“Häusliche Gewalt”
Ich habe mir überlegt in dieser Rede etwas Persönliches zu erzählen, um zu veranschaulichen, dass jede Person von häuslicher Gewalt betroffen sein kann. Wenn wir über häusliche Gewalt reden oder generell Unterdrückung von FINT Personen in Beziehungen, haben viele Menschen ein sehr bestimmtes Bild im Kopf: Eine scheiternde Ehe mit plus/minus drei Kindern, ein migrantischer Hintergrund, der Vater trägt meistens eine Vodka-Flasche, die Frau ein Kopftuch. Dieses rassistische Bild gilt es aufzubrechen, Gewalt an Frauen hat keine Herkunft, keine Religion, keinen finanziellen oder Bildungs-Status. Es ist ein grundlegendes Problem fern von Klasse oder Region. Ein Klima, dass Männern erlaubt übergriffig gegenüber FINT-Personen zu sein, herrscht überall und ist allgegenwärtig. 2019 wurden in Deutschland 115.000 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt, darunter auch zahlreiche sexualisierte Übergriffe, 301 Frauen wurden von ihrem Partner oder Expartner allein 2019 ermordet. Gewalt gegen Frauen ist in Deutschland bitterer Alltag und jetzt zu denken „ja, aber nicht in meinem Umfeld“ bedeutet die Augen vor dem Problem zu verschließen, bedeutet wegzuschauen und den Sexismus weiter zu leugnen. Wenn wir hier und heute über Gewalt an FINT-Personen reden, dann kann das ganz unterschiedliche Sachen bedeuten. Es kann bedeuten, dass ich mich seit meinem 14 Lebensjahr daran gewöhnen musste, von fremden Männern angegrapscht zu werden, es bedeutet, dass ich Jahre lang von Familienangehörigen geschlagen wurde, es bedeutet, dass ich schon sexualisierte Handlungen ohne mein Einverständnis erfahren habe, und es bedeutet, dass ich als ich 18 war, von meinem damaligen Partner in einer Jugendkneipe am Hals gepackt wurde, er zudrückte, mich auf den Boden drückte und ignorierte, dass ich ihn bat loszulassen weil ich Schmerzen und Angst hatte, es bedeutet, dass ich in dieser Position war, bis sein bester Freund dazwischen ging. Aber es war nicht ganz plötzlich, dass die Gewalt, die es angeblich nur in RTL-Sendungen gibt in meiner Realität angekommen war, Jahre lang war ich darauf vorbereitet worden, dass genau so das Leben als Frau aussehen würde. Sich nicht wehren zu können, hoffen zu können, dass wenn wieder ein Mann in meinem Leben durchdreht, irgendein Zufall ihn davon abbringt mir weiter wehzutun. Es kostete mich Wochen, den Mut aufzubringen ihn auf diese Situation anzusprechen, er ist der einzige Mensch in meinem Leben, bei dem ich jemals bereit war, ihn zu konfrontieren, nur um zu hören, dass er sich nicht daran erinnert. Ich fing an es auch auszublenden, das Leben ging weiter, niemand erfuhr von dem was geschehen war. Erst Jahre später wurde mir klar, ich muss das Schweigen brechen, es ist kein Partnerschaftsstreit, es ist kein Familiendrama – das Ganze hat System und ich darf nach einem solchen Vorfall nicht Normalität einkehren lassen, denn das darf keine Normalität sein. Doch für viele Frauen ist es das, für viele FINT-Personen gibt es noch keine Sicherheit, für sie ist es Alltag sexualisierte oder körperliche Übergriffe zu erfahren. Wegen der Kinder, wegen des wegschauenden Umfelds, wegen den wenigen Schutzräumen, wegen finanzieller Not, wegen psychischer Abhängigkeit, wegen Perspektivlosigkeit, wegen wenig Aufklärung, wegen MÄNNERN – befinden sich jetzt gerade Frauen in Not, statistisch auch einige in Lebensgefahr. Um das zu ändern, hilft kein Verteilen von Pfefferspray, keine Selbstverteidigungskurse und auch nicht weniger Ausschnitt tragen. Übergriffige Männer sitzen nicht nachts hinter einem Busch, sie sind überall nah bei dir, die Zeichen müssen sofort erkannt werden, vor einem Schlag kommt verbale Gewalt, vor einem Übergriff kommt ein sexistisches Frauenbild, ein anzüglicher Witz, ein erniedrigender Kommentar. Um die Statistik zu sogenannter häuslicher Gewalt gegen FINT-Personen wirklich zu verändern, müssen Generationen von Männern umerzogen werden, sich reflektieren, sich konfrontieren, eingreifen und anerkennen: Das Problem seid ihr. Justin, das Problem bist du.