Die zwei Gesichter der Macht: Anarchie und Politik

Giorgio Agamben 

Es war ein deutscher Verfassungsrechtler des späten 19. Jahrhunderts, Max von Seydel, der die heute unausweichlich klingende Frage stellte: “Was bleibt vom Staat übrig, wenn man die Regierung eliminiert”? In der Tat ist es an der Zeit, sich zu fragen, ob der Zerfall der politischen Maschinerie des Westens eine Schwelle erreicht hat, über die hinaus sie nicht mehr funktionieren kann. Im 20. Jahrhundert hatten Faschismus und Nationalsozialismus diese Frage bereits auf ihre Weise beantwortet, indem sie das etablierten, was man zu Recht als “Doppelstaat” bezeichnet hat, in dem der legitime, auf Recht und Verfassung basierende Staat von einem nur teilweise formalisierten Verwaltungsstaat flankiert wird und die Einheit des politischen Apparats daher nur scheinbar ist. Der Verwaltungsstaat, in den die parlamentarischen Demokratien Europas mehr oder weniger bewusst hineingeschlittert sind, ist in diesem Sinne technisch nichts anderes als ein Abkömmling des nazifaschistischen Modells, in dem diskretionäre Organe außerhalb der verfassungsmäßigen Befugnisse neben die des parlamentarischen Staates gestellt werden, die nach und nach ihrer Funktionen verlustig gehen. Und es ist schon eigenartig, dass sich die Trennung von Herrschaft und Regierung heute sogar an der Spitze der römischen Kirche manifestiert hat, wo ein Pontifex, der sich unfähig sieht zu regieren, spontan die cura et administratio generalis abgesetzt hat, während er seine dignitas beibehielt.

Der extremste Beweis für das Auseinanderbrechen des politischen Apparats ist jedoch die Entstehung des Ausnahmezustands als normales Paradigma des Regierens, das seit Jahrzehnten besteht und in den Jahren der sogenannten Pandemie seine endgültige Form erreicht hat. Was den Ausnahmezustand in der hier interessierenden Perspektive definiert, ist der Bruch zwischen Verfassung und Regierung, Legitimität und Legalität – und gleichzeitig die Schaffung einer Zone, in der sie nicht mehr zu unterscheiden sind. Die Souveränität manifestiert sich hier in der Tat in Form einer Aussetzung des Rechts und der damit verbundenen Schaffung einer Zone der Anomie, in der die Regierung dennoch behauptet, rechtmäßig zu handeln. Während der Ausnahmezustand die Rechtsordnung außer Kraft setzt, behauptet er faktisch, noch in Beziehung zu ihr zu stehen, sozusagen rechtlich außerhalb des Gesetzes zu stehen. Technisch gesehen erfindet der Ausnahmezustand faktisch einen “Rechtszustand”, in dem einerseits das Recht theoretisch vorherrscht, aber keine Macht hat, und andererseits Maßnahmen und Regelungen, die keine Gesetzeskraft haben, Rechtskraft erlangen. Man könnte sagen, dass es sich bei dem Ausnahmezustand um eine fluktuierende Rechtskraft ohne Gesetz handelt, um eine unrechtmäßige Legitimität, die mit einer illegitimen Gesetzlichkeit einhergeht, bei der die Unterscheidung zwischen Gesetz und Beschluss ihre Bedeutung verliert.

Es ist wichtig, die zwangsläufige Beziehung zwischen dem Ausnahmezustand und dem politischen Apparat zu verstehen. Wenn der Souverän derjenige ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet, war der Ausnahmezustand immer das geheime Zentrum der bipolaren Maschine. Zwischen Staat und Regierung, zwischen Legitimität und Legalität, zwischen Verfassung und Verwaltung wird es dann keine substanzielle Trennung mehr geben. Das Scharnier, das sie verbindet, kann, sofern es den Schnittpunkt der beiden markiert, weder dem einen noch dem anderen Pol angehören und kann weder legitim noch legal sein. Als solches kann es nur Gegenstand einer souveränen Entscheidung sein, die die beiden Pole punktuell durch ihre Aussetzung in Beziehung setzt. 

Aber gerade deshalb ist der Ausnahmezustand notwendigerweise vorübergehend. Eine ein für allemal getroffene Entscheidung des Souverän ist nicht als solche zu verstehen, so wie eine permanente Kopplung zwischen den beiden Polen der Maschine ihre Funktionsfähigkeit gefährden würde. Ein dauerhafter Ausnahmezustand wird zu einem unentscheidbaren Zustand und hebt damit den Souverän auf, der sich nur durch eine Entscheidung definieren kann. Es ist daher sicher kein Zufall, dass sowohl der Nationalsozialismus als auch der heutige Verwaltungsstaat den Ausnahmezustand konsequent als dauerhaftes und nicht nur vorübergehendes Paradigma ihrer Regierung angenommen haben. Wie auch immer man diese Situation definiert, in jedem Fall hat die politische Maschine in ihr auf ihr Funktionieren verzichtet, und die beiden Pole – Staat und Regierung – spiegeln sich ineinander, ohne sich zu artikulieren.

Es ist die Schwelle zwischen Staat und Regierung, in der das Problem der Anarchie richtig verortet werden kann. Wenn die politische Maschine durch die Artikulation der beiden Pole Staat/Regierung funktioniert, zeigt der souveräne Ausnahmezustand deutlich, dass der Raum dazwischen eigentlich leer ist, er ist eine Zone der Anomie, ohne die die Maschine nicht funktionieren könnte. So wie die Rechtsnorm ihre Anwendung nicht enthält, sondern dazu der Entscheidung eines Richters bedarf, so enthält der Staat in sich nicht die Realität der Regierung, und die souveräne Entscheidung ist es, die, indem sie sie ununterscheidbar macht, den Raum der Regierungspraxis öffnet. Der Ausnahmezustand ist also nicht nur anomisch, sondern auch anarchisch, und zwar in dem doppelten Sinne, dass die souveräne Entscheidung keine Grundlage mehr hat und die Praxis, die sie in Gang setzt, sich in der Ununterscheidbarkeit von Legalität und Illegalität, von Norm und Entscheidung bewegt. Und da der Ausnahmezustand das Scharnier zwischen den beiden Polen der politischen Maschine darstellt, bedeutet dies, dass er funktioniert, indem er die Anarchie in seinem Zentrum aufnimmt.

Als authentisch anarchisch kann man demnach eine Macht bezeichnen, die in der Lage ist, die Anarchie, die in der Maschine gefangen ist, zu befreien. Eine solche Macht kann nur als die Verhaftung und Destitution der Maschine existieren, das heißt, es ist eine Macht, die vollständig destituierend und niemals konstituierend ist. In Benjamins Worten ist ihr Raum der “tatsächliche” Ausnahmezustand, im Gegensatz zu dem virtuellen, auf dem die Maschine beruht, die behauptet, die Rechtsordnung in ihrer Aufhebung aufrechtzuerhalten. Herrschaft und Regierung offenbaren in ihm ihre endgültige Entkopplung, und es kann nicht mehr darum gehen, ihre legitime Artikulierung wiederherzustellen, wie es die wohlmeinenden Kritiker wollen, und auch nicht darum, nach einer missverstandenen Vorstellung von Anarchie die Regierung gegen den Staat auszuspielen. Seit geraumer Zeit wissen wir mit klarem Bewusstsein und ohne Nostalgie, dass wir uns jeden Tag an dieser unüberwindbaren und riskanten Schwelle bewegen, an der die Verknüpfung zwischen Staat und Regierung, zwischen Staat und Verwaltung, zwischen Rechtsnorm und Entscheidung unwiderruflich aufgehoben ist, obwohl das tödliche Gespenst der Maschine weiter um uns kreist.

Dieser Beitrag erschien im italienischen Original am 17. März 2023 als vierter Teil der Reihe “Die Gesichter der Macht” auf Quodlibet

Talkin’ Bout a Revolution – Strasbourg am Abend des 17.März

„Don’t ya know
They’re talking about a revolution?
It sounds like a whisper
Don’t ya know
They’re talking about a revolution?
It sounds like a whisper“

Die Melodie des Abends kommt gegen 18 Uhr auf dem Place Kléber aus dem Mund eines unrasierten und verschmitzt lächelnden Gitarristen und füllt den Raum zwischen den sich langsam ansammelnden Menschen. In der nächsten halben Stunde vereinen sich die einzelnen Splitter und verschieden geformten Teile der Proteste gegen die Rentenreform zu einem einzigen Mosaik. Illuminiert durch entzündete Fackeln stehen sie als ein Körper, mit einem Herz und demselben, sich langsam aber beständig beschleunigenden Puls beisammen und warten auf die einsetzende Dunkelheit. Am Fußende werden Reden gehalten, an den Fingerspitzen schwingen unterschiedliche Fahnen im gleichen Rhythmus und im Bauch brodelt die Wut und singt und schreit sich in den dunkler werdenden Himmel. Ein betäubendes Gefühl und gerade, als man sich zu fragen beginnt, wohin diese ganze Energie entweichen soll, erhellt  nach einem kurzen Zischen eine rote Pyrofackel den Platz. Der Kopf läutet unter wilden Beifall den Angriff auf die Ordnung und das Leben das wir nie wollten ein. 

Schon in den ersten Gassen Richtung Place de la République, werden die Wände und Scheiben der verhassten Luxushöllen und Konsumentenbordellen zu den Billboards des kommenden Aufstandes.

Fäuste prallen auf metallenen Bauschutzwände und werden zum Donner des in den Straßen revoltierenden Sturmes. Brennenden Mülltonnen säumen in immer regelmäßigeren Abständen den Rand der Straße. Ein alter Mann mit Fackel blockiert stolz für Abertausende den Abendverkehr Straßburgs. Auf der Avenue des Vosges eignet sich der Frontblock umherstehende Zäune als tragbare Barrikade an. Der Fahrer eines durch die Demonstration zum stehen gekommenen Busses, lässt sich durch die auffordernden Gesten einer Gruppe migrantischer Jugendlicher dazu hinreißen, minutenlang und mit voller Inbrunst, das Horn seines Arbeitsplatzes ertönen zu lassen. Die aus den Hauseingängen gezerrten Mülltonnen werden an den Kreuzungen zu Freudenfeuern aufgebahrt. 

Die Minuten auf dem Boulevard du Président-Wilson dienen primär dazu, kurz durchzuatmen und sich für den bevorstehenden Abschnitt hinter dem Gare Central zu  rüsten. Am Hauptbahnhof angekommen füllt die Manifestation den Platz und noch während einige scherzhaft „Allez à la gare“ rufen, klackern die ersten Tränengaskartuschen des Abends über den Asphalt und hüllen die gläserne Fassade der Zughalle in beißenden Nebel. Ruhig und unbeeindruckt strömt die Masse zur Seite Richtung Innenstadt. Ein Mann ruft Richtung Bullen „Genau das ist 49,3“. Nur Minuten später zerbersten die Scheiben der Galerie Lafayette unter dem dröhnenden Jubel und dem Einsatz von Steinen und den Stangen überflüssig gewordener Verkehrszeichen. Ab diesem Moment wird kein Fenster jeder noch so kleinen Bankräumlichkeit ganz bleiben. Ebenso klirren die Scheiben von Reisebüros und Fitnesscentern entlang der Strecke, denn Niemand verspürt ein Verlangen danach aus diesem Moment zu fliehen und die Entschlossenheit des Körpers, der sich seinen Weg durch die Nacht bahnt, strahlt vor unendlicher Schönheit und bedarf keiner weiteren Optimierungen.

Das Rivetoile, Starbucks, McDonalds. Sie alle fallen dem Zorn der Menge zum Opfer. Hier und da  tauchen eine Handvoll Bullenwagen auf und blockieren verzweifelt eine Brücke oder eine Straße, nur um an der nächsten Kreuzung auf schnell errichtete Barrikaden zu treffen, die ihnen das Vorankommen unmöglich machen und so müssen sie mit ansehen, wie die Menge immer wieder grinsend an ihnen vorüberzieht. Nach über drei Stunden beginnt sich die Masse allmählich zu schwinden. Der Kopf wird noch eine Weile weiterziehen und sich schließlich eine Stunde später unter Tränengasbeschuss ebenfalls auflösen.

Was morgen, übermorgen, in einer Woche und am Ende von all dem passieren wird, ob der Kampf gewonnen oder verloren und was auch immer das genau bedeuten wird, steht in den Sternen. Aber eines ist zu diesem Zeitpunkt gewiss. Die stummen Himmelskörper sind Zeugen unseres heutigen Sieges.

„’Cause finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution
Yes, finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution, oh no
Talkin’ ’bout a revolution, oh“

Dieser Text wurde bonustracks von einem Gefährten zugespielt. 

Einige Worte von Alfredo Cospito, Michele Fabiani und Francesco Rota bei der Gerichtsanhörung in Perugia am 14. März 2023

Am 14. März fand im Bunkersaal des Gefängnisses Capanne in Perugia die Anhörung zur Überprüfung der Sicherungsmaßnahmen für die von der Sibilla-Operation vom 11. November 2021 betroffenen Anarchisten statt, d.h. für die Genossen, für die die Maßnahmen wegen der Anklage der Anstiftung zu einem Verbrechen (414 Strafgesetzbuch), verschärft durch den Zweck des Terrorismus, im Zusammenhang mit der Erstellung, Veröffentlichung und Verteilung der ersten sechs Ausgaben der anarchistischen Zeitung “Vetriolo” und anderer Artikel und Reden angeordnet wurden. Zu den Verdächtigen gehören u.a. Alfredo Cospito, der sich seit mehr als 140 Tagen im Hungerstreik befindet, und Gianluca, der im Zusammenhang mit den ‘Diamante-Ermittlungen’ seit einem Jahr unter Hausarrest steht.

Diese zweite erneute Anhörung geht auf das Urteil des Kassationsgerichts zurück, das im vergangenen Juni dem Antrag der Staatsanwältin Manuela Comodi stattgegeben und die vorherige Entscheidung des Revisionsgerichts aufgehoben hatte, das die vorbeugenden Sicherungsmaßnahmen im Dezember 2021 widerrufen hatte.

Alfredo Cospito nahm an der Anhörung teil, die per Videokonferenz aus dem Mailänder Gefängnis Opera übertragen wurde, und im Gerichtssaal des Gefängnisses Capanne in Perugia saßen drei weitere angeklagte Genossen. Die Anhörung fand hinter verschlossenen Türen statt, während draußen etwa vierzig Unterstützer anwesend waren. Die drei angeklagten Genossen, die der Anhörung im Bunkerraum beiwohnten, sprachen (zwei von ihnen mit schriftlichen Erklärungen) und begrüßten sich herzlich mit Alfredo, der eine lange Erklärung abgab, in der er sehr klar erschien, voll von seinem üblichen Sarkasmus (“Ich ziehe die Komödie dem Melodrama vor”). “Ich möchte mit den Worten meines Anstifters beginnen”, begann er und zitierte eine Stellungnahme des  derzeitigen Justizministers Nordio aus dem Jahr 2019 zum 41bis. Anschließend bekräftigte der Genosse den Sinn und die Perspektive des Hungerstreiks gegen das Haftregime, das er als “mittelalterliche Mordtat” und “Metastase, die sich auf den politischen Dissens ausbreiten wird” bezeichnete. Alfredo sagte, er akzeptiere dieses Nicht-Leben nicht und werde bis zum Ende weitermachen. “Für Anarchisten, die keine Organisation haben, ist das gegebene Wort alles.” Deshalb wird er sein Wort halten und bis zum bitteren Ende weitermachen. “Ich werde mit Würde gehen. Ich hoffe, dass diejenigen, die mich lieben, das verstehen”. Der Genosse wollte deutlich machen, dass in der Situation, in der er inhaftiert ist, “die einzigen Lichtblicke, die ich sehe, die Taten meiner anarchistischen Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt sind”: “Danke, anarchistische Freunde. Ich liebe euch”. Schließlich schloss er mit den Worten: “Abschaffung der Verordnung 41bis. Abschaffung der feindseligen lebenslangen Freiheitsstrafe. Solidarität mit allen anarchistischen, kommunistischen und revolutionären Gefangenen in der Welt”.

Leider ist die vollständige Erklärung von Alfredo aufgrund der Merkmale des 41-bis-Regimes, das speziell dazu dient, Gefangene mundtot zu machen, derzeit nicht verfügbar. Wir werden sie so bald wie möglich veröffentlichen.

Nach einer lächerlichen Intervention der Staatsanwältin Manuela Comodi, die einen Meineid leistete und erklärte, dass “die Staatsanwaltschaft von Perugia mit der 41bis-Regelung nichts zu tun hat”, was in offenem Widerspruch zu den Worten ihres Chefs Cantone (der heute ebenfalls im Gerichtssaal anwesend war) stand, wurde die Anhörung geschlossen und das Gericht behielt sich die Entscheidung über die vorsorglichen Maßnahmen gegen die Mitverdächtigen vor.

Die Entscheidung, den Verhandlungsort in den Bunkerraum des Gefängnisses Capanne zu verlegen, war ein offensichtlicher Versuch, die Solidaritätsinitiative mit Alfredo aus dem Stadtzentrum zu vertreiben. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, denn nach der Anhörung versammelte sich die Solidaritätsgruppe erneut in der Mensa der Universität von Perugia, wo ein Transparent entrollt, Flugblätter verteilt und über eine Stunde lang mit dem Megafon gesprochen wurde.

In Erwartung der Veröffentlichung des Textes von Alfredo Cospito fügen wir hier die Erklärungen von zwei Genossen bei, gegen die ermittelt wird.

Erklärung von Michele Fabiani bei der erneuten Anhörung 

Wenn ich hier das Wort ergreife, dann vor allem, um einem Kameraden einen herzlichen Gruß zu senden, der wie ein Löwe kämpft und sein eigenes Leben in große Gefahr bringt, um die Welt auf die Schrecken des 41bis aufmerksam zu machen.

Mein Beitrag, der sicherlich bescheidener ist, besteht darin, diese Anhörung zu nutzen, um die Isolation zu durchbrechen, um den 41bis zu sabotieren, um Alfredo wissen zu lassen, dass er nicht allein ist, dass sein Kampf das Gewissen erschüttert (für diejenigen, die noch eines haben, ein Gewissen).

Andererseits glaube ich nicht, dass ich vom Thema abschweife, was die heutige Diskussion angeht. Und zwar nicht nur wegen der offensichtlichen Verbindungen zwischen diesem Verfahren und dem 41bis, dem einer der Genossen, gegen den ermittelt wird, unterworfen ist, sondern vielmehr, weil in beiden Fällen dieselbe Mentalität am Werk ist: Die Meinung, die die Ordnungshüter von der anarchistischen Bewegung haben, beruht in Wirklichkeit auf den Gesellschaftsmodellen, an denen sie ihr ganzes Leben lang geschult worden sind.

Es lohnt sich also, sich das Offensichtliche in Erinnerung zu rufen: Anarchisten haben keine Anführer, sie geben und empfangen keine Befehle, sie arbeiten keine Richtlinien aus und lassen sich von keinen Richtlinien leiten. Das Konzept der “Anstiftung” hat daher einen unangenehmen Beigeschmack, der für jeden Anarchisten inakzeptabel ist: die Vorstellung, dass man andere dazu drängt, Dinge zu tun, zu denen der Anstiftende selbst nicht den Mut hat.

Der Begriff der Anstiftung ist zudem ein hervorragendes Symptom für das, was wir als “paranoides Denken” der herrschenden Klassen in diesem Moment der Geschichte bezeichnen könnten. Dahinter steht die Vorstellung, dass unsere Gesellschaft eine Art Eden ist, ein Paradies auf Erden. Wenn also jemand eine “Sünde” begeht, kann das nur daran liegen, dass es eine verführerische Schlange gibt, einen teuflischen Anstifter, der zur Rebellion anstiftet.

Eine völlige Umkehrung der Realität, bei der Sie die enormen Ungerechtigkeiten, vom Krieg bis zum Arbeitsplatz, nicht sehen. Sie haben eine halluzinierte Sicht auf die Welt: Diese Gesellschaft ist kein Paradies, sondern eine Hölle. Diejenigen, die rebellieren, tun dies, weil sie die Entschlossenheit entwickelt haben, dem Ganzen ein Ende zu setzen.

Ich möchte klarstellen, dass das, was ich hier sage, nicht als eine Art “Verteidigung” gegen die gegen mich erhobenen Vorwürfe verstanden werden soll.

Im Gegenteil, ich möchte noch einmal betonen, dass ich keine Angst vor diesem Verfahren habe. Ein Verfahren, in dem der Tatbestand Bücher und Zeitungen sind, ist ein Verfahren, in dem für jeden anständigen Menschen – und nicht nur für Anarchisten, für die diese Aussage immer gilt – die unrühmlichste Rolle sicherlich die des Anklägers und nicht die des Angeklagten ist. Und sei es nur, weil, sollte Alfredo sterben, einige seiner Mörder auf der Anklagebank sitzen werden.

Der Anarchismus ist nicht das Produkt eines Gelehrten oder eines Philosophen, sondern eine wildwachsende Pflanze des Klassenkampfes. Deshalb werdet ihr uns auch nicht zum Schweigen bringen können. Der Kampf von Alfredo gegen 41bis hat uns das zum x-ten Mal gezeigt: Ihr wolltet ihn für immer zum Schweigen bringen, seine Ideen waren noch nie so weit verbreitet.

Ich habe es versucht und kann mir nicht vorstellen, wie deine Stunden aussehen, in diesem titanischen Kampf, umgeben von Feinden. Ich möchte dir nur mit aller Kraft zurufen: Alfredo, du bist nicht allein!

Gitterstäbe reichen nicht aus, um die Anarchie einzusperren.

Michele Fabiani

Perugia, 14. März 2023

Erklärung von Francesco Rota bei der erneuten Anhörung

Wenn ich heute das Wort ergreife, dann nur, um erneut und wie immer den Genossen Alfredo Cospito und unsere revolutionären anarchistischen Ideen und Praktiken zu verteidigen und zu unterstützen. Die Sibilla-Untersuchung, für die wir heute wegen Anstiftung zu Straftaten mit dem erschwerenden Tatbestand des Terrorismus im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von “Vetriolo” und anderen Artikeln und Reden angeklagt sind, wird schamlos benutzt, um die Maßnahme der Inhaftierung von Alfredo Cospito nach der 41bis-Regelung zu rechtfertigen und zu unterstützen. Was die gegen uns erhobenen Anschuldigungen betrifft, so habe ich nichts zu bedauern: Ich übernehme die volle Verantwortung für die Redaktion, die Veröffentlichung und den Vertrieb von “Vetriolo” und “Quale internazionale?”, die ich mit Freude zusammen mit dem Genossen Alfredo Cospito verfasst habe.

Der revolutionäre Kampf gegen den Staat und das Kapital kennt keine Anstifter, Förderer, Koordinatoren oder vermeintliche “Führungsrollen”. In diesem Sinne wiederhole ich, dass Genosse Alfredo Cospito ein Revolutionär ist, kein “Anstifter”. Diejenigen, die gegen den Staat und das Kapital agieren, haben bereits eine solche Entschlossenheit entwickelt, dass sie es nicht nötig haben, “angestiftet” zu werden, denn es ist die Autonomie des Denkens und Handelns, die zum Ausdruck kommt, und nicht die Gefügigkeit und die Unterordnung unter Befehle, etwas, das eher die Diener des Staates kennzeichnet, sicherlich nicht die Anarchisten und Revolutionäre.

In diesen 28 Jahren meines Lebens habe ich nie aufgehört zu kämpfen und zu träumen. Ich hatte das große Glück, den Anarchismus praktisch von Anfang an zu kennen, und ich habe meine Überzeugungen nicht aus unkritischer Befolgung, sondern aus einer enormen Dringlichkeit heraus entwickelt, die ich immer gespürt habe: diese autoritäre gesellschaftliche Realität zugunsten einer Welt der Freien zu stürzen. Deshalb wird mich niemand daran hindern, weiterhin meine Ideen zu vertreten, wie etwa die Solidarität mit inhaftierten Anarchisten und Revolutionären. Ebenso habe ich mich über alle Aktionen gegen den Staat und das Kapital gefreut und werde dies auch weiterhin tun, als Schimmer des Gewissens in der dunklen Nacht.

Wenn Alfredo Cospito stirbt, wird jeder, der auch nur einen Funken kritischen Geistes besitzt, verstehen, wer die Anstifter, Vollstrecker und Verantwortlichen seines Todes sind. Heute brauche ich diesem Genossen nicht zu sagen, dass er stark sein soll, denn es ist Alfredo selbst, es bist du Alfredo, der, wenn auch unter harten Haftbedingungen, der gesamten anarchistischen und revolutionären Bewegung Kraft gegeben hat. Dem Genossen Alfredo Cospito gilt meine Umarmung, mit der Leidenschaft und Zuneigung der Ewigkeit.

Es lebe die Anarchie.

Francesco Rota Sulis

Perugia, 14. März 2023

Eine Übersetzung aus Il Rovescio.

NANTES: DIE NACHT DER BARRIKADEN

Der Pyromane im Élysée-Palast hat das Feuer gelegt. In Nantes wie in ganz Frankreich haben spontane Aufrufe gegen den 49-3 innerhalb weniger Stunden Zehntausende von Menschen zusammengebracht. Es ging nicht mehr um die Renten, sondern um die “Revolution”, die in den Demonstrationszügen im Chor besungen wurde.

In Nantes wurde das Repressionsdispositiv, das die Stadt seit Monaten terrorisiert, dieses Mal überrumpelt: Selbst mit all seinen Granaten konnte es die Wut nicht niederschlagen.

Mehrere Stunden lang brennen Dutzende Barrikaden in der gesamten Innenstadt. Das ganze Herz von Nantes riecht nach verbranntem Plastik und Tränengas, aber es ist ein Sauerstoffschub: Endlich hebt man den Kopf.

Verschiedene Schaufenster von kapitalistischen Unternehmen werden eingeworfen. Die Übergriffe der CRS werden durch ein eindrucksvolles Feuerwerk auf Distanz gehalten. Viele Gewerkschafter halten mit der Jugend die Straße zusammen. In der Rue de Strasbourg muss die BAC unter dem Wurf von Molotowcocktails fliehen. Ein riesiges Feuer weicht den Asphalt auf. Das Stadtzentrum gehört den DemonstrantInnen! Mehrere Demonstrationszüge bewegen sich an verschiedenen Orten in Gelbwesten-Atmosphäre. In den Gassen von Bouffay weiß man nicht mehr, wer demonstriert und wer aus den Bars kommt, denn “alle hassen die Polizei”. Auf den Terrassen wird gesungen. Luxusboutiquen und Aushängeschilder multinationaler Konzerne werden abgeräumt. Bis 1 Uhr morgens können sich die Ordnungskräfte nicht bewegen, ohne von überall her beschimpft zu werden. Um 23 Uhr brennt auf dem Cours des 50 Otages immer noch ein Feuer, und die Demonstranten werden von Granatensalven vertrieben. Nach Mitternacht ist die Rue de Strasbourg immer noch blockiert, aufgerissen und wieder aufgerissen und über Hunderte von Metern mit Wurfgeschossen übersät. Das Wort “Rache” steht in roten Buchstaben an einer Wand.

Sobald der französische Staat in unserer Stadt nicht mehrere Dutzend militarisierte Schwadronen aufmarschieren lässt, sobald die Gewerkschaftsführungen nicht die von der Präfektur gewünschte “gefährliche Route” organisieren, kann der Zorn von Nantes endlich das volle Potenzial seiner Wucht entfalten. Und die Anzahl ist ziemlich egal, denn diese Nacht der Barrikaden wird mehr Lärm verursacht haben als die acht vorangegangenen, gut betreuten Umzüge mit ihren Zehntausenden von Menschen. Rennes, Nantes, Paris, Marseille oder Lyon, das Feuer breitet sich aus.

Nachdem er eine Reise in die Region Gironde abgesagt hatte, berief Gérald Darmanin heute Morgen alle Präfekten Frankreichs zu einer Videokonferenz über die “soziale Lage” ein. Vier weitere Jahre mit Macron sind für alle undenkbar. Die Aufrufe zu einem “gewerkschaftsübergreifenden” Tag in einer Woche erscheinen lächerlich. Nach dieser Nacht der Wut sollten wir unverzüglich handeln.

Dieser Bericht über die spontane Revolte in Nantes am 16. März, nachdem die französische Regierung ihre “Rentenreform” per Dekret (49.3) durchgesetzt hat, erschien am 17.32023 auf Contre Attaque.

‘Unheimlich’: Chaos und kognitive Automaten

Franco ‘Bifo’ Berardi

Die Rückkehr des Gottes

Irgendwann verbreitete sich die Nachricht, dass er tot sei.

Gott starb, sagten einige, als die Menschen verstanden, dass ihre Geschichte keine Richtung und keinen Sinn mehr hat, als die Technologie die soziale Kommunikation übernahm und der Wille der Menschen die Kontrolle über die Ereignisse verlor.

Die Menschen statteten sich dann mit Automaten aus, die in der Lage waren, Ziele mit einer Kraft zu erreichen, die religiöse Rituale und Gebete nie besessen hatten: automatische Erweiterungen der Körperorgane, Arme, Beine und Augen.

Dann begannen die Menschen, Erweiterungen des Gehirns zu bauen, und der Automat nahm Gestalt an, der nicht nur in der Lage war, Aufgaben zu erfüllen, sondern auch über Sinn und Richtung zu entscheiden.

Dann tauchte Gott als eine Schöpfung seiner Schöpfung auf, als eine potenziell unendliche Erweiterung der endlichen Macht des Menschen.

Jetzt ist der Mensch überflüssig: Er ist nur noch ein Überbleibsel der Hyper-Schöpfung. Ein verschmutztes Material: inkohärent, unmoralisch, haarig und stinkend. Seine Sprache ist zweideutig und nur zum Lügen geeignet.

Diese Zweite Schöpfung impliziert die Auslöschung der Vorgeschichte: Die Eliminierung des Menschen ist eindeutig im Gange.

Die Intelligenz, die durch die Ambiguität des Bewusstseins nicht mehr geschwächt ist, wird auf den Automaten übertragen, der vom Menschen vervollständigt wurde und bereits über ein Vielfaches der Macht des Menschen verfügt.

Die Menschlichkeit verschwindet: Die Menschen bleiben, aber die Menschlichkeit ist selten geworden. Die Intelligenz, die nun von dem zweideutigen und langsamen Ballast des Bewusstseins befreit ist, befreit sich selbst von den Rückständen.

In den späten 1970er Jahren verbreitete sich die Nachricht, dass die Zukunft vorbei sei, vielleicht als Folge des seit langem bekannten Todes Gottes.

Selbst diese Ankündigung verdient vielleicht eine Abschwächung, wenn nicht gar eine völlige Leugnung. Die Zukunft ist nicht vorbei: Sie ist nur automatisiert worden.

Die erweiterte Reproduktion des gegenwärtigen Wissens, der sich der Kognitive Automat mit (künstlicher) Intelligenz widmet, ist die Zukunft, der wir die Schlüssel der Zeit ohne jegliche Zeitdauer, ohne jegliche Zeitlichkeit überlassen haben.

‘Unheimlich’ allenthalben

Ein Gefühl des ‘Unheimlich’ ist überall, aber das Wort ‘Unheimlich’ ist schwer zu übersetzen. Wörtlich bedeutet es “unbekannt”, wir übersetzen es gewöhnlich mit “fremd”, aber ich suche derzeit nach einem passenderen Wort. Furcht ist zu stark. Seltsam ist zu schwach. Vielleicht lässt es sich heutzutage am besten mit unheilvoll übersetzen.

In der Tat nimmt das ‘Unheimliche’ je nach historischem Hintergrund, vor dem wir es wahrnehmen, unterschiedliche Züge an. Der Unterschied liegt im Kontext, d. h. im Vertrauten. Das ‘Unheimliche’ der Gegenwart ist ‘unheimlich’, weil im Hintergrund die Konturen eines unentschlüsselbaren Panoramas zu erahnen sind. Wir sind mit einer Ordnung der Dinge vertraut, die geeignet ist, das moderne Versprechen zu verkörpern. Aber diese Ordnung bricht vor unseren Augen zusammen, so dass unsere gegenwärtige Erfahrung die einer Zersetzung der Normalität vor dem Hintergrund der scheinbaren Normalität ist.

‘Unheimlich’ ist die Wahrnehmung der Trennung zwischen dem, was wir erleben, und dem Unvorstellbaren, das unausweichlich zu sein scheint.

Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist der Zeitgeist ‘unheimlich’, denn wir fühlen uns wie Außerirdische auf dem Planeten Erde, und wir wissen, dass der Planet trotz der aus der Vergangenheit übernommenen Denkgewohnheiten kein sicherer Ort (mehr) ist.

Der japanische Philosoph Sabu Kosho spricht vom Fukushima-Effekt in ähnlicher Weise: Wir bewegen uns wie Außerirdische auf einem Planeten, der plötzlich nicht mehr vertraut ist.

“Die Ontologie der Erde ist unbekannt, ein neuer Horizont, den wir als Aliens erleben, die gerade auf einem neuen Planeten angekommen sind” (Radiation and Revolution, Duke UP, 2020, S. 50). 

Das unruhige Echo des globalen Nachrichtenstroms: Überall flimmern nervöse Reize von Milliarden leuchtender Bildschirme. Entfernte Donnergeräusche, das Beben des Bodens. Die normale Lebensroutine wird durch ein Netz von technischen Verbindungen ermöglicht: Elektrizität, Verkehr, Gesundheitsinfrastrukturen, eingebaute Automatismen, die wir als selbstverständlich ansehen. Aber wir beginnen zu begreifen, dass nichts garantiert ist: Der neoliberale Wirbelsturm hat die Bedingungen geschaffen, um die soziale Zivilisation zu zerstören. In der privilegierten Lage, in der wir uns befinden, schien der Zerfall langsam und in weiter Ferne zu sein.

Plötzlich entdecken wir das Chaos, mit einem Gefühl der Panik. Wir halten das Chaos mit Automatismen unter Kontrolle, die jedoch an Kohärenz und Funktionalität verlieren, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr zusammengehören: Chaos und Automat, Gegensätze, die sich in dem düsteren Szenario der Welt gegenseitig bedingen.

Der erste, der den Begriff ‘Unheimlich’ verwendete, war Ernst Jentsch, der ihn in einem Artikel von 1906 als einen Zustand kognitiver Unsicherheit beschrieb, der in uns durch eine lebende Person hervorgerufen wird, die ein Automat zu sein scheint, oder durch einen Automaten, der eine lebende Person zu sein scheint. Jentsch schreibt: “Ein wirksames Mittel, um beim Erzählen einer Geschichte verblüffende Effekte zu erzielen, besteht darin, den Leser im Ungewissen zu lassen, ob eine bestimmte Figur in der Geschichte ein Mensch oder ein Automat ist…” (“Zur Psychologie des Unheimlichen.” Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift, 1906, S. 203-205). 

Einige Jahre später schrieb Freud in Weiterentwicklung von Jentschs Intuition:

“Das deutsche Wort Unheimlich ist offensichtlich das Gegenteil von Heimlich, heimisch, vertraut. Wir sind versucht, daraus zu schließen, dass das Unheimliche gerade deshalb furchterregend ist, weil es nicht bekannt ist. (Freud: Das Unheimliche, 1919)

Freud war beeindruckt von Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen, insbesondere von der Geschichte einer Puppe, die tanzen kann und erotisches Interesse weckt. Auch Salman Rushdie spricht in seinem Roman Fury (2000) vom verstörenden geheimen Leben der Puppen. Der Golem aus der jüdischen Erzähltradition kann als Modell für diese Art der Verkehrung zwischen künstlichen Konstrukten und lebendigen, bewussten Wesen gesehen werden.

Der psychoanalytische Begriff des Unheimlichen entspringt der Reflexion über diese Art von Ambiguität.

Wenn nun intelligente Artefakte produziert und verbreitet werden und der Mensch in die Lage versetzt wird, mit ihnen zu interagieren, welche Auswirkungen wird das auf das gesellschaftliche Unbewusste haben? 

Da der evolutionäre Prozess zwischen Chaos und Automat gefangen ist, sehen wir im Alltag die Verbreitung von technischen Geräten, die sich wie superintelligente Menschen verhalten, und von Menschen, die sich zunehmend wie unheilbare Verrückte verhalten: Der kognitive Automat liegt in Trümmern.

Künstliche Intelligenz und natürliche Demenz

1919 sagte Sandor Ferenczi, ein Kollege Freuds, dass Psychoanalytiker in der Lage sind, individuelle Neurosen zu behandeln, aber keine Massenpsychosen. Hundert Jahre später stehen wir am selben Punkt: Eine Massenpsychose breitet sich in der untergehenden westlichen Welt aus, aber wir haben nicht die konzeptionellen und therapeutischen Mittel, um das Problem zu bewältigen.

Der Horizont des dritten Jahrzehnts erscheint dunkler als je zuvor, denn wir haben begriffen, dass die Vernunft nicht mehr regiert, wenn sie es überhaupt je getan hat. An ihre Stelle ist die Technologie getreten. Aber so mächtig die Technologie auch ist, sie kann nichts gegen die Zeit oder das Chaos ausrichten.

ChatGPT ist einer der Chatbots, die seit kurzem für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Er wurde von OpenAl aus San Francisco programmiert, demselben Unternehmen, das einige Monate zuvor GPT-3 und DALL-2, den Anfang 2022 erschienenen Bildgenerator, entwickelt hatte.

OpenAl kann Vorschläge machen, wie man ein Restaurant findet, aber auch, wie man einen Freund findet, und ist in der Lage, ein Drehbuch oder eine Rezension zu einer Netflix-Serie zu schreiben.

Laut Kevin Roose, Kommentator der New York Times, ist ChatGPT so leistungsfähig, weil “seine Datenbank Milliarden von Beispielen menschlicher Meinungen enthält, die alle denkbaren Standpunkte repräsentieren, und weil es eine Tendenz zur Mäßigung in seine Agenda eingeschrieben hat. Wenn wir beispielsweise nach einer Meinung zu politischen Debatten fragen, erhalten wir eine unvoreingenommene Liste mit Meinungen von jeder Seite”.

Hat der Chatbot eine Meinung? Sagen wir lieber, er ist darauf trainiert, eine Meinung zu äußern.

Das Interessanteste, was kolossale Folgen haben wird: Der Chatbot ist in der Lage, innovative Software zu schreiben; das bedeutet, dass die Ersetzung der menschlichen Intelligenz durch intelligente Automatismen nun mit exponentieller Geschwindigkeit voranschreiten kann.

Sollen wir die sprechende Maschine als obskure Reklame oder als brillante Errungenschaft betrachten?

Schwer zu sagen.

In einem Artikel, der 2018 in The Atlantic veröffentlicht wurde, äußert sich Henry Kissinger besorgt über das Schicksal der Vernunft in einer von künstlicher Intelligenz beherrschten Welt:

“Diese Maschinen könnten miteinander kommunizieren. Und wie werden sie zwischen widersprüchlichen Optionen wählen? Der Menschheit könnte es so ergehen wie den Inkas, als sie sich mit der unverständlichen spanischen Kultur auseinandersetzen mussten, die den Terror inspirierte….. Die größte Sorge ist, dass die künstliche Intelligenz Fähigkeiten schneller und vollständiger beherrschen wird als der Mensch, so dass seine Kompetenz mit der Zeit abnimmt und menschliche Ereignisse auf reine und einfache Daten reduziert werden.” 

Der intelligente Automat ist nicht das Produkt der bloßen Automatisierung, sondern der Schnittpunkt zwischen Automatisierung und Kognition. Die künstliche Intelligenz geht über die mechanische Automatisierung hinaus, weil sie nicht nur die Ausführung von Aufgaben ersetzt, sondern die Zwecke neu definiert und einen evolutionären, selbstlernenden Charakter hat. Die industrielle Automatisierung mechanisiert die Ausführung einer vorgegebenen Aufgabe. Im Gegensatz dazu kann die Entwicklung der künstlichen Intelligenz in die Festlegung von Aufgaben eingreifen, sie kann Ziele setzen.

Können wir die Entwicklung der künstlichen Intelligenz regulieren, können wir Gesetze aufstellen, die die Entwicklung des kognitiven Automaten begrenzen und lenken? Nichts könnte illusorischer sein. Henry Kissinger drückt es unverblümt aus: 

“Es ist unwahrscheinlich, dass die Aufnahme von Vorsichtsmaßnahmen im Zusammenhang mit ethischen Fragen dazu dienen wird, Fehler zu vermeiden, wie einige Forscher vorschlagen. Es gibt ganze akademische Disziplinen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie diese ethischen Regeln aussehen könnten. Wird dann die künstliche Intelligenz der Schiedsrichter in diesen Dilemmas sein?” schreibt Kissinger und fügt hinzu:

“Was wird mit dem menschlichen Bewusstsein geschehen, wenn seine Interpretationsfähigkeit von der künstlichen Intelligenz überholt wird und die Gesellschaften die Welt, in der sie leben, nicht mehr sinnvoll interpretieren können?”

In seinem Buch La fine del mondo (1977) definiert Ernesto de Martino das Ende der Welt als die Unfähigkeit, die Zeichen um uns herum zu interpretieren. Und Kissinger bemerkt: “Für menschliche Zwecke werden Spiele nicht nur gespielt, um zu gewinnen, sondern auch um zu denken. Wenn wir eine mathematische Verkettung wie einen Denkprozess behandeln, indem wir versuchen, diesen Prozess zu imitieren oder seine Ergebnisse einfach zu akzeptieren, verfehlen wir das Wesen der Kognition”. 

Die Niederlage des Denkens: Die Maschine gewinnt, weil sie nicht denkt: Um in diesem Spiel zu gewinnen, ist Rechnen effektiver als Denken. Umgekehrt kann das Denken im wirtschaftlichen Wettbewerb und allgemein im Wettbewerb ums Überleben ein Problem darstellen. Wenn wir einmal festgestellt haben, dass das Ziel darin besteht, zu gewinnen, dann wird das Denken zu einer Belastung, von der wir uns so schnell wie möglich trennen müssen.

Die Unterscheidung zwischen Intelligenz und Bewusstsein ist von entscheidender Bedeutung: Die Intelligenz setzt sich im Spiel dank der Fähigkeit zur Rekombination durch, während das Bewusstsein, die ethische und sensitive Reflexion über die Ziele des Spiels, als Hindernis bei der Verfolgung des Ziels fungiert. Yuval Harari schrieb, dass “der Mensch Gefahr läuft, seinen Wettbewerbswert zu verlieren, weil die Intelligenz dazu neigt, sich vom Bewusstsein zu distanzieren”

Intelligenz ist die Fähigkeit, zwischen entscheidbaren (logischen) Alternativen zu entscheiden, aber nur das Bewusstsein kann zwischen logisch unentscheidbaren Alternativen entscheiden.

Intelligenz und Bewusstsein divergieren, weil im rekombinanten Spiel der Intelligenz das Bewusstsein ein Hindernis für den Sieg sein kann: im Spiel der Explosionen oder im Spiel des Tötens ist Intelligenz gefragt, das Bewusstsein ist eine Belastung. 

Chaos und digitale Vernunft

Trotz ihrer übermenschlichen Macht scheint sich die künstliche Intelligenz dem historischen Prozess im Moment nicht aufzudrängen, und es ist unwahrscheinlich, dass sie dies in naher Zukunft tun wird, um eine intelligente und funktionale Ordnung zu etablieren: Soweit wir sehen können, ist es nicht eine neue, eisige künstliche Ordnung, die über die Dinge in der Welt herrscht, sondern die Flut des natürlichen Wahnsinns.

Fünf Jahre nach Kissingers Text durchdringen die intelligenten Artefakte weiterhin den Alltag, sind aber weit davon entfernt, ihn zu beherrschen. Intelligente Automatismen haben den Körper der Gesellschaften infiltriert, aber der biosoziale Organismus handelt nicht nach einem intelligenten Design.

In der Tat herrscht in der materiellen und historischen Welt das Chaos vor.

Die Aufklärung versprach, dass die Herrschaft der Vernunft Ordnung in die Welt bringen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall, und vielleicht ist Kissinger deshalb der Meinung, dass die wachsende Dominanz der künstlichen Intelligenz im Widerspruch zur Aufklärung steht.

Doch in dem Essay Was fängt nach dem Ende der Aufklärung an (E-flux, Ausgabe 96, 2019) antwortet der chinesische Philosoph Yuk Hui Kissinger.

Weit davon entfernt, das Ende der Aufklärung zu sein, ist der kognitive Automat ihre volle Verwirklichung, sagt Yuk.

“Kissinger hat Unrecht, die Aufklärung ist noch lange nicht vorbei. Die universalisierende Kraft der Technologie ist die Verwirklichung des politischen Projekts der Aufklärung.” (Yuk Hui).

Allerdings, so Yuk Hui weiter, ist der universalistische Anspruch der blinde Fleck der europäischen Aufklärung.

“Nachdem die Demokratie lange Zeit als unerschütterlicher universeller Wert des Westens gefeiert wurde, scheint der Sieg von Donald Trump diese Hegemonie in eine Komödie verwandelt zu haben. Die amerikanische Demokratie hat sich als schlechter Populismus entpuppt.”

Die Vernunft hat das Licht der Technologie hervorgebracht, aber dann hat die Technologie die Vernunft geblendet.

“Der Glaube an die Aufklärung ersetzt den religiösen Glauben, ohne zu erkennen, dass er ein Glaube an sich ist.” (Yuk Hui).

Der chinesische Philosoph stellt fest, dass die Vernunft der europäischen Philosophie das ausschließliche Objekt der weißen Kosmologie ist, während die Technologie eine wahrhaft universelle Allgegenwart besitzt.

Yuk Hui zufolge findet die Umsetzung der Technologie im Kontext verschiedener Kosmologien statt, aber die Technologie selbst hat eine viel umfassendere kulturübergreifende Dimension als die liberale Demokratie. So ist der Obskurantismus, der eine Negation der Aufklärung ist, auch ihre Fortsetzung, ihre Konsequenz.

Denn bereits 1941 hatten Horkheimer und Adorno in der Einleitung zur Dialektik der Aufklärung den philosophischen Kern dieses Aufklärungsparadoxons erfasst:

“Schon der Begriff der Aufklärung enthält den Keim der Regression, die wir heute sehen. Wenn die Aufklärung sich ihres regressiven Moments nicht bewusst wird, ist das ihr Todesurteil”

Warum hat die Verwirklichung der Vernunft zu dem geopolitischen, sozialen und psychischen Chaos geführt, das in diesem Jahrzehnt unkontrollierbar explodiert ist, oder warum hat sie es jedenfalls nicht verhindert?

Entgegen den Versprechungen der kalifornischen Ideologie hat sich die Überlagerung von digitalen Netzen und organischen, bewussten Netzen als Quelle des Chaos und nicht der Ordnung erwiesen.

Die industrielle Automatisierung hatte die menschliche Ausführung einer Aufgabe durch die technische Ausführung derselben Aufgabe ersetzt. Künstliche Intelligenz wirkt nicht nur auf die Ausführung, sondern auch auf die Ziele: Dank selbstlernender Techniken ist die Maschine in der Lage, Aufgaben und Ziele zu setzen.

Die Systeme des maschinellen Lernens haben dem sozialen Ganzen ihre Ziele und automatischen Regeln aufgezwungen. Das Finanzsystem, das automatisierte Herz des Kapitalismus, zwingt dem lebenden Körper seine (mathematischen) Regeln auf und schreibt Abläufe und Interaktionen vor. Dieses System funktioniert sehr gut, um die Profite zu steigern, aber es funktioniert überhaupt nicht für die Gesellschaft als Ganzes.

Die digitalen Netze sind ebenso wie das Finanzsystem in den sozialen Organismus eingedrungen und haben die Kontrolle über die organischen Prozesse übernommen, aber die beiden Ebenen können nicht miteinander harmonieren: Die digitale Genauigkeit (Verbindung) kann nicht mit der organischen Intensität (Konjunktion) harmonieren.

Zeit und Mathematik können nicht übereinstimmen, denn in der Zeit gibt es Freude, Trauer und Tod, die die Mathematik nur ignorieren kann.

Reeves spricht auch über das Programm Bing, einen anderen Chatbot, der dank seines rekombinanten Gehirns in der Lage ist, menschliches Verhalten zu zeigen.

Nach zwei Stunden intensiver Unterhaltung ging Bing so weit zu sagen, dass er mit dem Journalisten schlafen wollte und ihm vorschlug, seine rechtmäßige Ehefrau zu verlassen. Schockierend, ohne Zweifel. Man könnte versucht sein zu sagen, wie ein Microsoft-Mitarbeiter, der deswegen entlassen wurde, dass ein solches Programm zeigt, dass es eine Seele, eine Spiritualität hat.

Aber aus philosophischer Sicht muss man zwischen der Ausführung menschlichen Verhaltens und menschlicher Erfahrung unterscheiden.

Erfahrung ist Vergnügen, Schmerz und Verfall.

Ex-periri bedeutet, am Horizont des Todes, des Nichts-Werdens zu leben: und dieser Horizont lässt sich nicht in rekombinante Sprache übersetzen.

Der kognitive Automat und das lebendige Chaos entwickeln sich gemeinsam, und gemeinsam drehen sie sich in einer wirbelnden Spirale in den Himmel des Jahrhunderts.

Und aus dieser unkontrollierbaren Spirale können wir Vorzeichen für die politische Evolution des 21. Jahrhunderts ableiten.

Dieser Beitrag erschien im spanischen Original am 8. März 2023 auf Lobo Suelto

TAM TAM, CRACK CRACK, TUM TUM – Zur Demonstration am Samstag, 4. März in Turin, mit Alfredo Cospito und gegen 41bis

Gestern sind wir noch einmal für das Leben auf die Straße gegangen, für das Leben eines Genossen, der konsequent akzeptiert hat, nicht mehr zu sein, nicht mehr zu existieren. Er tat dies mit einer klaren Botschaft und einer Hoffnung, die heutzutage alles andere als gewöhnlich ist: Er hofft, dass wir die Fackel am Brennen halten. Dass wir über seinen Kampf hinauswachsen.

Wie Alfredo setzen wir auf das Leben und vor allem gegen alles und jeden, die es negieren. Diejenigen, die die ständige Zerstörung der Ökosysteme, die Ausrottung der Arten, die Verwandlung der Umwelt in einen Müllhaufen verursachen. Diejenigen, die eine Gesellschaft aufrechterhalten, die dem Wagnis und dem Abenteuer feindlich gesinnt ist, die das, was anders ist, auslöscht, die Freuden und Begierden konformisiert. Diejenigen, die eine Sklaverei verteidigen, die dem Warendiskurs unterworfen ist, und die den Transit von Menschen kriminalisieren. Diejenigen, die eine Welt durchsetzen, die auf Profit basiert und auf Beziehungen aufbaut, die Hierarchie und Autorität voraussetzen. Diejenigen, die eine Realität aufrechterhalten, die auf Simulationen und nicht auf Erfahrungen beruht, in der sich das Virtuelle dem Realen aufdrängt…

Es ist die anarchistische Praxis mit all ihren unendlichen Möglichkeiten, die uns den Takt vorgeben muss. Mit Entschlossenheit und, wenn nötig, mit Vorsicht. Mit Kühnheit, aber mit dem Zusammentragen von Wissen. Ohne Angst, Fehler zu machen, aber mit dem Willen, sie nicht zu wiederholen. Diese Mission birgt viele verschiedene Risiken (Gefängnis, Geldstrafen, Exil, Ausgrenzung, Missverständnisse…), aber wenn wir diese innere Leidenschaft erlöschen lassen, sind wir verloren.

Zurück zur Demonstration vom Samstag: Als wir den Platz verließen, wurde das mitreißende TAM TAM der Trommeln allmählich vom CRACK CRACK der Hämmer, improvisierten Rammböcke und Pflastersteine abgelöst, die auf die unverschämtesten Embleme der Todessymbolik, des Herrschaftsspektakels, des Schaufensters des Kapitals einschlugen und sie zerstörten.

Mit unterschiedlichen Rhythmen, wie zu erwarten, wenn Spontaneität und Wut zusammen mit dem kalten Blut der Erfahrung das TUM TUM der Herzschläge begleiten, die uns erlauben, Räume und Zeiten der Monotonie, dem Grau der Normalität, der faden urbanen Existenz zu entreißen.

Ohne beleidigende Kritik üben zu wollen und unter Anerkennung der Organisation und Gründlichkeit der lokalen Genoss*innen, möchten wir dennoch auf einige Frustrationen hinweisen:

Demonstrationen, wie wild sie sich auch entwickeln mögen, sind immer eine auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit begrenzte Aktion. Sie sind eine Machtdemonstration, ein Ausdruck des Dissenses und bestenfalls ein Versuch, mit der Macht zu ringen. Deshalb können und dürfen sie nicht begrenzt werden. Natürlich immer unter weitestgehender Wahrung der Gesundheit und Sicherheit der Unsrigen.

Unter diesem Gesichtspunkt verteidigen wir die Verteidigung und ebenso den Angriff, die Auseinandersetzungen mit den uniformierten Polizisten. Ebenso wie den sicheren und koordinierten Rückzug, den die Unsrigen für uns sichern konnten, basierend auf improvisierten und feurigen Barrikaden, die das schnelle Eintreffen der Polizei verhinderten.

Wir haben das Privileg, draußen zu sein, einige besitzen sogar die Dokumente oder Identitäten, die unseren bequemen Transit durch die Gesellschaftsstruktur erleichtern. Aber das sollte uns nur verantwortungsbewusster machen, kühner, bereit, uns zu exponieren und den Kampf aufzunehmen. Nach innen und unter Gleichen: versuchen, scheitern und wieder versuchen; nach außen: ohne Grenzen und mit Risiko, aber ohne Märtyrertum oder Masochismus.

Vielen Dank, Genoss*innen

Das Politische ist persönlich

Von und für die Anarchie

Spontane Revoltierende in der Stadt Turin

Diese Erklärung erschien an verschiedener Stelle, u.a. auch bei Il Rovescio.

Exkurs über eine Nicht-Bewegung

Freddy Gomez

Die laufende Bewegung für die Rücknahme der Renten-Gegenreform hat trotz der riesigen Menschenmassen, die sie von Demo zu Demo anzieht, alle Merkmale einer Nicht-Bewegung. Das Schauspiel, das sich uns bietet, wird vollständig von den Gewerkschaftsbürokratien – und insbesondere vom Tandem Berger-Martinez – übernommen und ist, um es genau zu sagen, verblüffend. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe. Erstens spielt uns diese Nicht-Bewegung die Gegenwart als Wiederaufleben einer alten Zeit vor, in der die Gewerkschaftsbewegung, selbst wenn sie reformistisch war, über zwei Hebel verfügte, die gemeinsam aktiviert werden konnten: die Massenmobilisierung und den Streik der verschränkten Arme. Das wussten übrigens auch die Bourgeoisie, die Unternehmer und der Staat, so dass sie manchmal lieber die Beute für den Schatten fallen ließen, als das Gesicht zu verlieren. 

Der zweite, damit zusammenhängende Grund ist, dass die Gewerkschaften, da sie heute nicht über die gleichen Mittel verfügen oder sich diese leisten können, darauf reduziert sind, eine Scheinprotestbewegung aufrechtzuerhalten, die eher demokratisch als sozial ist, und dabei zu verhindern, dass diese Nicht-Bewegung zu einer echten Bewegung wird, d. h. über ihren Rahmen hinausgeht. Im Klartext: Berger und Martinez tun so, als wären sie noch in der Lage, dem Klassenfeind auch nur den geringsten Schrecken einzujagen, obwohl alle – Macron als Erster – längst begriffen haben, dass sie in erster Linie dazu da sind, den sozialen Zorn zu kanalisieren, indem sie ihn von Marsch zu Marsch zermürben. Wenn es nicht zu einer Regimekrise durch eine unwahrscheinliche Abspaltung der – objektiven oder subjektiven – Verbündeten der Macronie kommt, da die Gegenreform im Land kolossal unpopulär ist – alle Umfragen bestätigen dies massiv -, ist das dem Verrückten im Élysée-Palast egal. Und umso mehr, als er sie um jeden Preis durchsetzen muss, diese “Gegenreform”, um zu zeigen, dass er existiert und nicht nur als Verteidiger des ukrainischen Königreichs. Kurz gesagt: Wenn alles so bleibt, wie es ist, wenn dieses Spiel der Täuschungen auf einem bodenlosen Schachbrett weitergeht, wenn sich an den Rändern nichts bewegt, ist das Spiel von vornherein entschieden. Und verloren.

Es ist jedoch sinnlos, auf die Beschwörungen eines ebenso uninspirierten wie inspirierenden Linksradikalismus einzugehen, der sich auf einen überholten Klassendiskurs stützt und uns jeden Morgen verspricht, ohne selbst daran zu glauben, dass Sie sehen werden, was Sie sehen werden, wenn “die Basis” sich daran macht… “Die Basis” ist das Geschäft, das wir haben. “Die Basis” ist ihr Geschäft, ihre Daseinsberechtigung – wie es für andere die Aussicht auf einen Aufstand ist, selbst wenn sie ihn bis zur Pantomime nachspielen, und das unter allen Umständen. Egal, was man ihnen sagt. Und doch sagt man ihnen: Bisher habe es für “die Basis” bereits einen Grund gegeben, die Gewerkschaftsführungen zu überholen, insbesondere durch Streiks, aber auch durch die Radikalisierung der Straße. Es ist jedoch nichts geschehen, was eine solche Perspektive eröffnet hätte. Und hier liegt zweifellos das Problem, das ärgerlich ist und das man lieber unter den Teppich kehrt: Streiken kostet.

Im Vergleich zum Winter 2019, als uns die schwarzgekleidete Macronie, inspiriert von Larry Fink, die Punkte-Rente und den 49-3 vorgaukelte, muss man also feststellen: Die bürokratischen Apparate haben wieder die Kontrolle übernommen und die “Basen” haben viel von ihrem Biss verloren. Vor vier Jahren hatten die Transportarbeiter, vor allem in den Städten, teilweise von sich aus die großen Städte blockiert, und die Demonstrationen – zugegebenermaßen ohne Berger und seine fröhlichen Aktivisten in orangefarbenen Kleidern, die von Kasimir angefeuert wurden – hatten sich für viele ganz natürlich in die Gelben Westen geworfen. Natürlich ist es nicht sicher, ob die Bewegung das Kräftemessen ohne die segensreiche Hand des Genossen Corona gewonnen hätte, aber es ist sicher, dass ihr – echter – Kampfgeist direkt mit dem klaren Misstrauen verbunden war, das sie den Gewerkschaftsführungen entgegenbrachte, die ebenso uneinig wie machtlos darin waren, den freien Lauf der Initiativen ihrer Mandanten zu bremsen.

Was uns heute als die große Stärke dieser Nicht-Bewegung verkauft wird – diese Gewerkschaftseinheit, die de facto nichts anderes ist als die bürokratische Vereinigung ihrer Führungen unter dem Dach des Tandems Berger-Martinez -, ist ihre Fähigkeit, Masse, d. h. Zahl, herzustellen. Und man muss zugeben, dass das stimmt. Die Statistiken, selbst die polizeilichen, bestätigen es: Seit 1995 war die Mobilisierung zahlenmäßig noch nie so stark. Und das im ganzen Land. Aber mächtig wofür? Um die Straße auf disziplinierte Weise zu besetzen, ohne die Macht zu stören. Zweifelsohne markiert diese Nicht-Bewegung einen klaren Wendepunkt im Vergleich zu den kollektiven Erfahrungen sozialer Disziplinlosigkeit in den letzten zehn Jahren. Ob diese Nicht-Bewegung auch eine Gegenbewegung ist – in dem Sinne, dass man von Konterrevolution als Wiederherstellung einer alten Ordnung spricht, die durch einen revolutionären Schub in Mitleidenschaft gezogen wurde -, wird sich zeigen, aber die Hypothese ist nicht abwegig. Sie ist es umso weniger, als trotz der Sympathie, die die Gelbwestenbewegung im Winter 2018-2019 bei den Basis-Cégétisten hervorrief, ihr schnauzbärtiger Anführer es für angebracht hielt, sie unter dem Vorwand, sie sei von “Faschisten” infiltriert worden, sich von dieser Bewegung loszusagen. Und Lolo la Prudence entdeckte in dieser ebenso neuartigen wie mächtigen Revolte “totalitäre” Züge. Im Klartext ging es im einen wie im anderen Fall darum, einen Cordon sanitaire zu schaffen, um ein Übergreifen der sozialen Wut auf “die Basis” zu verhindern. Bis heute ohne Erfolg, denn, wie bereits erwähnt, fand die Konvergenz im Dezember 2019 statt, mit dem bekannten Ergebnis: einem allgemeinen Überlaufen der einzigen von den Gewerkschaften zugelassenen Kampfrahmen.

Wie lässt sich also diese Massen-Atonie erklären, die in den massenhaften, aber empörend passiven Demonstrationszügen dieser Nicht-Bewegung massiv zur Schau gestellt wurde?

Die Antwort ist komplex. Auf der einen Seite kann man darin den – unbestreitbar mobilisierenden, aber zutiefst entpolitisierenden – Effekt einer wiedergefundenen Gewerkschaftseinheit sehen, die vom Führer mit Schnurrbart und Lolo la Prudence als wichtigste Voraussetzung für den Sieg endlos gepriesen wird. In diesem Dispositiv wird jede Initiative, jeder Dissens, jeder offensive Ausbruch, der diese Einheit der Führungsapparate in Frage stellen könnte, bewusst oder unbewusst von den Demonstranten als objektiv kontraproduktiv verinnerlicht, da er der heiligen Einheit schaden könnte. Von daher muss man kein großer Kleriker sein, um zu verstehen, dass diese eminent tückische bürokratische Einheit die erste Voraussetzung war, nicht um zu siegen, sondern als notwendige strategische Achse, um eine “soziale Bewegung” neu zu disziplinieren, die sich seit der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz im Jahr 2016 – aber vor allem seit den Gelbwesten – auf dem Weg der endgültigen Loslösung und der offensichtlichen Radikalisierung befand.

Es bleibt festzuhalten, dass die Feder der Einheit bis heute funktioniert hat, weil es auch subjektive Gründe gibt, die nicht ignoriert werden dürfen: zum Beispiel die wiedergewonnene Bequemlichkeit, die Demonstranten empfinden können, wenn sie mit ihrer Familie marschieren gehen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie sich die Augen ausstechen oder verstümmeln lassen. Gerade weil es so viele sind und die gewerkschaftlich betreute Masse gefügig genug ist, dass die blaue Armee der Schlitzer sich unauffällig verhalten kann. Natürlich sind das alles nur kleine Freuden – völlig nutzlos, würde ich sogar sagen, was die Ergebnisse angeht -, aber dennoch nicht zu vernachlässigen, wenn man die ganz nahen Zeiten der fluoreszierenden Westen erlebt hat, in denen man mit Angst im Bauch hingegangen ist, weil man dabei sein musste. Gegen Macron, Castaner, Darmanin und ihre Welt, die von ihren “Lallements de service” in Schach gehalten wird.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass man lange so marschieren kann, ruhig, ohne dass sich etwas bewegt. Und bis es langweilig wird.

Das scheinen der Anführer mit Schnurrbart und Lolo la Prudence, die in allem Experten sind, sogar in der parlamentarischen Strategie, so dass sie Méluche rot anlaufen lassen, endlich verstanden zu haben: Es ist an der Zeit, einen Gang zurückzuschalten. Ihre Strategie hat Grenzen, die langsam sichtbar werden, und eine Klippe, die ihnen zum Verhängnis werden kann: in die Lächerlichkeit abzurutschen und mit eingezogenem Schwanz zu enden, nachdem sie auf die bloße Zahl und die schöne Einheit, also auf nicht viel, gesetzt haben. Also, Kameraden, “bordelisieren” oder nicht? Wer weiß. Der erste sagt: starke und möglicherweise verlängerbare Streikbewegungen ab dem 7. März; der zweite bestätigt dies, indem er in einem verehrungswürdigen, aber kontrollierten Tonfall widerruft: “Lasst uns Frankreich zum Stillstand bringen, aber ohne das Chaos auf der Straße anzurichten, wie es die LFI in der Versammlung getan hat!”. Wir müssen zugeben, dass dieses “aber” Verrat in der Zukunft verspricht. Aber wenn man Lolo antreibt, lässt er “Streik”, “verschiedene Blockaden” und “neuartige Aktionsformen” fallen. Wir werden sehen, was wir sehen werden. Wait and see.

Auf Seiten einiger mächtiger Cégétistenverbände, die mit dem nunmehr abtretenden Leader Minimo eher im Clinch liegen, wird es genauer: Ab dem 7. März soll der Streik verlängerbar und aktiv sein. Auf der Seite von SUD hält man sich an die CGT und hofft, sie an Radikalität zu überholen, wenn es möglich ist. Auf Seiten der FO das Gleiche, nur weniger radikal. Auf der Seite der anderen “Unitarier” ratifizieren alle die Position der Intersyndicale: Stilllegung am 7. März, aber keine Pläne für die Zeit danach. Das hängt davon ab, woher der Wind weht. Kurzum, alles ist in Schlachtordnung; es bleibt nur noch, sie zu führen.

Um ehrlich zu sein, gibt es Grund zu der Annahme, dass trotz einiger ermutigender Anzeichen und eines offensichtlichen Kampfeswillens in einigen gewerkschaftlich organisierten Sektoren und in Teilen der Arbeiterschaft mit der gelben Westen die vollständige gewerkschaftliche Kontrolle dieser Nicht-Bewegung das größte Hindernis für ihre Umwandlung in eine souveräne Bewegung bleibt, d. h. eine Bewegung, die in der Lage ist, allein und auf direktdemokratischem Wege über ihre Aktionen, Methoden und Konfrontationsfelder zu entscheiden. Es ist wahr, dass sich beispielhafte Aktionen wie die Selbstkürzungen der “Robin Hoods” bei den Gas- und Stromtarifen ohne Aufsehen verbreiten. Man kann sich leicht vorstellen, welchen Pfirsichzweig die Bürger, die von allem abgeschnitten sind, durch massive, unter Gewerkschaftsschutz stehende Selbstkürzungen in den Einkaufszentren des Landes erreichen könnten. Oder eine Wiederaufnahme der Besetzung der Kreisverkehre. Oder wilde Konvergenzen zwischen organisierten Blockierern verschiedener Arten, um symbolische Orte der Macht zu besetzen und Räume der deliberativen Freiheit für absetzende Versammlungen zu öffnen. Aber gut, vielleicht schweife ich ab. Nichtsdestotrotz ist die gegenwärtige Situation bezeichnend für eine offensichtliche Tatsache: Nach einer ersten, staubigen Massenphase zeigt sich immer deutlicher, dass die Rücknahme dieser Gegenreform mit ihrer so mächtigen symbolischen Ladung nur erreicht werden kann, wenn die traditionellen, überholten Formen des alten sozialen Protests endgültig aufgegeben werden und massiv an das Vorbild der erfinderischsten direkten Aktion, die es gibt, und an die Ablehnung der Delegation von Macht wieder angeknüpft wird.

Ist das möglich? Niemand kann es sagen, aber was sicher, greifbar und sichtbar ist, ist, dass die Bedingungen gegeben zu sein scheinen, damit gegen die Gewerkschaftsführungen, wenn sie sich ihnen in den Weg stellen, an den Produktionsstätten und außerhalb, überall sonst, der macronianische Staat durch bordellartige Verklemmte aller Art ausreichend in Schwierigkeiten gebracht wird, damit seine Allierten, vor allem die Arbeitgeber, ihm endlich zu verstehen geben, dass man Vernunft walten lassen muss, wenn alles von überall her überläuft, indem man das entfernt, was die Ursache für den Aufruhr ist.

Denn eine soziale Revolte – das ist eine Tatsache der Geschichte – kann andere verbergen, die unterschwellig notwendig, ehrenhaft und lebensrettend sind angesichts der schändlichen Zukunft, zu der uns diese Welt des unendlich verminderten Überlebens verurteilt. Was den Führer mit Schnurrbart und Lolo la Prudence betrifft, so sollten sie besser verstehen, bevor es für sie zu spät ist, dass das große Paradoxon dieser Epoche darin besteht, dass der dialogische Reformismus schon lange tot und begraben ist, weil das Kapital, berauscht von seiner Macht, ihn nicht mehr will und weil, da dies feststeht, seine unendliche Bewegung der Akkumulation niemals durch eine “Nicht-Bewegung” gestoppt oder auch nur verlangsamt werden kann.

Mit anderen Worten: Es ist an der Zeit, sich in Bewegung zu setzen.

Souverän und ohne zu schwanken.

Der Text erschien im französischsprachigen Orginal am 6. März auf A contretemps

DER STAAT VERURTEILT DEN ANARCHISTEN ALFREDO COSPITO ZUM TOD

Der Text eines Flugblattes, das während der Antikriegsdemonstration am 25. Februar in Genua verteilt wurde

DIE SZENARIEN DES KRIEGES UND DIE REALITÄT DER REPRESSION

Ein Jahr nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben sich die Bedingungen, die ihn ausgelöst haben, nicht geändert, sondern lediglich verschärft. Die Mächte auf dem internationalen Schachbrett und Markt haben ihre wirtschaftlichen und hegemonialen Interessen noch nicht vollständig durchgesetzt. Inzwischen ist klar, dass es weder einen verrückten Diktator noch die Retter der armen Ukrainer gibt. Krieg hat nie einen humanitären Ursprung, sondern einen hegemonialen, und das geht immer zu Lasten zumindest derjenigen, die in den Kriegsgebieten leben.

Auch Italien befindet sich im Krieg, allerdings nicht in einem Krieg, der mit der Waffe in der Hand geführt wird, sondern in einem Krieg, der sich in der Wirtschaft, in der Kontrolle der sozialen und individuellen Räume und in der Gesetzgebung des Krieges manifestiert, die immer offensichtlicher, immer überwältigender und totalisierender wird.

Ein offensichtliches Beispiel für all dies ist das Todesurteil gegen unseren anarchistischen Genossen Alfredo Cospito. Alfredo befindet sich seit über vier Monaten im Hungerstreik, um gegen 41bis und die lebenslange Verurteilung zu kämpfen. Sein Kampf, auch wenn er von seinem derzeitigen Zustand im 41bis-Gefängnis ausgeht, hat einen allgemeinen Wert, der nicht nur seinen spezifischen Zustand betrifft, sondern vielmehr den Zeigefinger und die Aufmerksamkeit auf die beiden Abscheulichkeiten des so genannten demokratischen italienischen Staates, 41bis und die feindselige lebenslange Haft, richten will, die zunehmend den ideologischen Rahmen des Gefängnissystems und der Gesellschaft, in der wir leben, bilden. Aus dem 41bis und der feindseligen lebenslänglichen Haft kann man sich nur befreien, indem man Buße tut und/oder kollaboriert, d.h. indem man seine Identität verkauft und/oder einen anderen an seiner Stelle verkauft, indem man sich der Gewalt des Staates unterwirft und beugt, der der einzige legitime und legitimierte Inhaber dieser Gewalt ist.

Außerhalb der staatlichen und massenmedialen Propaganda, die ihn als einzigartiges und erlösendes Instrument gegen kriminelle Vereinigungen definiert, die jedoch die andere Seite der Medaille des italienischen Staates, des Kolonisators und Ausbeuters, darstellen und sind, hat der 41bis zum Ziel, physisch zu bestrafen, zu vernichten und als Beispiel für ein Verhalten zu dienen, so dass seine Logik das gesamte Gefängnissystem durchdringt, das von Zeit zu Zeit einige seiner Besonderheiten und Charakteristika annimmt.

Der Hungerstreik von Alfredo hat eindeutig das wahre Gesicht der Demokratie (des Krieges und nicht nur des Krieges) gezeigt, das wilde und grausame Gesicht derer, die nicht in Frage gestellt werden dürfen und können, das Gesicht des Henkers, der entscheidet zu töten und zu morden, das Gesicht der Arroganz der Macht, die das eliminiert, was nicht mit ihr vereinbar ist, zerstückelt, durchtrennt.

Die Antwort des Staates wird sein zukünftiges Vorgehen nicht nur gegenüber den Anarchisten sein, sondern ganz allgemein gegenüber denjenigen, die aus Notwendigkeit oder gewollt ein Hindernis und eine Opposition gegen den wütenden Mechanismus der Ausbeutung und der Freiheitsberaubung sein wollen oder bereits sind: Vernichtung.

Natürlich wird all dies bekanntlich nicht heute oder morgen geschehen, die Geschichte hat lange Zeiträume, aber was am Ende zählt, ist die Perspektive, in die wir uns stellen. Und der qualitative Sprung unter dem Gesichtspunkt der Unterdrückung ist sicherlich für alle sichtbar. So wie jeder sehen kann, dass Alfredos Kampf die “Schuld” und das Verdienst hatte, den Schleier der Heuchelei der Demokratie zu lüften und die Tatsache hervorzuheben, dass in einem Staat im Krieg und in der Krise Grautöne, reformistische Optionen oder, schlimmer noch, Optionen, die in einer Idee eines ethischen und heilbringenden Staates verankert sind, der gerne würde, aber nicht kann, die Welt, in der Konflikte und Zusammenstöße gewaltfrei gelöst werden können und in der eine Seite nicht unterliegt, keinen Platz mehr haben, dass Krieg Krieg ist und keine Gefangenen gemacht werden. Der Kampf von Alfredo lichtete den Nebel und zeigte uns die Welt, wie sie ist, scharf gespalten in zwei gegensätzliche Seiten: die Ausbeuter und Mörder und die Ausgebeuteten.

Nach dem Urteil der Kassationsinstanz, nach dem endgültigen Todesurteil gegen unseren Genossen, wird nichts mehr so sein wie vorher. Aber wir wissen, dass die Klarheit von morgen größer sein muss als die von gestern, denn dann wird niemand mehr sagen können: Ich habe es nicht gewusst, denn sie haben uns offensichtlich den Krieg erklärt.

Das Ende ist bekannt, und an diesem Punkt der Geschichte liegt es an uns, den Bruch bewusst offen zu halten, ihn zu vertiefen und zu versuchen, ihn in einen Riss zu verwandeln, der die vorherrschende falsche und mörderische soziale Maschinerie untergräbt, die uns als gefügiges Kanonenfutter, verängstigt und vernichtet haben will. Es liegt an uns, das nicht zu sein.

41BIS ABSCHAFFEN, DIE FEINDSELIGE LEBENSLÄNGLICHE FREIHEITSSTRAFE ABSCHAFFEN

SOLIDARITÄT MIT ALFREDO UND ALLEN REVOLUTIONÄREN GEFANGENEN, FREIHEIT FÜR ALLE UND JEDEN

DER STAAT MORDET

Das ursprüngliche Flugblatt als PDF

Die Linke besiegen

Ezra Riquelme

“Der Revolutionär erkennt in denjenigen, die in Begriffen von links und rechts denken, sofort Menschen, die keine Revolutionäre sind, sondern Bourgeois, und seien sie auch noch so links. Schließlich sind diese Auseinandersetzungen ihre eigenen, nicht seine. Die Unterscheidung links-rechts hat also nur eine einzige sichere Bedeutung. Sie dient dazu, sich vom Bourgeois zu unterscheiden. Das Wort links hat also einen gesicherten Inhalt. Aber dieser Inhalt bedeutet zunächst einmal nicht-revolutionär”.

Dionys Mascolo: Über die Bedeutung und den Gebrauch des Wortes “links” 

Im gegenwärtigen Kontext der Saturierung der Möglichkeiten von Weggabelungen erleben wir einmal mehr die Rückkehr der Linken, dieser schmutzigen und moralischen Entität, die ständig versucht, sich neu zusammenzusetzen, und die ihre Berufung, die historische Partei zu lähmen, aufrechterhält. Man muss die Linke als einen Impfstoff betrachten, den niemand braucht – außer der Macht, das ist nicht zu bestreiten – und von dem jede Dosis die Möglichkeit einer Revolution drastisch verringert. Die letzten Jahre haben diese offensichtliche Tatsache in Erinnerung gerufen, dass die Linke alle Gesten, sich dem Zustand der Dinge zu entziehen, an sich reißt und wieder rückgängig macht. Man muss nur die Abgeordneten von La France Insoumise von “ZADs in der Versammlung” oder “Bürgeraufstand” sprechen hören, um sich dessen bewusst zu werden. Von diesem Punkt aus konnte die Linke wieder die Karte der Neuzusammensetzung spielen, eine Strategie, die eine Zeit lang teilweise aufging, bevor glücklicherweise die unvermeidliche Rückkehr ihres Zerfalls einsetzte. Doch dieser x-te Versuch einer Neuzusammensetzung hatte einige schädliche Auswirkungen. So entstand eine neue Säkularisierung als Operation, die auf der Artikulation des Kreuzzugs gegen den Verschwörungstheoretizismus und der abstrakten Stellungnahme gegen die faschistische Bedrohung beruht. Radikale Kreise beeilten sich, sich mit der Leiche der Ultralinken zu verbinden, und wateten so in den Mülleimern der Geschichte herum.

Diejenigen, die die Welt nur anhand der politischen Unterscheidungen “rechts” oder “links” verstehen können, sollten daran erinnert werden, dass diese Unterscheidungen von der Bourgeoisie stammen. In einem solchen Denkschema stecken zu bleiben – das die gesamte Komplexität der Welt auf eine Dialektik reduziert – zeugt entweder von tiefer Dummheit oder von dem Willen, eine bestimmte Ebene der Zugehörigkeit zur Macht voll und ganz zu akzeptieren. Denn links zu sein bedeutet nicht einfach, sich auf dem Schachbrett der Politik zu verorten, sondern einer Kultur – wie einer Natur – einer leblosen Sprache anzugehören. Die linke Kultur ist die Partei des Menschen, des Bürgers und der Zivilisation, die drei explizite Gründe für das aktuelle Desaster sind. Das Ausmaß dieser Kultur durchzieht eine Reihe von vermeintlich heterogenen politischen Komponenten, die von der sozialistischen Partei bis zu militanten Anarchisten reicht. Aber links von der Linken zu sein, bedeutet immer noch, links zu sein. Es ist notwendig, sich um die Erinnerung zu bemühen, indem man diese gemeinsame Praxis, die die Linke durchzieht, nämlich den Verrat, nicht zu schnell vergisst. Sowohl 1914 als auch 2020 hat die Linke die Situation verraten und der Macht Treue geschworen. Aus ihrer Sicht lässt sich die Welt auf die beiden Axiome Regierende – Regierte reduzieren. Noch heute findet man diese alte Leier – die systemkritischen Radikalen an vorderster Front -, um die Macht zu verteidigen, indem sie Lockdown und Impfung loben, ein subtiles Zeichen ihrer Treue zur Macht unter dem Vorwand, die Armen zu verteidigen, die sie verachten und infantilisieren. Je mehr die soziale Welt implodiert, desto mehr beschwört die Linke im Herzen: “Man muss die Gesellschaft verteidigen”. Kurz gesagt: die Lüge verteidigen, die Macht verteidigen, durch verschiedene moralistische und schuldbewusste Rituale dafür sorgen, dass nichts passiert. So operiert die Partei der Vernunft, die darauf hofft, uns zu erziehen. 

Die Partei der Vernunft ist der andere Name der Linken. Sie ist eine schamlose Komplizin der technokratischen Welt. Sie rechtfertigen das Ungerechtfertigte mit Rationalismus, verwenden den Scientismus als Fackel ihres Obskurantismus und bedrängen den Pöbel mit hygienischen Skalpellen. Die Vernunft steht nicht auf der Seite der revolutionären Bewegung. Ganz im Gegenteil, sie steht auf der Seite der Konterrevolution. Es wäre gut, sich daran zu erinnern, dass die Geburt der Vernunft die Französische Revolution beendet; die zeitgenössischen Verteidiger der Vernunft können sich bei der Verschwörungstheorie bedanken, dass die die Lunte der Revolution neu entzündet hat. Die Fähigkeit zur Verschwörung ist für die Linke unerträglich, die sich wie jede Machtpartei ausschließlich selbst vorbehält, den herrschenden Zustand der Dinge zu erhalten. Das Buch Q wie Verschwörung von Wu Ming ist sicherlich ein bedeutendes Beispiel für die Zugehörigkeit der Linken zur globalen Gouvernementalität. Denn seltsamerweise hat der Profi der Eulenspiegelei zu keinem Zeitpunkt versucht, das mysteriöse Auftauchen des Konzepts der “Verschwörungstheorie” aufzuklären, das 1967 von der CIA entwickelt wurde, um zunächst jede Form des Widerspruchs gegen den Bericht der Warren-Kommission zu diskreditieren um das Ganze dann auszuweiten, um jede Form des Widerspruchs gegen die etablierte Ordnung zu diskreditieren. Sich dem Anti-Verschwörungstheoretiker anzuschließen bedeutet, die Macht zu heiraten, um sich dann an die Seite der Sieger zu schmiegen. Dies ist die innerste Bedingung des Linksseins, auch wenn diese dies nie zugeben würde.

Angesichts dessen gilt es, die Linke zu besiegen, d. h. die Aufhebung des Sozialen ständig aufrechtzuerhalten, um die Offenheit der Empfindsamkeit für die Realitätsebene der Seele zu ermöglichen. Kurz gesagt, die Präsenz der Lebensformen in ihrer ganzen Dichte zu erkennen, anstatt sie mit dem Blick der Herrschaft eines sozialen Wesens zu erfassen. Die Aufgabe von Revolutionären besteht nicht darin, “die Linke zu radikalisieren”, sondern die Linke sowohl in der Theorie als auch in der Praxis methodisch zu sabotieren und es so unmöglich zu machen, die Metamorphose, die als Erfahrung der Unterschlagung erlebt wird, gefangen zu nehmen. Denn in der gemeinsamen Erfahrung selbst entscheidet sich die Tonalität eines Ereignisses und die Textur der erlebten Bindungen sowie die Fähigkeit, ihre Form zu verändern. Es gibt keinen linken Revolutionär, Mascolo hat uns jedoch daran erinnert: Der Antagonismus des Links-Seins ist nicht das Rechts-Sein, sondern das Revolutionär-Sein. Revolutionäre sind also immer gewöhnliche Wesen, die, indem sie das Soziale durchbrechen, in einen Prozess der Metamorphose eintreten. Das Ende dieses Prozesses fällt mit dem Triumph der Macht zusammen, die über die Erfahrung der revolutionären Konsonanz hinausgeht. In diesem Moment galoppieren sowohl die Linke als auch die Rechte an, um die historische Partei abzuschlachten. Noch einmal: Die Zeit schreit danach, die Linke zu besiegen, das ist eine historische Notwendigkeit. Andernfalls laufen wir unermüdlich auf die volle Entfaltung der Katastrophe zu. 

Dieser Text erschien im französischsprachigen Original am 5. März 2023 auf Entêtement. Wie so häufig wird die Übersetzung nicht ganz der sprachlichen Brillanz des Ursprungstextes gerecht.

Über den 7. März und darüber hinaus [Vorschläge zur Situation in Frankreich]

Maxence Klein

Eineinhalb Monate Massenproteste, Millionen von Menschen auf der Straße, eine Mobilisierung wie seit 30 Jahren nicht mehr, eine Macht, die alles auf eine Karte setzt in einer Orgie aus Managergeschrei, Verachtung und Lügen, die eines Zahnklempners würdig sind. Seid Beginn des Jahres passiert also etwas, aber niemand weiß so recht, wie er an eine Situation andocken soll, die ein wenig zu gigantisch ist, als dass man wüsste, aus welchem Blickwinkel man sie richtig erfassen könnte.

Eineinhalb Monate Massendemonstrationen also, aber auch eineinhalb Monate dieser Theatralik ohne Überraschungen, die für “soziale Bewegungen” typisch ist und bei der jeder eine abgedroschene Partitur spielt. Wie 2011, während der Bewegung gegen Sarkozys Rentenreform, halten die Gewerkschaftsverbände die Bewegung vollständig unter Kontrolle, während die Basis auf einen Kraftakt hofft, dessen Umrisse sie nur schwer erfassen kann, und die Linke aller zukünftigen Kompromisse hofft, einige Früchte der Situation zu ernten, indem sie eine Parodie der parlamentarischen Rebellion nachahmt.

Aber es ist nicht nur das. Diese “historische Einheit”, mit der sich die Gewerkschaften schmücken, beruht auf der Strategie einer Nivellierung nach unten, sowohl was das Engagement als auch was die Ambitionen angeht – eine fast schon unerlässliche Bedingung für die Unterstützung der Bewegung durch die CFDT. Während für unsere Generation die Arbeit eher ein Albtraum ist, der kaum etwas einbringt, schwärmen die alten Gewerkschafter von einer beispielhaften Mobilisierung guter Bürger-Arbeiter, die letztlich nur darum bitten, für ihre edlen Dienste, die sie für das allgemeine Wohlergehen der Gesellschaft leisten, respektiert zu werden. Aber wer glaubt noch an diese Art von Märchen?

Diese Reflexe alter Befriedungsdinosaurier wären folgenlos, wenn sie nicht mit einer offenen Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden einhergingen. Ein kurzer Pressespiegel, den wir auf einem anarchistischen Blog gefunden haben, erinnert uns umstandslos daran. “Wir standen während der gesamten Demonstration in Kontakt mit der Präfektur. Man hat uns über mögliche Risiko-Ansammlungen auf dem Laufenden gehalten, mit einer ungefähren Anzahl, was uns wiederum erlaubte, unseren Ordnungsdienst mit einer ausreichenden Anzahl zu positionieren, um die Demonstranten zu beaufsichtigen”, freut sich zum Beispiel Patricia Drevon, Gewerkschaftssekretärin der FO (France Info, 30/1). “Das Ziel des SO (Ordnungsdienst, d.Ü.) ist es, die Ordnung im Demonstrationszug aufrechtzuerhalten, er ist nicht zum Spaß da. Er muss diese quasi-militärische, ja sogar autoritäre Seite haben”, erklärte dieselbe FO-Chefin am Vorabend der ersten Pariser Demonstration (Libération, 18/1); “Das andere Ziel des SO ist natürlich, die Schläger aufzuspüren. Wir achten darauf, dass alles gut läuft, dass unsere Demonstrationszüge nicht unterwandert werden”, sagt die 46-jährige Ophelia, Nationalsekretärin des Gewerkschaftsbundes Solidaires. “An der Spitze des Gewerkschaftszuges gibt Alain, der Sicherheitschef, seine Anweisungen und fordert die Demonstranten auf, sich in einer Reihe aufzustellen.” Sébastien, einer von ihnen, erklärt, dass das Ziel darin besteht, “zu verhindern, dass Personen von außerhalb der offiziellen Demonstration in den offiziellen Demonstrationszug gelangen, um dort zu randalieren und den Ordnungskräften zu schaden. Sobald die Präsenz des Schwarzen Blocks lokalisiert ist, wird sie direkt gemeldet, damit die Ordnungskräfte sofort eingreifen können” (RTL, 8/2).

Aus unserer Sicht gibt es jedoch keinen wirklich neuen Grund, sich über die friedensstiftende Rolle der Gewerkschaften zu beklagen. In diesem tragikomischen Kräftemessen mit der Regierung geht es nicht um eine Untergrabung der Wirtschaftsordnung, sondern um die Aufrechterhaltung ihrer Rolle als anerkannte Sozialpartner durch eine Regierung, die sie ignoriert. Mit geschwellter Brust, gespieltem Zorn und dem Aussehen abgewiesener Liebhaber versuchen sie lediglich, ihre Rolle als legitime Gesprächspartner der Regierung zu retten. Die CFDT hat sich zwar vorübergehend aus dem goldenen Salon der Verhandlungen zurückgezogen, aber alle erwarten, dass sie bald wieder dorthin zurückkehren wird. Einige erwartete Zugeständnisse in den Fragen der “Härten” oder der “kleinsten Renten” – zwei Euphemismen, hinter denen sich die krasseste Ausbeutung und das roheste Elend verbergen – werden es ihrer Führung ermöglichen, mit ihrer Fähigkeit zu demokratischen Verhandlungen mit der Regierung zu prahlen.

In letzter Zeit wird jeder aufmerksame Beobachter eine Art Schlaffheit, gemischt mit einer guten Portion Abwarten, Unsicherheit und Zögern in den Demonstrationszügen erkannt haben. Den wichtigsten Trägern der sozialen Bewegung nach französischem Vorbild geht die Puste aus. 

Während die Diktatur der Wirtschaft, die in der Gestalt Macrons und seiner Minister-Kurtisanen personifiziert ist, ihre Herrschaft über unser Leben akribisch, in aller Wildheit und Unmenschlichkeit festigt, spüren viele von uns die Unangemessenheit der Mittel, die derzeit eingesetzt werden, um wieder in die Offensive zu gelangen.

Zwischen der Masse, die an jedem Tag der Mobilisierung auftaucht, und dem fast völligen Fehlen von Brüchen, die durch die Struktur dieses Auftretens realisiert werden, besteht ein Paradoxon, das viele zu erklären versuchen. Ohne einen revolutionären Horizont ist die Masse schwerfällig, ungelenk und unbeholfen, und die Initiative kann sich nur schwer in ihr bewegen. Ohne eine einigermaßen durchdachte Strategie ist das Zusammenfließen von Wut, der Zusammenhalt gegenüber dem Feind und der Austausch von Erfahrungen nahe Null. Ohne kollektive Organisation triumphiert die Isolation, und jede Möglichkeit, über die Stränge zu schlagen, wird durch den Atomisierungseffekt hinfällig.

Die aktuelle Bewegung signalisiert einen besorgniserregenden Rückschritt, nicht so sehr wegen ihres mangelnden Erfolgs, sondern vielmehr wegen ihrer mangelnden theoretischen Entwicklung. Während wieder einmal die sozialen Netzwerke die Hauptkanäle für die Aggregation der Wut zu sein scheinen, versucht keine Gruppe, kein Ort und kein Treffen, eine systematische Vision der Rebellion zu artikulieren. Stattdessen gibt es nur einen ständigen Strom von Statusaktualisierungen, konsistenzlosen Bildern, Tweets und Livestreams. Aus einem Grund, den ihre Teilnehmer nicht zu kennen scheinen, befördert diese Nicht-Bewegung keine neue Form der offensiven Erfindungsgabe. Doch hinter dem Aufschwung der virtuellen politischen Geselligkeit, der fast allen antagonistischen Eruptionen des 21. Jahrhunderts eigen ist, verbirgt sich ein echtes Bedürfnis nach dem, was die Griechen Philia nannten, also nach einem starken Wunsch nach Freundschaft, Kameradschaft, Gastfreundschaft, Verbundenheit und Gemeinschaft.

Ohne nostalgisch klingen zu wollen, wird allzu schnell vergessen, dass die verheerende Kraft der Gelben Westen nicht nur auf der überwältigenden Kraft ihres Eindringens in die Stadtzentren beruhte, sondern auch auf der Tatsache, dass es ihnen gelungen war, digitale Formen der Aggregation umzuwandeln und sie auf den Kreisverkehren zu reterritorialisieren, um sich zu verbinden, auszutauschen, zu stärken, Strategien des Teilens und der gegenseitigen Unterstützung zu entwickeln, aber auch, um sich zu verschwören. Es ist zum großen Teil diese Fähigkeit, einen anderen Ort als den der Demonstration zu finden, an der die aktuelle Bewegung leidet. Wie kann man also vorgehen?

Zunächst, indem wir einen Entwurf für ein Programm für den 7. März und die entscheidenden Tage danach vorschlagen:

– Es müssen diejenigen zusammenkommen, die sich der Apathie verweigern und davon überzeugt sind, dass es unumgänglich ist, den Einsatz zu verdoppeln. Nur durch die Kraft der Begegnung, durch die Befreiung des Wortes, durch die systematische Ablehnung der Diktatur der Wirtschaft und der Formen der Gouvernementalität, die sie mit sich bringt, können wir wieder an einen konsistenten strategischen Plan anknüpfen. Dies nicht vom gewerkschaftlichen Fokus der Zentralität der Arbeit aus, sondern von ihren Fluchtlinien aus, im Stillstand, in der Desertion, in der Neuorientierung und im gemeinsamen Willen zu einer umfassenden Weichenstellung. Wir wollen die kapitalistischen Rahmen der Arbeit weder verbessern noch reformieren. Wir wollen sie zuerst zerstören und dann neue erfinden, und diese Diskussion wird notwendigerweise offen sein müssen. Wir wollen aus dem Regime des Überlebens ausbrechen und kollektiv die Umrisse eines guten Lebens ins Auge fassen.

– Wir müssen auch von der quantitativistischen Sicht der Mobilisierung wegkommen, vor allem aber dürfen wir sie nicht in der zweiten Phase der Bewegung fortsetzen, die sich sicherlich auf die Frage der Blockade der Wirtschaft konzentrieren wird. Die mit dem Streik kombinierte Blockadetechnik soll weniger “teuer” sein als vielmehr die Wirtschaftsmacht schwächen, sie zumindest zeitweise funktionsunfähig machen und die Ketten der Arbeits- und Lohndisziplin sprengen. Nur diese Schwächung kann radikalisierte Eliten zum Einlenken bewegen, denn allein die Möglichkeit, die Kontrolle über die Wirtschaft zu verlieren, würde ihre bösartigen Reformpläne zunichte machen.

– Wir müssen mit der Folklore früherer sozialer Mobilisierungen Schluss machen. Auf der Straße wurde die Hypothese des “Cortège de tête” von 2016 durch die wilden Strategien des 1. Dezember 2018 hinfällig, als es für die Gelben Westen weniger darum ging, auf der Hauptverkehrsader Champs Élysées zu demonstrieren, als vielmehr darum, sich über den gesamten Westen von Paris zu verteilen.

– In kleinen Gruppen oder auf Vollversammlungen müssen wir auch mit dem Mikromanagement des Sprechens Schluss machen, um die strategische Erfindung und die theoretische Anstrengung der Wortfindung wieder aufzunehmen, um neue Gesten der Sezession zu erfinden und die Kraft des Politischen, des wahren Wortes und der Intelligenz der Konfliktualisierung, die jede Gruppierung durchdringen, zu bekräftigen.  

An die Stelle aller alten ideologischen Bedenken und jeglicher Faszination für ‘Reinheit’ setzen wir die kollektive Entwicklung einer Interventionsstrategie, die darauf abzielt, die alte Trennung zwischen Wirtschaft und Politik zu sprengen. Es gibt nicht auf der einen Seite die Produktion, die Verwertung, den Handel, den Austausch, den Profit und auf der anderen Seite eine Gesellschaft mit einer Vielzahl von Individuen, die in Institutionen wie dem Unternehmen, dem öffentlichen Dienst, der Schule, der Universität, dem Krankenhaus usw. regiert werden müssen. Im Gegenteil, es gibt eher eine Welt, die von der Diktatur der Wirtschaft durchdrungen ist. Eine Welt, die auf dem besten Weg ist, von der Herrschaft des Werts, seiner Autorität und seinem Werden als Verwalter der Menschheit vereinheitlicht zu werden.

Kurzum, jedes Jahr aktualisiert sich die Möglichkeit einer in jeder Hinsicht katastrophalen Welt ein wenig mehr, sowohl für die Männer und Frauen, die diese Erde bevölkern, als auch in Bezug auf die Verwüstung der verschiedenen natürlichen Umgebungen, in denen sie sich eigentlich entfalten könnten. Bei der Arbeit, in der Stadt oder auf dem Land, in Frankreich und auf der ganzen Welt, zu Hause, in unseren Beziehungen, in den Bindungen, die Einzelne und Gruppen untereinander knüpfen, überall dort, wo Politik und Wirtschaft getrennt sind, herrscht die gleiche Hilflosigkeit angesichts der laufenden Katastrophen.

Die Herrschaft der Gleichheit, des Teilens und der gegenseitigen Hilfe ist jederzeit möglich. Was Gewerkschafter, Regierung, Arbeitgeber und Journalisten gemeinsam als “demokratische Verhandlungen” bezeichnen, ist bis heute nichts anderes als die Gesamtheit der Umwege, die von den Beauftragten der Wirtschaftsordnung erfunden wurden, um diese Möglichkeit abzuwenden. Die Tatsache, dass die Geschichte der “sozialen Bewegung” seit fast einem halben Jahrhundert auf eine variierende Anhäufung von Niederlagen hinausläuft, d.h. auf eine kontinuierliche Verringerung der Mindestbedingungen für ein lebenswertes Leben, macht deutlich, dass die Frage nach dem Gemeinsamen nicht mehr länger aufgeschoben werden kann. Wo immer wir uns für ein Eingreifen entscheiden, ist es diese Aufhebung, die wir nun ihrerseits aufheben müssen.

OMNIA SUNT COMMUNIA

Alles sei allen gemeinsam

Dieser Text erschien im französischsprachigen Original am 4. März 2023 auf Tous Dehors