrance Day.’ Continue reading Day Of Remembrance Of Romani And Sinti Extermination
Remembering the Roma Holocaust
In Budapest today, a group of citizens gathered at the Holocaust memorial on the banks of the Danube in a silent and solemn commemoration for the estimated half-million Roma who perished in the Baro Porrajmos („Great Devouring“) at the hands of the Nazis and their collaborators.
The death toll included almost 3,000 Roma men, women, and children who were put to death on the night of August 2-3, 1944, when the Germans liquidated the Zigeunerlager („Gypsy camp“) at Auschwitz-Birkenau. The camp leadership originally decided to murder the inhabitants of the „Gypsy compound“ in May 1944. Some 50-60 members of a special SS unit sealed off the compound and ordered the Roma out. Forewarned, the Roma armed themselves with iron bars, pipes, shovels, and any other improvised weapons to hand and refused to move.
In the face of resistance, the SS withdrew and called off the operation. Three thousand Roma capable of work were then transferred to other camps. Some two months later the SS liquidated the 2,898 who remained. Most of the victims were ill, elderly men, women, and children. A handful of children who had hidden during the operation were captured and killed in the following days. Continue reading Remembering the Roma Holocaust
Fundstück: gewalttätiger Antiziganismus in Serbien
Am 7. April 2009 kam es in Novi Beograd zu einem schweren Überfall durch 30 bewaffnte Neonazis auf die „Karton-City“, eine überwiegend von Roma bewohnte Slum-Siedlung. Die Polizei griff nicht ein. Lokale Machthaber und Großunternehmer hatten das Gelände für den Bau eines Komplexes der Universiade (internationale Weltsportspiele der Studenten) vorgesehen. Drei Tage zuvor hätte mit dem Abriss begonnen werden solle, die Bewohner lebten jedoch noch hier, sie hatten noch keine Alternativ-Wohnungen. Natürlich wurde dieser Vorwurf nie geklärt; aber Polizisten, welche dort anwesend waren und angeblich die Siedlung geschützt haben, sagen aus, dass sie sich nicht einmischen durften. In jenen Tagen war es immer wieder zu pogromartigen Szenen und Überfällen gekommen, in der Bevölkerung herrschte eine sehr Roma-feindliche Stimmung.
Aus: Faschistisches Potenzial in Serbien. Ein Bericht aus Nis, in: Antifa-Infoblatt Nr. 91 – 2.2011, Seite 50