3. Kaltes Deutschland
2020 jährte sich die deutsche Wiedervereinigung zum dreißigsten Mal. Die „meiner Kenntnis nach sofort und unverzügliche“ Neuregelung der Ausreise aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 09. November 1989 zeigt einen historischen Meilenstein in der deutschen Geschichte. Es sollte der Beginn eines Entwicklungsprozesses der blühenden Landschaften sein. Doch es kam eine Zeit der Unsicherheit, Ungewissheit und Wut.
Es ist voranzustellen, dass die folgenden Ausführungen nicht von einem ‚Sonderfall Ost‘ und einem ‚Normalfall West‘ ausgehen. Auf Grund der geografischen Verortung des NSU in den Osten des Landes liegt auf diesem besonderer Fokus. Die problematischen westdeutschen Entwicklungen sollen damit nicht beschönigt werden.
3.1 Ostdeutsche Nachwendegesellschaft der brennenden Landschaften
Im Jahr 2019 eröffnet sich ein neues, bisher unterdrücktes Bild der Nachwendezeit. Unter #baseballschlägerjahre berichten hunderte Menschen von ihren Erfahrungen mit rechtsextremer Gewalt, Einschüchterung und Alltagsterror. Hendrik Bolz, bekannt als Testo des Rap-Duos „Zugezogen Maskulin“, spricht davon, dass ihn in Stralsund „Sieg-Heil-Rufe […] in den Schlaf“ (Bolz 2019) wiegten. Der Rapper KUMMER aus Chemnitz verarbeitete seine Erfahrungen im Song „9010“:
„Wir liefen über die Straßen, getragen von Adrenalin
Liefen schnell wie die Hasen
Doch schneller als Autos waren wir nie
Born to be Opfer
Zeit zu kapieren
Dass da wo wir leben Leute wie wir eben einfach kassieren
Mit dem Mund voller Blut
Den Krankenwagen rufen
Mit Handylicht den ausgeschlagenen Zahn auf dem Asphalt suchen
Es war nie ein Kampf
Wir sind immer nur gerannt“(KUMMER – 9010)
Es war die rechte Anarchie und Gesetzlosigkeit, die vorherrschte, geführt nach dem Gesetz des Stärkeren, geleitet von „Nazigruppen, die nun fröhlich ihre ganz eigenen Regeln des Zusammenlebens einführten, Andersdenkende durch die Straßen und in den Westen jagten und rechte Hegemonie etablierten“ (ebd.). Wer die Täter*innen, die Nazigruppen, waren, wird bei Bolz sehr deutlich, wenn er schreibt:
„Faschos waren allgegenwärtige Begleiter meiner Kindheit, waren Kassierer im Supermarkt, Erzieher im Ferienlager, große Geschwister von Freunden, die auf dem Schulweg nett winkten, und sie bildeten Gruppen, die vor Haustüren und auf Spielplätzen lungerten und den öffentlichen Raum unangefochten beherrschten.“ (ebd.)
Sie waren Alltag, sie waren normal, sie waren bekannt, hatten Namen und Gesichter.
Erst Jahrzehnte später haben die Menschen den Mut, ihre Geschichte, ihr Erleben zu teilen. Es zeigt sich also, dass es ein weit verbreitetes Angstklima, das bis heute nachwirkt, und eine neue Qualität an Straftaten rechtsextremistischer Gewalt in den 90er Jahren in Deutschland gab. (vgl. Abbildung 1)
Diese alltägliche normalisierte Angst fand Höhepunkte, die für den Rest des Landes und die ganze Welt herauskristallisierten, was bereits im Kleinen bekannt war.
Mölln. Solingen. Rostock-Lichtenhagen. Drei Orte, die symbolisch für die 90er Jahre und das bestehende gesellschaftliche Klima sprechen. Es sind Orte des Mordes, des Hasses und des Rassismus, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben und bis heute als Sinnbild für den deutschen Nachwenderassismus stehen.
3.1.1 Hoyerswerda 1991
Der September 1991 ist entscheidend in der Betrachtung. Eine Woche lang fanden rassistische Übergriffe im sächsischen Hoyerswerda statt. Die Thomas-Müntzer-Straße wurde zum Sammelpunkt des „an die 500 Personen umfassenden Mobs vor dem Asylbewerberheim“ (Speit 2013, S.101). Es flogen Flaschen, Brandsätze und Pyrotechnik gegen das Haus, um das Ziel der Parole „Ausländer raus!“ zu verwirklichen. Es wurde kommuniziert, dass es erst ein Ende gäbe, wenn „sie alle weg sind“. Nach fünf Tagen entschlossen sich die Verantwortlichen, die 150 Bewohner*innen aus Rumänien und Vietnam mit Bussen zu evakuieren.
Quent fasst es zusammen, wenn er schreibt: „Parolen wie „Ausländer raus“ und „Deutsche zuerst“ boten Lösungsmöglichkeiten, die in Handlungen übersetzt werden konnten.“ (Quent 2019, S.177)
„Feststimmung herrschte, als sie weggefahren wurden. Vielen reichte das noch nicht. Wieder flogen Steine und Glassplitter verletzten den 21-jährigen Tam Le Thanh an einem Auge. […] Als die Busse schnell starteten, rief einer gegenüber Deutschlandradio aus, was wohl viele dachten: „Hoyerswerda ausländerfrei!“ (Speit 2013, S.101)
„Wir handeln, wo andere nur reden“ wurde zum Selbstverständnis. Unter dem „Gegröle und Beifall von Nachbarn und Schaulustigen“ (ebd.) stärkten sich Rechtsextreme und fanden Rückhalt in der Gesellschaft für ihre Taten, was einen Begeisterungs- und Nachahmungseffekt mit sich brachte, „der in der „Szene“ weithin als Signal verstanden“ (Bergmann und Leggewie 2010, S.307) wurde.
3.1.2 Rostock-Lichtenhagen 1992
Im Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen befand sich seit Dezember 1990 die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Dem Untersuchungsausschussbericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern von 1992 ist zu entnehmen, dass in den ersten Monaten rund 60 bis 70 Asylbewerber*innen ankamen. „Ab Mitte 1991 nahm die Zahl der Antragsteller, die nicht aus dem Länderausgleich kamen und daher aktenmäßig erfaßt waren, sondern ihren Asylantrag erstmals in Rostock gestellt haben (sog. Direktbewerber), drastisch zu“ (Landtag Mecklenburg-Vorpommern 1993, S.17). Diese hohen Zahlen führten dazu, dass das Haus überfüllt war. „Rund 200 Flüchtlinge campierten tagelang ohne lebensnotwendige Versorgung und sanitäre Anlagen im Dreck. Einige krochen unter die Balkone in den Erdgeschossen des Häuserblocks“ (Speit 2013, S.96). Daraus resultierten Streitigkeiten mit den Rostockern, über die Sauberkeit und das Benehmen. Im August schließlich schlossen sich hunderte Menschen zusammen, die begannen, die Bewohner*innen zu beschimpfen und anzugreifen. Das Landespolizeiamt beschrieb nach Beendigung der gewalttätigen Auseinandersetzungen die vorangegangenen Entwicklungen wie folgt:
„In der Bevölkerung von Rostock-Lichtenhagen gab es seit einigen Wochen zunehmenden Unmut und spürbare Beunruhigung und Ängste.
Die zum Teil hohe Belegungszahl mit zeitweise deutlicher Überbelegung der in diesem Stadtteil angesiedelten ZAST hatte dazu geführt, daß ganze Gruppen von Asylbewerbern – insbesondere Sinti und Roma aus Rumänien – die Rasenflächen rund um das Gebäude stark belagerten, da die zügige Abfertigung nicht ständig gewährleistet werden konnte und die Kapazität des Hauses erschöpft war.
Durch Belästigungen der Anwohner, Verunreinigung und dadurch bedingte störende hygienische Zustände kam es immer deutlicher zu Vorwürfen gegen die verantwortlichen Behörden.
Aus Presseberichten, Informationen und Hinweisen von Bürgern der Stadt Rostock war am 21.08.1992 zu entnehmen, daß eine Protestaktion von Anwohnern der ZAST in Lichtenhagen am nachfolgenden Tage stattfinden sollte. Diese Aktion sollte die Zielstellung der Verlagerung der ZAST aus diesem Stadtteil haben. […]
Bei Bekanntwerden der oben aufgeführten Demonstration wurde von der örtlich zuständigen PD Rostock vorsorglich 1 Zug der BPA angefordert und für die Dauer der Veranstaltung in Bereitschaft gelegt, da nicht ausgeschlossen werden konnte, daß es im Verlaufe der Demonstration zu Gewalttätigkeiten kommen könnte. […]“ (Landtag Mecklenburg-Vorpommern 1993, S.35)
Im weiteren Verlauf des Berichtes wird von „militanten Jugendlichen“ (ebd. S.36) und „Störern“ (ebd.) berichtet, die über Tage hinweg „Gewalttätigkeiten durch Steinwürfe, Signalraktenabschuß und Molotow-Cocktails verübt“ (ebd.) haben. Speit hingegen spricht von einem „Mob“ (Speit 2013, S.97) und „Neonazis“ (ebd.). Fast ritualisierend versammeln sich Abend für Abend hunderte Menschen, um Polizisten anzugreifen, Steine zu schmeißen und zu versuchen, das Sonnenblumenhaus anzuzünden. Schließlich, am 23. August, eskalierte die Situation vollständig.
„Die Störer schleuderten Steine und Molotow-Cocktails gegen die ZAST und griffen die Einsatzkräfte der Polizei massiv an. Sie steckten 2 FuStkw an, die ausbrannten, und beschädigten 6 zivile Kraftfahrzeuge. Die Handlungen wurden durch ca. 1 000 anwohnende Bürger, zum Teil auch aktiv, unterstützt. Durch den sofortigen Einsatz der Polizeikräfte konnte verhindert werden, daß die offenbar beabsichtigte Stürmung des Hauses und der direkte Angriff auf die Asylanten nicht gelang. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei zogen sich über mehrere Stunden hin. Sie wurden schließlich in den frühen Morgenstunden nach dem Einsatz von herangeführten WaWe 9 beendet.“ (Landtag Mecklenburg-Vorpommern 1993, S.36)
Speit spricht von einer Überforderung der Einsatzleitung, die durch wiederholtes Zurückziehen die Menschen in der Aufnahmestelle schutzlos zurückgelassen habe. (vgl. Speit 2013, S.97) Am 24. August wurden die Flüchtlinge evakuiert, „die Menschenmenge vor dem Haus war in aufgeheizter Stimmung, sie feierte das Fortbringen als ihren Erfolg“ (ebd., S.98).
Ein weiteres Mal erlebten sich die Demonstrant*innen als Wegweiser, die es durch ihren Protest und die „Direktbekämpfung von ausländischen Personen“ (Heitmeyer 1992, S.210) geschafft haben, ihren Willen gegenüber der „powerlessness of the police“ (Ohlemacher 1994, S.225) und dem Staat durchzusetzen. Ausgehend von einer Fremdenfeindlichkeit haben sie gewalttätige Methoden als „efficient instrument“ (ebd.) gewählt, um den Staat in Zugzwang zu versetzen, die Menschen zu evakuieren.
3.1.3 Mölln 1992
In der Nacht vom 13. auf den 14. November 1992 warfen zwei Neonazis, die ihre Tat mit „In der Mühlenstraße brennt es! Heil Hitler!“ der Feuerwehr meldeten, mehrere Molotowcocktails in ein Wohnhaus. Drei Menschen, Yaliz Arslan, Ayşe Yilmaz und Bahide Arslan sterben. Es war der erste rechtsextreme Brandanschlag in der Bundesrepublik, durch den Menschen ermordet wurden. Andreas Speit folgend, kann festgestellt werden: „Mölln war eine Zäsur.“ (Speit 2013, S. 105) Eine Zäsur, die eine neue Qualität der Gewalt darstellte, jedoch einen gesellschaftlichen „shock effect generated by murder“ (Ohlemacher 1994, S.228) verursachte. Deutlich wird dieser in den statistischen Erhebungen, die zeigen, dass „the figures decline after the Mölln arson-attack murders“ (ebd., S.229).
Ohlemacher interpretiert die Zahlen als „Waves of Violence“ (ebd., S.226), die in enger Verbindung mit den gewalttätigen Ausschreitungen in Hoyerswerda, Rostock und Mölln stehen.
„It is impossible to ignore the chronological proximity between the first two peaks and the violent attacks carried out in Hoyerswerda (17th September 1991) and Rostock (22nd-27th August 19921) respectively. […] Both incidents were widely broadcast with intensive media reporting. It is also possible […] that these reports may have triggered off further violent acts. It is possible that Hoyerswerda acted as an amplifying influence on what was already a rising number of offences in the late summer and autumn of 1991. Similarly, a gentle upward trend is discernible before the Rostock riot, though the trend is not unequivocal as it was one year before.“ (Ohlemacher 1994, S.228f.)
Es sind Angriffe, Taten und Meinungen, die Rassismus in Deutschland verbreiteten und normalisierten. Die Politik trägt auch eine Teilverantwortung an der Normalisierung und Förderung der gesellschaftlichen Ausländerfeindlichkeit.
Der Lynchmob ist krank vor Neid
Auf das 5-Sterne-Hotel im Asylantenheim(K.I.Z. – Boom Boom Boom)
3.1.4 Asylrechtsverschärfung 1993
Artikel 16a des Grundgesetzes schreibt das Recht auf Asyl fest und regelt im Weiteren die Ansprüche und Erfordernisse für den Anspruch auf Asyl.
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ (Art.16a Abs. 1 GG)
Seit Anfang der 1990er Jahre wurde eine Verschärfung des Asylrechtsartikels diskutiert und gefordert. Der Weg dahin lässt sich in drei Sätzen der „Bundeszentrale für politische Bildung“ erklären:
„Anfang der 1990er Jahre stiegen die Asylbewerber*innenzahlen in Deutschland auf bis dahin ungekannte Höhen. Eine Welle rassistischer und ausländerfeindlicher Gewalttaten ging durch Deutschland. Die Politik schränkte schließlich das Asylrecht ein.“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2013)
Vorausgegangen waren Debatten über das Thema Asyl, die durch „von der Großen Koalition aus CSU/CDU/FDP/SPD und fast allen bürgerlichen Medien ins Leben gerufen“ (Wetzel 2015, S.38) wurden. Helmut Kohl sprach vom „Staatsnotstand“ und der SPIEGEL schrieb „Das Boot ist voll“. Zeil war es, „dem Missbrauch des Asylrechts wirksam einen Riegel vorzuschieben“ (Helmut Kohl 1992 zitiert nach Wetzel 2015, S.39). Die SPD sprach davon, dass Deutschland „nicht der Lastesel für die Armen der Welt sein“ (Georg Kronawetter 1992 zitiert nach Wetzel 2015, S.39) könne.
Ein Prozess der Normalisierung und der Übernahme rechtsextremistischer Gedanken und Forderungen ist klar zu erkennen. Statt die Ursachen anzugehen, werden „Schnittmengen dieses Gedankengutes übernommen“ (Heitmeyer 1992, S.209) und salonfähig gemacht.
Wetzel sieht darin eine politische Benzinspur, die „nur noch entzündet werden“ (Wetzel 2015, S.39) müsse und durch die folgenden Anschläge und Progrome bestätigt wurde. In der finalen Abstimmung am 26. Mai 1993 wurde durch „Neonazis und anständige Deutsche, mit Springerstiefeln und im Anzug, mit Hass und verständlicher Sorge […] unter Schirmherrschaft einer großen Koalition […] die De-Facto-Abschaffung des Asylrechts“ (ebd., S.41) beschlossen. Somit wurde die Ursache für die rechtsextremen Gewalttaten an die Anzahl der Asylbewerber gebunden. Dargestellt wurde es als Bekämpfung der Ausländerfeindlichkeit, war jedoch nur eine „Umwegbekämpfung […] mittels Ausländerrückführung bzw. rigiden Ausländerrechts“ (Heitmeyer 1992, S.210). Das Problem des existierenden Rechtsextremismus wurde verstärkt und unterstützt.
Für Quent (2018) haben diese Prozesse der „Gewalt, Gegengewalt und Repression zur Radikalisierung des NSU beigetragen“ (Quent 2018, S.145).
All diese Ausschreitungen entstanden nicht im luftleeren Raum. Sie sind das Resultat eines multidimensionalen Entwicklungsprozesses, gefördert durch das in „der Gemeinschaft der Gruppe sich immer erneuernde Klima der Enge, der Häme, der Bosheit und des Grolls, aus dem die Kation eruptiv hervorbricht“ (Bergmann und Leggewie 2010, S.310),befeuert durch „die implizite Ermunterung über spezifische Thematisierungen umstrittener politischer Probleme in der öffentlichen Kommunikation“ (Heitmeyer 1992, S.205) und durch einen „‘sense of success‘ in the face of the weakness shown by controlling government authorities“ (Ohlemacher 1994, S.225).
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer gilt als führender Wissenschaftler im Bereich Erforschung des Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Er trat 1992 aus der SPD aus, als Reaktion auf deren Asylpolitik. Seiner Theorien wird sich im Folgenden unter anderem bedient, um die Entwicklungen der 90er Jahre zu untersuchen. Es wird geschaut, welche Ursachen zu einer Radikalisierung führten und führen und welchen Einfluss diese auf die Entstehung des NSU hatten.