Category Archives: Geschichte des Antiziganismus

London: Porajmos-Gedenken und Proteste gegen Antiromanismus

Am 2. August 2013 ereigneten sich Proteste von organisierten Roma gegen die antiromanistischen Zustände in Europa im Zentrum Londons. Weiterhin fand im Hyde Park eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Porajmos (der Völkermord an den Sinti und Roma durch die Nazis) statt. Ab 15 Uhr fand eine Protestkundgebung vor den Botschaften der Tschechischen Republik und der der Slowakei statt, bei denen die Autor_innen dieses Artikels allerdings nicht anwesend waren.

Um 17 Uhr versammelten sich dann ungefähr vierzig Personen vor dem Hyde Park Holocaust Memorial, um der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Porajmos beizuwohnen. Die Veranstaltung war von der Roma-Organisation 8th April Movement organisiert worden. Deren Aktivist Grattan Puxon war auch einer der Redner auf der Kundgebung. Er erinnerte an die Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma in der Nazi-Zeit und betonte, dass der Antiromanismus auch heute noch ein großes Problem sei.

Eine weitere Rede eines Historikers erinnerte an die Ermordung der Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944. Er verwies vor allem auch darauf, dass die Sinti und Roma damals Widerstand gegen ihre Ermordung geleistet hatten und nicht ¨wie die Schafe zum Schlachthof¨ gelaufen seien. Er erwähnte auch, wie bereits zurvor Grattan Puxon, dass Antiromanismus heutzutage dazu verhelfe, Wahlen zu gewinnen, also mehrheitsfähig sei und dass diesem Problem nur durch Erinnerung an die Geschichte beizukommen sei. Hierzu sei es nicht nur notwendig, dass Sinti und Roma die Stimme erheben, sondern auch, dass ihnen zugehört werde.

Weitere Redner kamen von anderen Roma-Organisationen, unter anderen aus Tschechien, sowie von einer antirassistischen Organisation aus Hiroshima, die auch an die Bombardierung Hiroshimas gedachte. Außerdem wurde auf die gewaltsame Räumung der Travellers in Dale Farm verwiesen (mehr Informationen: www.travellersolidarity.org).

Ein Redner von der Jewish Socialist Group sprach den von Antiromanismus betroffenen seine Solidarität aus und kritisierte, dass auf dem Gedenkstein für die Opfer des Holocaust in Hyde Park nur die jüdischen Opfer erwähnt werden. Dies müsse sich ändern.

Um 18 Uhr 30 versammelten sich schließlich nocheinmal bis zu 45 Personen vor der französischen Botschaft, die südlich des Hyde Park gelegen ist. Dort wurde einerseits gegen die Räumung eines Roma Camps im Zentrum Londons durch die Polizei in der letzten Woche protestiert, zum anderen gegen die große Anzahl an vergleichbaren Räumungen und Abschiebungen von Roma in Frankreich protestiert. Die Demonstrierenden stellten sich mit Transparenten in den Eingang der Botschaft, wurden allerdings nach einiger Zeit von der Polizei aufgefordert, den Eingangsbereich zu verlassen.

Die Anwesenden formierten sich nun zu einem Demonstrationszug, der mit Unterstützung durch eine Samba Band zur Marble Arch, dem Ort des geräumten Roma Camps, zog und sich dort auflöste.

Informationen zur Räumung des Camps an der Marble Arch und Aufruf zu den heutigen Protesten:

London: Roma Solidarity

london_tourists (Die Autor_innen dieses Artikels sind weiße Aktivist_innen aus antifaschistischen Zusammenhängen aus Deutschland, die zufällig an den Protesten teilnahmen und andere Menschen auf diesem Wege über das Geschehene informieren möchten)

Quelle: Indymedia
Stand: 03.08.2013

Leipzig: Aktion anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an den Genozid an Sinti und Roma

Beginn der Veranstaltung:
2.8.2013, 16:00 h

Ort:
Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma am Schwanenteich, Leipzig

Derzeit endet in Ungarn ein Prozess gegen Nazis, die seit 2008 insgesamt sechs Roma umgebracht und 55 Menschen, ebenfalls fast alle Roma, zum Teil schwer verletzt haben. Der überwiegende Teil der ungarischen Gesellschaft nimmt an dieser Dimension des Antiziganismus keinen Anteil.

Und auch in Deutschland ist das Bewusstsein für die leidvolle Geschichte der größten Minderheit Europas und die eigene Verantwortung dafür kaum ausgeprägt.

Darum ruft „Leipzig Korrektiv“ für den 2.8.2013, 16 Uhr zum kurzen Gedenken an das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma am Schwanenteich auf.

Der 2. August ist der Internationale Tag des Gedenkens an den Genozid an Sinti und Roma. Am 2. August 1944 wurden fast 3000 Sinti und Roma in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet. Ingesamt waren es 500.000, die im NS ihr Leben verloren.

Vor allem in Deutschland erwächst aus dem nationalsozialistischen Genozid an Sinti und Roma eine große Verantwortung, die sich nicht nur in einer würdigen Erinnerungskultur niederschlagen muss, sondern auch in einer aktiven Unterstützung der Verbesserung der Lebenssituation von Roma in ganz Europa.

Quelle: Die Linke
Stand: 30.07.2013

Schweinefarm auf früherem KZ-Gelände erzürnt UNO

Streit um eine Schweinefarm auf dem Gelände des früheren KZs Lety: Die UNO verlangt von Tschechien die Schließung des Bauernhofes aus Respekt vor der Minderheit der Roma. Zwischen 1940 und 1943 waren in dem Lager hunderte Roma getötet worden.

Eine umstrittene Schweinefarm auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers Lety im heutigen Tschechien bringt die Regierung des Landes unter Zugzwang. Das UN-Menschenrechtskomitee forderte, die Zuchtanlage aus Respekt vor der sozial ausgegrenzten Roma-Minderheit zu schließen, deren Angehörige während des Zweiten Weltkriegs zu Hunderten in dem Lager ermordet worden waren. Mit einem solchen Akt könne die Regierung in Prag demonstrieren, dass es ihr ernst sei mit der Achtung der Kultur und Geschichte der Roma.

Zwischen 1940 und 1943 hatten die Nazi-Besatzer gemeinsam mit tschechischen Kollaborateuren fast 1300 Roma in Lety eingesperrt, das etwa 70 Kilometer südlich von Prag liegt. Mindestens 327 von ihnen starben in dem Lager, darunter mehr als 240 Kinder. Über 500 weitere KZ-Insassen wurden in das berüchtigte NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im besetzten Polen abtransportiert. Während die Zahl der sechs Millionen, im Holocaust getöteten Juden weithin bekannt ist, wird das Leid der schätzungsweise 500.000, von den Nazis umgebrachten Roma in manchen Geschichtsbüchern nur am Rande gestreift.

Unter der kommunistischen Herrschaft ließ die Staatsführung der damaligen Tschechoslowakei von 1972 bis 1976 die Schweinefarm in Lety errichten. Nach der „Samtenen Revolution“ 1989 wurde die Zuchtanlage von einer privaten Firma übernommen. Diese beharrt darauf, dass die Farm auf einem Feld neben dem ursprünglichen KZ gebaut worden sei, dass nach Kriegsende dem Erdboden gleichgemacht worden war. Laut Historikern überlappen sich die Grundstücke jedoch. Die Schweinefarm ist seit Jahrzehnten ein Streitpunkt zwischen den Landesbehörden und tschechischen Roma, die den Abriss fordern.

Tschechien hat 10,5 Millionen Einwohner, von denen Schätzungen zufolge 250.000 bis 300.000 der Volksgruppe der Roma angehören.

Quelle: Thüringer Allgemeine
Stand: 25.07.2013

Aus Respekt vor den Roma: Schweinefarm auf KZ-Gelände – UN fordert Abriss

Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Lety befindet sich heute eine Schweinefarm. Die UN ist entsetzt und fordert nun von der tschechischen Regierung den Abriss – aus Respekt vor den Roma. Der Betreiber sieht das anders.

Eine umstrittene Schweinefarm auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers Lety im heutigen Tschechien bringt die Regierung des Landes in Zugzwang. Das UN-Menschenrechtskomitee forderte am Donnerstag, die Zuchtanlage aus Respekt vor der sozial ausgegrenzten Roma-Minderheit zu schließen, deren Angehörige während des Zweiten Weltkriegs zu Hunderten in dem Lager ermordet worden waren. Mit einem solchen Akt könne die Regierung in Prag demonstrieren, dass es ihr ernst sei mit der Achtung der Kultur und Geschichte der Roma.

Mindestens 327 Roma starben in Lety

Zwischen 1940 und 1943 hatten die Nazi-Besatzer gemeinsam mit tschechischen Kollaborateuren fast 1300 Roma in Lety eingesperrt, das etwa 70 Kilometer südlich von Prag liegt. Mindestens 327 von ihnen starben in dem Lager, darunter mehr als 240 Kinder. Über 500 weitere KZ-Insassen wurden in das berüchtigte NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im besetzten Polen abtransportiert. Während die Zahl der sechs Millionen, im Holocaust getöteten Juden weithin bekannt ist, wird das Leid der schätzungsweise 500 000, von den Nazis umgebrachten Roma in manchen Geschichtsbüchern nur am Rande gestreift.

Betreiber der Schweinefarm bleibt stur

Unter der kommunistischen Herrschaft ließ die Staatsführung der damaligen Tschechoslowakei von 1972 bis 1976 die Schweinefarm in Lety errichten. Nach der „Samtenen Revolution“ 1989 wurde die Zuchtanlage von einer privaten Firma übernommen. Diese beharrt darauf, dass die Farm auf einem Feld neben dem ursprünglichen KZ gebaut worden sei, das nach Kriegsende dem Erdboden gleichgemacht worden war. Laut Historikern überlappen sich die Grundstücke jedoch. Die Schweinefarm ist seit Jahrzehnten ein Streitpunkt zwischen den Landesbehörden und tschechischen Roma, die den Abriss fordern.

Quelle: Focus
Stand: 25.07.2013

Klage von KZ-Überlebender abgewiesen: Münchner Gericht gegen Opferrente

Die Auschwitz-Überlebende Eva S. möchte nach dem Urteil des Landsgerichts in Berufung gehen. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma spricht von einem „Skandal“.

Das Landgericht München hat die Klage einer Auschwitz-Überlebenden abgewiesen, die als Witwe eines KZ-Häftlings einen Anspruch auf Opferrente geltend machen wollte. „Diesen Fall kann man nur als Skandal bezeichnen“, sagte Arnold Rossberg, Justiziar des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und Vertreter der Klägerin. Die 82-jährige Eva S. ist wie ihr verstorbener Mann Angehörige der Minderheit der Sinti. Sie wird in Berufung gehen.

Eva S. lebt von 730 Euro Rente im Monat. Vor dem Landgericht München ging es um eine Rente von 970 Euro. Ihr Mann Frank wurde 1943 mit seinen Eltern und fünf Geschwistern zunächst ins Konzentrationslager Auschwitz verschleppt. SS-Angehörige erschlugen vor seinen Augen den Vater, Frank S. wurde zwangssterilisiert. „Diese maximalen psychischen Traumata finden in den Gutachten, die dem Gericht vorgelegt wurden, keine Berücksichtigung“, sagte Rossberg. Die vielen physischen Leiden ebenfalls nicht. Unter den Gutachtern war keiner, den die Klägerseite vorgeschlagen hatte.

Seit der Befreiung aus dem Konzentrationslager litt Frank S. unter anderem an Nierenerkrankungen, Depressionen und massiven Herzproblemen. „Die Gutachter sehen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen entweder als nicht verfolgungsbedingt oder als nicht gravierend genug an“, berichtete der Justiziar. In den 50er Jahren hatten Gutachter Frank S. ein verfolgungsbedingtes Herzleiden attestiert.

Er ist an einer Herzerkrankung gestorben. Doch die jetzigen Gutachter bestreiten, dass die Todesursache auf die Verfolgung zurückgeht. Sie sprechen unter anderem von einer „familiären Disposition“. Das ist angesichts der Ermordung vieler Familienmitglieder zynisch, findet der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose.

Vor Gericht zeigten sich die Vertreter der bayerischen Finanzverwaltung am Donnerstag hartleibig. Sie ließen sich auf keinen Vergleich ein, obwohl das Gericht selbst Vergleichsvorschläge unterbreitet hat, berichtete Rossberg. In anderen Bundesländern gab es in solchen Fällen Lösungen. In Nordrhein-Westfalen hatten die Behörden der Witwe eines Auschwitz-Überlebenden Sinto ebenfalls zunächst die Rente verweigert. Die zuständige Bezirksregierung stimmte einem Vergleich zu, dem zufolge die Witwe zwar keine Rente, aber eine Beihilfe in Höhe von 600 Euro monatlich erhält. Das wäre auch eine Lösung für Eva S. – wenn die bayerischen Behörden sie denn wollten.

Hinterbliebene von SS-Angehörigen rechtlich besser gestellt

Für Eva S. gilt das Bundesentschädigungsgesetz. Für Witwen von Wehrmachts- oder SS-Angehörigen dagegen ist das Bundesversorgungsgesetz maßgeblich. Danach können einmal anerkannte gesundheitliche Schädigungen Verstorbener nicht in Frage gestellt werden – anders als beim Bundesentschädigungsgesetz.

„Es ist ein Unding, dass die Hinterbliebenen der Opfer schlechter gestellt werden als die Hinterbliebenen der Täter“, sagte der Zentralratsvorsitzende Rose. Er appelliert an den bayrischen Finanzminister Markus Söder, für Eva S. schnell und unbürokratisch eine Lösung zu finden. Das Ministerium will erst Stellung nehmen, wenn die Urteilsbegründung vorliegt.

Quelle: TAZ
Stand: 18.07.2013

Model of wartime camp for Czech Roma unveiled

A model of the Nazi internment camp for Czech Roma as it looked like in 1942 was unveiled at its original site in Lety Monday. The model was made of an environment-friendly material by students of a secondary business school in Teplice, north Bohemia. It was difficult to find a period photograph of the Lety camp on the basis of which its true model could be created since none of the survivors from the camp is alive now, Cervencl said, adding that the last one died in 2012. The creation of the model was very important for the young people since they could thereby learn a lot about the WWII history and they will keep this knowledge in the future, Cervencl said. He noted that the students from the Teplice secondary school could also make similar models of Lidice and Lezaky, Czech villages obliterated by the Nazis in 1942.

Over 1300 Roma were interned in Lety during the German Nazi occupation, 327 of whom perished in the camp and over 500 were sent to the extermination camp in Oswiecim (Auschwitz) where most of them died. A memorial to the Romani Holocaust was set up at the former burial ground of the Lety concentration camp for Roma. However, it is near a pig farm situated at the site now.

Roma and human rights activists have protested against it for years demanding that the pig farm be abolished. Prime Minister Petr Necas (Civic Democrats (ODS), who resigned in min-June, said last year the government had no money for the purchase of the farm. A total of 12,000 people visited the Lety memorial in 2012.

Source: Prague Daily Monitor
Date: 09.07.2013

Mahnmal für deportierte Juden, Sinti und Roma erneut zerstört

Erste Zerstörung zog 41.000 Euro teure, zum Großteil aus Spenden finanzierte Sanierung nach sich

Mitte März war das Denkzeichen Güterbahnhof für die deportierten Juden, Sinti und Roma nach einer 41 000 Euro teuren, zum Großteil aus Spenden finanzierten Sanierung wieder aufgestellt worden. Nun wurde es erneut zerstört. Die Stadt hat Anzeige erstattet.

„Diese wiederholte Beschädigung des Denkzeichens Güterbahnhof stimmt mich sehr traurig und gibt auch Anlass zur Sorge“, sagte Oberbürgermeister Jochen Partsch, der sich nach Bekanntwerden des Schadens am Güterbahnhof einfand.

Vor dem Hintergrund des NSU-Prozesses in München, der beleuchtet, wie aktiv der militante Rechtsterrorismushierzulande aktuell ist, sei es geboten, schnellstmöglich aufzuklären, „ob es sich um eine gezielte rechtsextremistische Zerstörung handelt oder aber um eine kriminelle Sachbeschädigung ohne politischen Hintergrund“. Continue reading Mahnmal für deportierte Juden, Sinti und Roma erneut zerstört

Sinti-und-Roma-Gedenkstätte: Ort der Erinnerung entsorgt

In Wiesbaden lässt eine Schule eine Gedenkstätte für Sinti und Roma still und heimlich abbauen. Nach Protesten wird behauptet, sie habe nie existiert.

Sinto Alexander Meyer ist fassungslos: „Ich dachte, Gedenkstätten seien für die Ewigkeit.“ Doch nicht an der Krautgartenschule im Wiesbadener Stadtteil Kostheim. Dort ist eine Gedenkstätte entfernt worden, die an Meyers Mutter Maria Theresia Lehmann erinnerte.

Lehmann lebte früher in Kostheim und wurde von den Nationalsozialisten deportiert. Bis Februar war die Gedenkstätte, die seit sieben Jahren existierte, einer von etwa hundert Orten, die das Dokumentationszentrum der Sinti und Roma in Heidelberg auf seiner Website vorstellt. Doch seit Kurzem ist der Eintrag gelöscht. Darum gebeten hat das Landesschulamt in Wiesbaden mit einem Schreiben vom 7. Februar 2013. Die Gedenkstätte gebe es nicht mehr.

Es war eine kleine Glasvitrine mit Fotos von Maria und ihrer Familie, die in der Eingangshalle der Schule hing. Sie erzählte von Maria Theresias Schicksal. Sie wurde am 16. Mai 1940 mit elf Jahren von den Nazis aus Kostheim verschleppt. Morgens um halb drei stand die Polizei vor der Tür und holte sie, ihre Eltern, die vier Brüder und die Schwester ab.

Wie alle Sinti-Familien aus der Region, fast einhundert Personen, wurde die Familie zunächst im Polizeigefängnis eingesperrt. Dort fotografierte man sie und stempelte ihnen eine Nummer auf den Arm. Am selben Vormittag noch brachte man die Familie nach Stuttgart in das Zuchthaus Hohenasperg zu „rassenbiologischen Untersuchungen“. Eine Woche später erfolgte der Abtransport in Lager nach Polen. Die Mai-Deportationen markierten den Beginn der systematischen Vernichtung der deutschen Sinti und Roma. Maria gehörte zu den wenigen, die überlebte.

Nur nicht die Kinder belasten

Die Gedenkstätte wurde nach langer Diskussion an der Schule eingerichtet. Damals gab es sogar den Vorschlag, die neu gebaute Schule nach Maria zu benennen. Doch Eltern und Lehrerkollegium entschieden mehrheitlich, man dürfe Kinder nicht mit dem grauenvollen Schicksal des Mädchens belasten.

Die damalige Schulleiterin aber wollte zumindest das Schicksal von Maria nachzeichnen. Zwei Monate arbeiteten Schüler an einer Ausstellung. Sie dokumentierten den Weg der Sinti in die Vernichtungslager, suchten Fotos vom Leben der Familie Lehmann. „Im Unterricht wurde viel über die Gründe von Ausgrenzung und über persönliche Handlungsmöglichkeiten geredet“, erzählte die Schulleiterin damals der Presse.

2006 wurde die Ausstellung feierlich mit besonderen Ehrengästen eingeweiht: Marias Kinder Anita Lehmann und Alexander Meyer und Neffe Johannes waren gekommen. Die Familie freute sich über die Ehrerbietung: „Wir wollen vergeben“, sagte Anita Lehmann damals. Es war eine bewegende Veranstaltung, erinnert sich auch Adam Strauß, Vorsitzender des hessischen Landesverbands der Sinti und Roma. Die Gedenkstätte in der Krautgartenschule sollte ein Ort des Erinnerns sein.

Fußballpokale statt Fotos

Das war vor sieben Jahren. Mittlerweile ist die alte Schulleiterin verstorben, viele neue Lehrer sind da. Und die Fotos und Dokumente sind verschwunden, im Schaukasten stehen Fußballpokale. Warum die Gedenkstätte abgebaut wurde, darüber will niemand sprechen. Auch nicht die neue Schulleiterin. Die Fotos sollen der Familie zurückgegeben worden sein, steht im Brief des Landesschulamts an das Dokumentationszentrum in Heidelberg.

Die Kinder widersprechen. Sie hätten die Familienbilder nicht zurückerhalten. Und seien auch nicht informiert worden, dass es die Gedenkstätte nicht mehr gibt. „Wie kann man das einfach abräumen?“, fragt Alexander Meyer. Seine Schwester Anita spricht von „Respektlosigkeit“, gar von Lüge. Und fragt sich, was aus den Fotos wurde.

Es waren nicht nur Kinderbilder von der Mutter, sondern auch alte Fotografien von der Großmutter dabei. Und ein Foto, das den Großvater Friedrich zeigte: Er war Musiker und gehörte zum Ensemble eines bekannten Varietés in Frankfurt. Anita hätte die Fotos gern von der Schule zurück. Dort kann man sich an nichts erinnern: „Eine Gedenkstätte hat an der Krautgartenschule nie existiert“, heißt es per E-Mail.

Quelle: taz.de
Stand: 15.05.2013

Der Weg endete im Todeslager

Gerhard Gaiser hat sich vor zehn Jahren, anlässlich des sechzigsten Jahrestags der Deportation der Sinti und Roma aus Baden und Württemberg, im Gespräch an den Morgen des 16. März 1943 erinnert: „Wir hatten gerade Pause in der Gartenstraßenschule, als wir gesehen haben, wie die armen Leute von Polizisten durch die Böblinger Straße abgeführt wurden.“

„Die armen Leute“, das war die Sindelfinger Sinti-Großfamilie Reinhardt. Sie wurde vor 60 Jahren aus Sindelfingen deportiert. Für die meisten Familienmitglieder endete der Weg in Auschwitz-Birkenau oder in anderen Todeslagern. Von den 26 Familienangehörigen, die sich damals in Sindelfingen aufhielten, haben nur sechs die NS-Zeit mit Sicherheit überlebt.

Im Herbst 1930 hatten sich die ersten Familienmitglieder in Sindelfingen niedergelassen. Weit außerhalb der Stadt, im Gewann Stelle/Roter Berg hatten sie ein Grundstück gekauft und dort mehrere Wohn- und Eisenbahnwagen, später auch ein kleines Häuschen, aufgestellt. Das Areal liegt heute entlang der Eschenriedstraße auf Höhe der Einmündung des Lochensteinweges und ist überbaut.

Die meisten erwachsenen Familienmitglieder lebten vom Hausierhandel, so dass sie von Frühjahr bis Herbst zumeist unterwegs waren und hauptsächlich über die Winterzeit in Sindelfingen waren. Verschiedene Sindelfinger können sich daran erinnern, dass daher auch der Schulbesuch der Reinhardt-Kinder im Sommer nur unregelmäßig erfolgte. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre hatten aber einige männliche Familienangehörige feste Arbeitsverhältnisse bei örtlichen Baufirmen oder bei der Firma Daimler-Benz.

Wie überall waren die Sinti auch in Sindelfingen von Anfang an nicht gerne gesehen. Immer wieder bemühte sich Bürgermeister Hörmann, ab 1932 sein Nachfolger Pfitzer, um eine Handhabe zur Ausweisung der Familie aus Sindelfingen. Da ihnen aber keine schwerwiegenderen Straftaten, sondern lediglich einige Bagatelldelikte wie Ruhestörung oder Bettelei angelastet werden konnten, blieben die Versuche erfolglos.

1936 begann der Tübinger Nervenarzt Robert Ritter als Leiter der „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ mit der systematischen Untersuchung von Sinti und Roma. Mit der pseudo-wissenschaftlichen Feststellung der vermeintlichen „rassischen Minderwertigkeit“ wurde der Boden für den späteren Massenmord bereitet. Dokumente aus dem Stadtarchiv und dem Bundesarchiv Koblenz belegen, dass Mitarbeiter von Robert Ritter oder auch er selbst mindestens zwei Mal, im Frühjahr 1937 und im Sommer 1938, an Sindelfinger Sinti ihre Untersuchungen durchführten.

Um die Jahreswende 1937/38 kam es im Rahmen von sogenannten „Maßnahmen gegen arbeitsscheue Elemente“ zu ersten groß angelegten Verhaftungsaktionen. Offensichtlich wurden in diesem Zusammenhang auch Franz Anton und Johann Reinhardt aus Sindelfingen verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verbracht.

Im Juli 1939 wendet sich Katharina Reinhardt, Ehefrau und Mutter der beiden Inhaftierten, in einem eindringlichen Brief an Bürgermeister Pfitzer mit der Bitte, sich doch für die Freilassung ihrer Angehörigen einzusetzen. Wie verzweifelt ihre Lage gewesen sein muss, ist daran zu erkennen, dass sie als Gegenleistung das Grundstück der Familie und den Wegzug anbietet. Eine Antwort ist nicht überliefert.

Durch den Himmler-Erlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 8. Dezember 1938 wurden die örtlichen Polizeibehörden angehalten, regelmäßig Listen über alle ortsansässigen „Zigeuner“ zu fertigen – die bürokratische Grundlage für die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage“, wie es in Himmlers Erlass heißt.

Die endgültige Entscheidung zur systematischen Inhaftierung und Ermordung von Sinti und Roma fiel um die Jahreswende 1942/43. Ab Februar 1943 begannen die planmäßigen Deportationen. Am 16. März schließlich wurde die Sindelfinger Sinti-Familie Reinhardt abgeholt. Dabei wurde die Sindelfinger Polizei durch auswärtige Polizisten verstärkt.

Einer der beteiligten Polizisten gab in einer Vernehmung nach dem Krieg zu Protokoll: „Es ist mir wohl noch in Erinnerung, dass im Jahre 1943 die hier wohnhaften Zigeuner nebst Angehörigen an einem bestimmten Tage plötzlich festgenommen werden mussten und abgeschoben wurden. Allgemein war man dortmals der Ansicht, die Zigeuner würden in Polen zum Arbeitseinsatz, insbesondere Straßenbau, verwendet.“ Tatsächlich führte der Weg der Familie Reinhardt und tausender anderer Sinti und Roma in die Todeslager.

Die meisten Schicksale der Sindelfinger Angehörigen der Familie Reinhardt sind geklärt. Mindestens 17 von ihnen sind in Auschwitz-Birkenau, Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Mauthausen, Mittelbau und Ravensbrück umgekommen. Ihre Namen sind auf einer Gedenktafel neben dem Rathauseingang vermerkt.

Info

Heute, am 15. März, wird landesweit der Deportation der Sinti und Roma vor 70 Jahren gedacht. An diesem Tag verließ ein Deportationszug den Stuttgarter Nordbahnhof nach Auschwitz-Birkenau – nur die wenigsten haben überlebt. 456 Sinti und Roma wurden allein im März 1943 aus dem heutigen Baden-Württemberg in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, in ganz Deutschland waren es 12 000. Heute ab 19 Uhr wird in Magstadt am Oberen Marktplatz und in der Johannes-Täufer-Kirche der Deportierten vom März 1943 gedacht: Von den 26 Sinti aus Magstadt sind 17 Opfer des Völkermords geworden.

Quelle: SZBZ
Stand: 15.03.2013