In unserer vierteiligen Serie widmen wir uns einer soziologischen Untersuchung der gesellschaftlichen Mitverantwortung an der Entstehung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in den 1990er Jahren in Deutschland.
In Gedenken an
Mahmud Azhar, 40 Jahre Andrzej Fratczak, 36 Jahre Amadeu Antonio, 28 Jahre Klaus-Dieter Reichert, 24 Jahre Nihad Yusufoglu, 17 Jahre Alexander Selchow, 21 Jahre Namentlich unbekannter Obdachloser, 31 Jahre Jorge João Gomondai, 28 Jahre Helmut Leja, 39 Jahre, Obdachloser Agostinho Comboio, 34 Jahre Samuel Kofi Yeboah, 27 Jahre Wolfgang Auch, arbeitslos, 28 Jahre Mete Ekşi, 19 Jahre Gerd Himmstädt, 30 Jahre Timo Kählke, 29 Jahre Ingo Ludwig Dreiköpfige Familie aus Sri LankaMatthias Knabe, 23 Jahre Dragomir Christinel, 18 Jahre, Asylbewerber Gustav Schneeclaus, 52 Jahre, Seemann Ingo Finnern, 31 Jahre, Obdachloser Erich Bosse Nguyen Van Tu, 24 Jahre Thorsten Lamprecht, 23 Jahre Emil Wendland, 50 Jahre, Obdachloser Sadri Berisha, 56 Jahre Dieter Klaus Klein, 49 Jahre, Obdachloser Ireneusz Szyderski, 24 Jahre, Erntehelfer Frank Bönisch, 35 Jahre, Obdachloser Günter Schwannecke, 58 Jahre, Obdachloser Waltraud Scheffler, 44 Jahre, Aushilfskellnerin Rolf Schulze, 52 Jahre, Obdachloser Karl-Hans Rohn, 53 Jahre, Metzger Alfred Salomon, 92 Jahre Silvio Meier, 27 Jahre, Drucker Bahide Arslan, 51 Jahre Ayse Yilmaz, 14 Jahre Yeliz Arslan, 10 Jahre Bruno Kappi, 55 Jahre, Zeitungsverteiler Hans-Jochen Lommatzsch, BaumaschinistSahin Calisir, 20 Jahre Karl Sidon, 45 Jahre, Parkwächter Mario Jödecke, 23 Jahre Mike Zerna, 22 Jahre Mustafa Demiral, 56 Jahre Hans-Peter Zarse, 18 Jahre Matthias Lüders, 23 Jahre, Wehrpflichtiger Jeff Dominiak, 25 Jahre Gürsün İnce, 27 Jahre Hatice Genç, 18 Jahre Hülya Genç, 9 Jahre Saime Genç, 4 Jahre Gülüstan Öztürk, 12 Jahre Horst Hennersdorf, 37 Jahre, Obdachloser Hans-Georg Jakobson, 35 Jahre Namentlich unbekannter Obdachloser, 33 Jahre Bakary Singateh (alias Kolong Jamba), 19 Jahre, Asylbewerber Ali Bayram, 50 Jahre, Unternehmer Eberhart Tennstedt, 43 Jahre Klaus R., 43 Jahre Beate Fischer, 32 Jahre, Prostituierte Jan W., 45 Jahre, Bauarbeiter Gunter Marx, 42 Jahre Piotr Kania, 18 Jahre Michael Gäbler, 18 Jahre Horst Pulter, 65 Jahre, Obdachloser Peter T., 24 Jahre, Bundeswehrsoldat Dagmar Kohlmann, 25 Jahre Klaus-Peter Beer, 48 Jahre Monica Maiamba Bunga, 17 Jahre Nsuzana Bunga, 7 Jahre Françoise Makodila Landu, 32 Jahre Christine Makodila Nsimba, 8 Jahre Miya Makodila, 14 Jahre Christelle Makodila, 8 Jahre Legrand Makodila Mbongo, 5 Jahre Jean-Daniel Makodila Kosi, 3 Jahre Rabia El Omari, 17 Jahre Sylvio Bruno Comlan Amoussou, 27 Jahre Patricia Wright, 23 Jahre Sven Beuter, 23 Jahre Martin Kemming, 26 Jahre Bernd Grigol, 43 Jahre, Geschäftsmann Boris Morawek, 26 Jahre Werner Weickum, 44 Jahre, Elektriker Achmed Bachir, 30 Jahre, Asylbewerber Frank Böttcher, 17 Jahre Antonio Melis, 37 Jahre Stefan Grage, 33 Jahre, Polizist Olaf Schmidke, 26 Jahre Chris Danneil, 31 Jahre Phan Van Toau, 42 Jahre Augustin Blotzki, 59 Jahre, Arbeitsloser Matthias Scheydt, 39 Jahre Goerg Jürgen Uhl, 46 Jahre Josef Anton Gera, 59 Jahre, Rentner Jana Georgi, 14 Jahre Erich Fisk, 59 Jahre, Obdachloser Nuno Lourenco, 49 Jahre, Zimmermann Farid Guendoul (alias Omar Ben Noui), 28 Jahre, Asylbewerber Egon Efferts, 58 Jahre, Frührentner Peter Deutschmann, 44 Jahre, Obdachloser Carlos Fernando, 35 Jahre Patrick Thürmer, 17 Jahre, Lehrling Kurt Schneider, 38 Jahre, SozialhilfeempfängerHans-Werner Gärtner, 37 Jahre Daniela Peyerl, 18 JahreKarl-Heinz Lietz, 54 Jahre Horst Zillenbiller, 60 Jahre Ruth Zillenbiller, 59 Jahre Jörg Danek, 39 Jahre Bernd Schmidt, 52 Jahre, obdachloser Glasdesigner Helmut Sackers, 60 Jahre Dieter Eich, 60 Jahre, Sozialhilfeempfänger Falko Lüdtke, 22 Jahre Alberto Adriano, 39 Jahre Thomas Goretzky, 35 Jahre, Polizist Yvonne Hachtkemper, 34 Jahre, Polizistin Matthias Larisch von Woitowitz, 35 Jahre, Polizist Klaus-Dieter Gerecke, 47 Jahre, Obdachloser Jürgen Seifert, 52 Jahre, Obdachloser Norbert Plath, 51 Jahre, Obdachloser ungeborenes Kind Enver Şimşek, 38 Jahre Malte Lerch, 45 Jahre, Obdachloser Belaid Baylal, 42 Jahre, Asylbewerber Eckhardt Rütz, 42 Jahre, Obdachloser Willi Worg, 38 Jahre Fred Blanke, 51 Jahre, Frührentner Mohammed Belhadj, 31 Jahre, Asylbewerber Axel Urbanietz, 27 Jahre Abdurrahim Özüdoğru, 49 Jahre Süleyman Taşköprü, 31 Jahre Dieter Manzke, 61 Jahre, Obdachloser Klaus-Dieter Harms, 61 Jahre Dorit Botts, 54 Jahre, Ladeninhaberin Habil Kılıç, 38 Jahre Arthur Lampel, 18 Jahre Ingo Binsch, 36 Jahre Jeremiah Duggan, 22 Jahre Klaus Dieter Lehmann, 19 Jahre Kajrat Batesov, 24 Jahre Ronald Masch, 29 Jahre, Dachdecker Marinus Schöberl, 17 Jahre Ahmet Sarlak, 19 Jahre, Lehrling Hartmut Balzke, 48 Jahre Andreas Oertel, 40 Jahre Enrico Schreiber, 25 Jahre Günter T., 35 Jahre Gerhard Fischhöder, 49 Jahre Thomas K., 16 Jahre Hartmut Nickel, 61 Jahre Mechthild Bucksteeg, 53 Jahre Alja Nickel, 26 Jahre Petros C., 22 Jahre Stefanos C., 23 Jahre Viktor Filimonov, 15 Jahre Aleksander Schleicher, 17 Jahre Oleg Valger, 27 Jahre Martin Görges, 46 Jahre Mehmet Turgut, 25 Jahre Oury Jalloh, 36 Jahre Thomas Schulz, 32 Jahre Ismail Yaşar, 50 Jahre Theodorus Boulgarides, 41 Jahre Mann, 44 Jahre Tim Maier, 20 Jahre Mehmet Kubaşık, 39 Jahre Halit Yozgat, 21 Jahre Andreas Pietrzak, 41 Jahre Andreas F., 30 Jahre Michèle Kiesewetter, 22 Jahre, Polizistin M. S., 17 Jahre Jenisa, 8 Jahre Peter Siebert, 40 JahreBernd Köhler, 55 Jahre Karl-Heinz Teichmann, 59 JahreHans-Joachim Sbrzesny, 50 Jahre Rick Langenstein, 20 Jahre Marcel W., 18 Jahre Marwa El-Sherbiny, 31 Jahre Sven M., 27 Jahre Kamal Kilade, 19 Jahre Duy-Doan Pham, 59 Jahre André Kleinau, 50 Jahre Burak Bektaş, 22 Jahre Klaus-Peter Kühn, 59 Jahre Karl Heinz L., 59 Jahre Andrea B., 44 Jahre Konstantin M., 34 Jahre Charles Werobe, 55 Jahre Luke Holland, 31 JahreDijamant Zabergja (20 Jahre), Armela Sehashi (14 Jahre), Sabina Sulaj (14 Jahre), Giuliano Josef Kollmann (19 Jahre), Sevda Dag (45 Jahre), Chousein Daitzik (17 Jahre), Can Leyla (15), Janos Roberto Rafael (15 Jahre) und Selcuk Kilic (15 Jahre) (staatlich anerkannt)Daniel Ernst, 32 Jahre, Polizist Ruth K., 85 Jahre Christopher W., 27 Jahre Walter Lübcke, 75 Jahre, Regierungschef in Kassel Jana L., 40 Jahre Kevin S., 20 Jahre Said Nessar El Hashemi, 21 Jahre, AuszubildenderSedat Gürbüz, 30 Jahre, Shishabar-Besitzer Gökhan Gültekin, 37 Jahre, Kellner Mercedes Kierpacz, 35 Jahre, Angestellte Hamza Kurtović, 21 Jahre, Auszubildender Vili Viorel Păun, 23 Jahre, Angestellter Fatih Saraçoğlu, 34 Jahre, Selbstständiger Ferhat Ünvar, 22 Jahre, AnlagenmechanikerKalojan Welkow, 32 Jahre, Wirt Gabriele R., 72 Jahre, Mutter des Attentäters
und alle Opfer rechter Gewalt!
1. Einleitung
Halle, Hanau, Kassel. Drei Orte, die heute symbolisch für den rechten Terrorismus in Deutschland stehen. Drei Orte in Ost- und Westdeutschland, die zeigen, dass Migrant*innen, Jüd*innen und politisch Andersdenkende in Deutschland nicht sicher sind. Drei Orte, die verdeutlichen, dass Terrorismus von rechts existiert und erstarkt.
Tausende Menschen gingen nach diesen Taten deutschlandweit auf die Straße, als Zeichen der Solidarität und Erschütterung. Eine positive, zivilgesellschaftliche Reaktion, die reaktiv hervorgerufen wurde. Ein politisches und gesellschaftliches Entsetzen ist fast programmatisch vorhersehbar. Tagesaktuelle Debatten über das „Warum?“ und „Wie konnte nur?“ sind kurzzeitig von gesellschaftlichem Interesse, verlieren jedoch schnell ihre Relevanz.
Rechter Terrorismus ist nicht neu in Deutschland. Der sogenannte „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) ist seit seiner Enttarnung im Jahr 2011 als rechtsterroristisches Netzwerk bekannt. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat wurden aus rassistischen Motiven ermordet, weil sie Migrant*innen waren, weil sie zu den „Anderen“ gehörten. Michèle Kiesewetter war eine Polizistin, das einzige Mordopfer ohne Migrationshintergrund. Es kommen neben Mord noch Überfälle und Anschläge hinzu. 2011 zeigte sich die Öffentlichkeit empört darüber, wie es möglich war, dass über Jahre hinweg der NSU mordend und ungehindert durch Deutschland ziehen konnte.
Der Staat, repräsentiert durch das Oberlandesgericht München (OLG München), verkündete am 11. Juli 2018, nach fünf Jahren Verhandlungszeit, das Urteil im NSU-Prozess und befand Beate Zschäpe, Andre Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Schultze schuldig. Sie tragen die Verantwortung für die Taten des NSU. Im ‚Namen des Volkes‘ wurde die Frage der Schuld beantwortet. Fünf Täter*innen, fünf Urteile, dennoch viele unbeantwortete Fragen. Wie konnte es soweit kommen, dass Menschen mordend durch Deutschland ziehen, ohne, dass der Staat eingreift, hart durchgreift? Wurde weggeschaut? Wollte nichts gesehen werden? Insgesamt fanden 438 Verhandlungstage statt. 438 Tage, die für die Untersuchung der individuellen Schuld der Angeklagten genutzt wurden. Doch wenn das Gericht ‚im Namen des Volkes‘ urteilt, muss auch dieses „Volk“ untersucht werden. Dies ist nicht Aufgabe des Gerichts, sondern der Wissenschaft und der kritischen Gesellschaft. Ist dieses „Volk“ in der Position, sich frei und andere schuldig zu sprechen? Oder besteht eine Korrelation zwischen den Taten, der Sozialisation der Täter*innen und der Gesellschaft? Sind die Täter*innen nicht Teil der Gesellschaft?
Die These, dass die gesamtdeutsche Nachwendegesellschaft durch ihr Ignorieren, Ausblenden und stilles Zustimmen den NSU erst ermöglicht hat, wird im Folgenden untersucht. Hat also die Gesellschaft mit gemordet, ohne den Abzug gedrückt zu haben?
Durch eine Annäherung und Betrachtung des NSU-Komplexes wird der Grundstein für die anschließenden soziologischen Analysen gelegt. Grundlegend wird die ostdeutsche Gesellschaft im wiedervereinigten Deutschland untersucht, um, auf Basis der historischen Ereignisse, die aufkommende gesellschaftliche Radikalisierung und Fremdenfeindlichkeit zu beurteilen. Hierfür werden sowohl gesamtgesellschaftliche als auch individuell sozialisierende Faktoren betrachtet. Aus den Ergebnissen der Analysen werden Lehren aus der Vergangenheit für die Zukunft gezogen.
Nicht jede*r Rechte ist ein Neonazi, aber jeder Neonazi ist rechts. In Debatten findet sich selten eine klare begriffliche Anwendung der Begriffe „rechts“, „rechtsextrem“ und „rechtsterroristisch“. Für eine wissenschaftliche Arbeit ist es von Nöten, eine definitorische Klarheit zu finden, um sachgenau argumentieren zu können. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff des „Rechtsextremismus“ als „Sammelbezeichnung für alle politischen Bestrebungen, die sich im Namen der Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit gegen die Minimalbedingungen eines demokratischen Verfassungsstaates richten“ (Pfahl-Traughber 2018, S.303) verwendet. Die entsprechenden Adjektive „rechtsextrem“ und „rechtsextremistisch“ werden synonym verwendet. Rechtsterrorismus steht „für die Formen von politisch motivierter Gewaltanwendung, die von nicht-staatlichen Gruppen gegen ein politisches System in systematisch geplanter Form mit dem Ziel des psychologischen Einwirkens auf die Bevölkerung durchgeführt werden und dabei die Möglichkeit des gewaltfreien und legalen Agierens zu diesem Zweck als Handlungsoption ausschlagen sowie die Angemessenheit, Folgewirkung und Verhältnismäßigkeit des angewandten Mittels ignorieren“ (Pfahl-Traughber 2010 zitiert nach Botsch 2019, S.9).
Diese Arbeit hat den Anspruch, als Teil der Aufklärungsarbeit über den NSU-Komplex verstanden zu werden. Das Urteil des Münchener Oberlandesgerichtes vom 11. Juli 2018 kann nicht als Schlussstrich unter dem NSU-Komplex gelten, sondern muss Ausgangspunkt für weitere, tiefere wissenschaftliche Auseinandersetzungen sein.
Die weit verbreitete Formulierung des „NSU-Trios“ wird in der vorliegenden Arbeit abgelehnt. Stattdessen wird die Vokabel des „NSU-Komplexes“ genutzt. Begründet ist dies darin, die drei Haupttäter*innen nicht isoliert zu betrachten, sondern direkte und indirekte Helfer*innen, Unterstützer*innen und Mitwisser*innen einzuschließen.
Es ist zu betonen, dass die Untersuchung der gesellschaftlichen Mitverantwortung nicht die Schuld der einzelnen Täter*innen mildern soll oder deren Taten rechtfertigt. Vielmehr geht es um ein Verständnis der Zusammenhänge, die dazu führten, dass rechtsterroristische Taten im wiedervereinigten Deutschland möglich wurden. Nur durch die kritische Untersuchung der Vergangenheit, kann das Handeln im Jetzt und in der Zukunft positiv beeinflusst werden.
Ja unter der Haut ist die Scheiße am brodeln
Berichte geschreddert und Bürger belogen
Schlaufe reißt ab, Lunte schießt hoch
Plötzlich sind wieder paar Ausländer tot
(Zugezogen Maskulin – Tanz auf dem Vulkan)
2. Terror von rechts – eine Einführung in den NSU-Komplex
Bekannt sind vor allem die Täter*innen. Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sind als das „Terror-Trio“ in aller Munde. Unbekannt sind die Opfer, zumindest für die gesellschaftliche Wahrnehmung. Ebenso unbekannt ist der Komplex um die Haupttäter*innen, Mittelsmänner und Mittelfrauen, die Taten und das Leben im Untergrund, ein Dickicht aus Neonazis, V-Männern und V-Frauen des Verfassungsschutzes, Behördenpannen und zivilgesellschaftlichem Versagen.
Zum Verständnis der soziologischen Untersuchungen braucht es ein Verständnis über den Themenkomplex NSU und dessen Tragweite. Da sich diese Arbeit hauptsächlich mit den Täter*innen und deren Taten beschäftigt, wird die Betroffenenperspektive nur kurz Erwähnung finden. Für eine ausführliche Betrachtung wäre eine gesonderte Arbeit von Nöten.
2.1 Ausführer des Terrors – die Haupttäter*innen des NSU
Es ist ein Netzwerk, das den Terrorismus des NSU mit unterstützt hat. Die Anschläge, Morde und Überfälle wurden jedoch immer von den drei Haupttäter*innen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ausgeführt. Es benötigt biografisches Material, um den Weg hin zum Terrorismus zu zeigen. Auf Grundlage der Ausführungen können dann soziologische Schlüsse abgeleitet werden.
Beate Zschäpe wurde am 02. Januar 1975 in Jena geboren. Zu ihrem Vater hatte sie nie Kontakt. Nach ihrer Geburt wurde sie von ihrer Großmutter betreut, später lebte sie mit ihrer Mutter bei deren Ehemann. Ende 1976, als die Ehe scheiterte, zog sie mit ihrer Mutter zurück zur Großmutter. Bis 1996 lebte sie dann mit ihrer Mutter in verschiedenen Wohnungen in Jena. 1991 schloss sie die Schule nach der 10. Klasse ab, konnte jedoch ihren Wunschberuf Kindergärtnerin nicht nachgehen, da sie keinen Ausbildungsplatz fand. Sie arbeitete dann vom 01. Juni 1992 bis 31. Oktober 1992 als Malergehilfin. Im November 1992 begann sie eine Ausbildung zur Gärtnerin. Nach ihrer Ausbildung fand sie keine Anstellung und arbeitete wieder als Malergehilfin. In den Jahren 1990/1991 ging sie eine Beziehung mit Uwe Mundlos ein, den sie aus ihrem Wohngebiet kannte. Sie trennten sich, als er zur Bundeswehr musste, sie blieben jedoch freundschaftlich verbunden. An ihrem Geburtstag, wenige Tage nach der Trennung von Mundlos, lernte sie Böhnhardt kennen, mit dem sie eine neue Beziehung einging. Diese soll bis zu dessen Tod bestanden haben. (vgl. Oberlandesgericht München, Urteil vom 11.07.2018, S.39ff.)
Seit ihrem Schulabschluss verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Zschäpe und ihrer Mutter stark. Es gab ständig wechselnde Partner der Mutter und einen hohen Alkoholkonsum. Zschäpe war mit ihrer persönlichen Situation äußerst unzufrieden, nicht nur durch den fehlenden Ausbildungsplatz. „Den Tiefpunkt erreichte das Verhältnis der Angeklagten [Beate Zschäpe, d. Verf.] zu ihrer Mutter, als es im Sommer 1996 für die Angeklagte völlig überraschend zu einer Zwangsräumung der gemeinsam genutzten Wohnung kam, weil die Mutter die Miete nicht mehr bezahlt hatte.“ (ebd., S.42)
Bis zum Prozess vor dem Oberlandesgericht München lagen keine strafrechtlichen Vorbelastungen gegen Beate Zschäpe vor. Ab 1991 sind Strafverfahren gegen sie aktenkundig, die jedoch eingestellt wurden. (vgl. ebd., S.42ff.)
Uwe Böhnhardt wurde am 01. Oktober 1977 in Jena geboren. Seine Schulzeit war von Heimaufenthalten, Schulwechseln und Straftaten geprägt, bis er „seine schulische Laufbahn nach acht Schuljahren mit dem Abschluss der 7. Klasse“ (Deutscher Bundestag 2013, S.75) beendete. Im Jahr 1993 befand er sich mehrere Monate in Untersuchungshaft, bis er einen Förderlehrgang im Zuge eines Berufsvorbereitungsjahres 1994 absolvierte. Es folgte eine Ausbildung zum Hochbaufacharbeiter, anschließend übernahm ihn sein Ausbildungsbetreib, musste ihn jedoch 1996 wegen Arbeitsmangels kündigen. Er lebte durchgehend, bis zum 26. Januar 1998, bei seinen Eltern, die als Lehrerin und Abteilungsleiter arbeiteten. (vgl. ebd.)
Am 11. August 1973 wurde Uwe Mundlos in Jena geboren. Er ist Sohn eines Professors für Informatik an der Fachhochschule Jena und einer Verkäuferin. Mundlos absolvierte die Mittlere Reife und begann 1990 eine Ausbildung als Datenverarbeitungskaufmann. Nach seiner Zeit bei der Bundeswehr und einer Periode der Arbeitslosigkeit, begann er 1995 das Ilmenau-Kolleg zu besuchen, um die Hochschulreife zu erlangen. (vgl. ebd.)
Alle drei, Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, sind in Jena aufgewachsen, lernten sich kennen, begingen gemeinsam Straftaten. Beispielhaft ist das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im September 1995, illegaler Waffenbesitz und das Anbringen eines Puppentorsos „mit einem gelben Judenstern und einer Spreng- und Brandvorrichtung“ (Deutscher Bundestag 2013, S.79) an einer Autobahnbrücke 1996, und Hausfriedensbruch 1997. (vgl. ebd. S.76ff.)
Drei Personen, drei verschiedene Leben und dennoch kreuzen sich ihre Wege im Jugendclub „Winzerclub“ im Jenaer Stadtteil Winzerla. Bereits in den 90er Jahren fallen sie durch rechte Taten und eine immer weiter steigende Radikalisierung auf. Winkelmann und Ruch (2019) resultieren folglich, dass „die Biographien des NSU […] typische Aspekte rechtsextremistischer Sozialisation“ (Winkelmann und Ruch 2018, S.72) zeigen. Diese These wird im Späteren erneut aufgegriffen.
„Für einen roten Ford Escort ließ sich Mundlos das Kennzeichen „J-AH41“ anfertigen – J für Jena und AH für Adolf Hitler, 1941 begann der „Ostfeldzug“ der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion. […] Gekleidet in ihren braunen SA-ähnlichen Uniformen, provozierten Böhnhardt und Mundlos auch in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. […] Das Trio nahm teil an rechten Demonstrationen in Saalfeld, Dresden und Rudolstadt. 1996 protestierten sie gegen den Prozess gegen den hessischen Holocaustleugner Manfred Roeder in Erfurt. Sie marschierten mit NPD-Kadern zum Gedenken an den Tod des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß in Worms mit.“ (Röpke und Speit 2013, S.69ff.)
Am 26. Januar 1998 durchsuchte die Polizei eine Garagenanlage in Jena. Vorausgegangen waren Bombenattrappen zwischen 1996 und 1997 an einer Autobahnbrücke, an der Gedenkstätte für Magnus Poser und vor dem Theater. Es wurde vermutet, dass die Garage „die geheime Bombenwerkstatt, in der Neonazis ihre Attrappen basteln“ (ebd., S.73) sei. Böhnhardt wohnte dieser Durchsuchung bei, durfte sich jedoch von dieser entfernen. Er rief seine Eltern an und verabschiedete sich und Zschäpe bat ihre Großmutter um Geld, in dem Wissen, was die Ermittler finden würden: „vier funktionstüchtige Rohrbomben ohne Zünder mit insgesamt 1,39 Kilogramm hochexplosiven TNT. Fahnder fanden zudem in einem gepackten Rucksack einen Aktenordner, in dem Mundlos penibel seine Korrespondenz mit rechtsextremen Gesinnungsgenossen und eine detaillierte Telefonliste sämtlicher Kontakte aus der Szene abgeheftet hatte.“ (ebd.) Sie fanden Unterschlupf in Chemnitz, versorgt durch Thomas Starke. Das Ende des normalen Lebens, der Anfang des Untergrunds, der Anfang des jahrelangen rechtsextremen Terrorismus.
2.2 Historie des Terrors – die Taten des NSU
Am 04. November 2011 wurde die Sparkasse in Eisenach überfallen. Ein Mensch wurde verletzt, 71.915 Euro erbeutet. Die mutmaßlichen Täter*innen sind Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Sie werden später gestellt, entziehen sich jedoch der Festnahme durch Suizid. Beate Zschäpe legte Feuer in ihrer Wohnung in Zwickau und verteilt das Bekennervideo. Es ist das Ende des NSU, seine Enttarnung. (vgl. Ramelsberger et al. 2018, S.12ff.)
Es werden im Folgenden nur die Taten ab dem 26. Januar 1998 beschrieben, dem Tag an dem Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt auf Grund einer polizeilichen Durchsuchung in den Untergrund gegangen sind. Für den Prozess der Radikalisierung sind auch historisch zeitigere Aspekte von Wichtigkeit, diese werden gesondert betrachtet.
Am 18. Dezember 1998 fand der erste Überfall auf einen Supermarkt statt. Weitere Überfälle haben im Oktober 1999, November 2000, Juli 2001, September 2002 und 2003, Mai 2004, November 2005, Oktober und November 2006, Januar 2007, September 2011 und schließlich im November 2011 stattgefunden. 15 Überfalle sind es in der Summe.
Hinzu kommen Anschläge im Juni 1999, Januar 2001 und Juni 2004. Die Kölner Probsteigasse (2001) und die Keupstraße (2004) stellen einen wichtigen Punkt dar, da diese Taten keine einzelnen Menschen verletzen oder töten sollten, sondern größtmögliche Opferzahlen im Fokus standen.
Enver Şimşek wird am 09. September 2000 ermordet. Im Juni 2001 folgen der zweite und dritte Mord, im August 2001 der Vierte. Im Februar 2004 wird Mehmet Turgut als fünfter erschossen. Im Juni 2005 schließlich die nächsten beiden. Mehmet Kubaşik und Halit Yozgat werden im April 2006 ermordet. Im April 2007 erfolgt der letzte Mord am Michèle Kiesewetter, einer Polizistin aus Heilbronn. Zehn Menschen wurden ermordet. (vgl. ebd.)
Es werden dem NSU 15 Überfälle, drei Anschläge und zehn Morde zugeschrieben. Dies ist die Bilanz von einem Jahrzehnt deutschem Terrorismus. Ein neuer Terrorismus, bei dem „die Tötung zum handlungsleitenden Motiv“ (Winkelmann und Ruch 2018, S.73) wurde.
Im Folgenden liegt der Fokus auf den Geschädigten, den Mordopfern. Es wird beschrieben, wer die Mordopfer waren und welche Auswirkungen die Morde hatten.
2.3 Geschädigte des Terrors – die migrantisch-deutsche Gesellschaft
Die Bundesrepublik Deutschland konnte die Würde der Menschen (Art. 1 GG) und deren körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) nicht schützen und garantieren. Sie wurden Opfer von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Terrorismus. Der Schutzapparat Grundrechte hatte versagt.
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligte oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 Abs. 3 GG)
Bereits in den 1980er Jahren sind Morde und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, wie am 22. August 1980 in der Hamburger Halkestraße, registriert. Es ist somit keine neue Entwicklung durch die Morde des NSU, sondern eine „rassistische Kontinuität“ (Kahveci und Pinar Sarp 2017, S.41) in Deutschland zu beobachten. Rassistische Taten, unabhängig von ihrer Stärke, haben immer gemein, dass sie „das Leben der Geflüchteten, der Migrant*innen nicht als wertvoll und schützenswert“ (ebd., S.40) einschätzen. Ziel war es, „die machtschwachen Einwanderer […] als Gruppe schwach zu halten“ (Quent 2018, S.153).
An den Morden an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat wird dies besonders deutlich. Sie wurden ermordet, weil sie für die Täter nicht „deutsch genug“ waren. Diese Taten sind „zentral im kollektiven Gedächtnis der türkischen Migrant*innen“ verankert, woraus ein „kollektiver Gedächtniszustand [resultierte], der dadurch charakterisiert war, dass jeder, der aus der Türkei stammte, Angst hatte, selber Opfer zu werden“ (Kahveci und Pinar Sarp 2017, S.50)
Semiya Şimşek verließ das Land, andere Hinterbliebene kämpfen für Aufklärung und Aufmerksamkeit. Was generell bleibt, ist eine Entfremdung der Menschen von der Gesellschaft, die es nicht schaffte, sie zu schützen. Die Parole „Getroffen hat es einen, gemeint sind wir alle!“ ist eingebrannt in die Gedächtnisse und hat so nachhaltig die migrantische Gesellschaft verändert, die sich selbst schützen muss, wenn der Staat es nicht kann.
In der Berichterstattung und in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit ist eine Kollektivierung und Entindividualisierung zu finden. Die Opfer sind Migrant*innen ohne Namen. Die Namen der Täter*innen kennt die Öffentlichkeit, die der Opfer nicht. Umso wichtiger ist die Etablierung einer „gesellschaftlichen Achtsamkeit für Minderheiten“ (ebd., S.53) und deren Gedenken.
Cottbus ’96, Baggys sind nicht Trend, doch Statement
Und hängen die zu tief bist du nicht schneller als ein Basy
Mit Vierzehn, Fünfzehn, Sechtzehn, jede Nacht nur im Gebüsch
Hoff‘ uns hör’n die Nachbarn nicht, hoff‘ wir werden nicht erwischt
Denn sonst gibt’s Schläge ins Gesicht
(Döll feat. Audio88 – Kultur)