Am 4. April 2012 hielt Dr. Udo Engbring-Romang in der Schelling-Hausbar einen Vortrag zum Thema „Antiziganismus im kulturellen Code europäischer Gesellschaften“. Engbring-Romang ist Marburger Historiker und Politologe. Er sitzt im Vorstand der „Gesellschaft für Antiziganismusforschung e.V.“.
Antizig-Watchblog: Guten Tag Udo Engbring-Romang, hast Du von unserem Watch-Blog „http://antizig.blogsport.de“ schon einmal gehört?
Engbring-Romang: Ja.
Antizig-Watchblog: Du beschreibst Antiziganismus als kulturellen Code. Könntest Du kurz erläutern, was Du darunter verstehst?
Engbring-Romang: Im Grunde ist ein kultureller Code eine Selbstverständigung und Selbstverständlichkeit der Allgemeinheit, die nicht hinterfragt wird. Alle wissen quasi, was gemeint ist., wenn über „Zigeuner“ oder deren Konstruktion gesprochen wird.
Antizig-Watchblog: Wo liegen die Gemeinsamkeiten zum Antisemitismus und wo sind die Unterschiede?
Engbring-Romang: Das hängt vom Antisemitismus-Begriff ab. Ich würde Antisemitismus als rassistischen Antijudaismus definieren. Die Gemeinsamkeit ist, dass eine Gruppe konstruiert wird, gegen die ideologisch und politisch-praktisch vorgegangen wird und verschiedene Ausprägungen hat, vom traditionellen, religiösen bis zum rassistischen Antiziganismus.
Der rassistische Antiziganismus ist meines Wissens sogar älter als der rassistische Antisemitismus.
Antizig-Watchblog: In der Ankündigung heißt es „Antiziganismus findet sich bei der politischen Rechten, bei der politischen Linken und auch in der gesellschaftlichen Mitte“. Hättest Du ein Beispiel für Antiziganismus von links?
Engbring-Romang: Es gibt in allen politischen Richtungen massive Vorurteile gegen Sinti und Roma, auch von links. Was u.a. mit dem Arbeitsbegriff im Marxismus zu tun hat, der im Realsozialismus zu neuen Ehren kam. Es gibt z.B. bei Marx den Begriff „Lumpenproletarier“.
In realsozialistischen Ländern gab es deswegen auch einen extrem hohen Assimilierungsdruck, ja im Grunde einen Assimilierungszwang. Weswegen polnische Roma in den 1950ern in die Bundesrepublik ausreisten.
Das Leben in den realsozialistischen Ländern hatte für Roma sowohl Nachteile, als auch Vorteile und Chancen. In Jugoslawien gelang Roma zum Beispiel ein teilweise gesellschaftlicher Aufstieg.
In solchen Ländern wurde die Existenz von Antiziganismus von der politischen Elite abgestritten.
In Deutschland gab es in der KPD auch in den 1920er und 1930er Jahren Assimilations-Forderungen und die hessische SPD hat während der Weimarer Republik im Volksstaat ein „Zigeuner-Gesetz“ mitverantwortet.
Antizig-Watchblog: Du hast zum Thema „Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950“ gearbeitet. Gab es hier ähnliche Kontinuitäten wie in Bayern?
Engbring-Romang: Diese Kontinuität bezieht sich auf ganz Deutschland seit dem Kaiserreich. Hessen war ein Land und der größere Teil gehörte zu Preußen. Für mich ein Beispiel, wie in zwei Ländern, Preußische Provinz und Hessen-Darmstadt, fast schon prototypisch „Zigeunerpolitik“ betrieben wurde. Die antiziganistische Politik von Bayern wurde häufig von anderen Ländern übernommen.
Es gab aber auch regional bestimmte Besonderheiten.
Erst 1936 bis 1938 unter den Nazis wurde dieses Politik zentralisiert.
In Frankfurt gab es in der NS-Zeit „Zigeunerlager“, aber bereits 1929 gab es in der preußischen Kommune Frankfurt Zwangslager. Die Länder Preußen, Baden, Hessen und Bayern spielten eine besondere Rolle in der „Zigeunerpolitik“ sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik.
Antizig-Watchblog: Du hast ebenfalls zu der Thematik „Die Stellung der Kirchen zu den deutschen Sinti und Roma“ geforscht. Was hast Du herausgefunden und wie verhält sich die Kirche heute zu diesem Kapitel in ihrer Vergangenheit?
Engbring-Romang: In der frühen Neuzeit haben sich die Kirchen überhaupt nicht um Sinti und Roma bemüht. Sie wurden nur in den kirchlichen Taufbüchern als „Zigeuner“ geführt bis 1875 zur Einführung der Standesämter. Erst in den 1890er Jahren haben sich einzelne evangelische Geistliche um die Mission bemüht.
Während des Nationalsozialismus hat sich die katholische Kirche nicht für katholische Sinti eingesetzt, um die Kirche nicht zu gefährden. Die Nationalsozialisten bzw. die Rassenforscher arbeiteten bei der Verfolgung zum Beispiel mit den kirchlichen Taufbüchern.
Wer sich hier genauer informieren will, sollte die Arbeiten von Antonia Leugers sehr empfehlen.
Es gab dann seit den 1960ern eine zentrale „Zigeunerseelsorge“ der katholischen Kirche, die vor drei Jahren auf Betreiben von Prof. Wilhelm Solms, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für Antiziganismusmus, in „Seelsorge für Sinti und Roma“ umbenannt wurde.
Seit Ende der 1970er Jahre gab es dann verschiedene Denkschriften in der evangelischen Kirche. Es gab also eine gewisse Neuorientierung.
Lange Zeit wurden Sinti und Roma von den Kirchen antiziganistisch behandelt, nämlich wie unmündige Kinder.
Antizig-Watchblog: In Hessen gibt es auch Jenischen, die häufig mit „Zigeuner-Bildern“ beschrieben werden. Welches Schicksal hatte diese Minderheit?
Engbring-Romang: Das ist nicht ganz mein Thema: Die Jenischen spielen in Hessen in der öffentlichen Aufmerksamkeit fast keine Rolle.
Einzelne Jenische, auch ganze Familien, wurden im Nationalsozialismus als „Zigeuner“ verfolgt. Als „nach Zigeunerart Umherziehende“ wurden besonders einzelne Männer der Jenischen in Konzentrationslager, aber in der Regel nicht in Vernichtungslager deportiert. Die Jenischen, die als „Zigeuner“ definiert wurden, wurden aber ermordet. Für die Jenischen als solche gab es Pläne nach dem Ende des Weltkriegs.
Antizig-Watchblog: Was kann der normale Mensch gegen Antiziganismus tun? Was würdest Du Dir wünschen?
Engbring-Romang: Ich wünsche mir erst einmal, dass sich der Einzelne Gedanken macht. Wenn man „Zigeunerbilder“ hat, dann sollte man sich klar machen, dass man eben nur Bilder benutzt und sie „abschalten“.
Im persönlichen Umgang mit Sinti und Roma sollte das Individuum zählen und nicht die Gruppenzugehörigkeit.
Ich wünsche mir natürlich, dass wir möglichst viele Vorurteile beiseite schieben.
Antizig-Watchblog: Wir bedanken uns für das Interview!