Corona in Neukölln: Warum der Umgang mit den Hausbewohnern rassistisch ist.

Es klingt wie eine von vielen Geschichten dieser Tage: In einem Neuköllner Wohnblock sind viele Menschen am Coronavirus erkrankt. Der Block steht unter Quarantäne. Wäre da nicht der eine Satz, der so oder so in den meisten Berichten vorkommt:

„Was sie gemeinsam haben: einen hohen Anteil rumänischer Bewohner“, schreibt Bild.

„Dort leben überwiegend Roma-Familien“, schreibt die Lokalzeitung Morgenpost.

„Viele der Infizierten (…) haben einen rumänischen Hintergrund“, schreibt der Tagesspiegel.

Ist es wichtig, welche Ethnie ein Corona-Infizierter hat? Eher nicht. Trotzdem ist Neukölln nicht der erste Fall dieser Art. Auch in Hagen, Göttingen und Magdeburg hat es Corona-Infektionen in Wohnhäusern gegeben, in denen viele Roma-Familien wohnen. Immer wieder ist die Rede von Großfamilien, immer wieder ist die Herkunft ein Thema. Oft, sogar im Spiegel, ist das Wohnhaus in Neukölln zu sehen. In einer Bilddatenbank findet sich sogar ein Foto der Klingelschilder, auf dem die Namen der Bewohnerinnen und Bewohner klar zu erkennen sind. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma warnte davor, dass in Europa „Roma erneut als Sündenböcke von Nationalisten und Rassisten mißbraucht werden“.

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Die Legende von den „Großfamilien“ am Corona-Hotspot

Göttingen kämpft seit Tagen mit einem Corona-Ausbruch. Zunächst heißt es, 170 Bewohner*innen eines Hochhauses seien betroffen und hätten sich während des islamischen Zuckerfestes angesteckt. „Großfamilien“ hätten zusammen gefeiert und sich unter anderem beim Moscheebesuch und in einer Shisha-Bar angesteckt. Medien und Behörden machen vor allem muslimische Roma-Familien verantwortlich. Eine Geschichte, die bei näherer Betrachtung auseinanderfällt.

In Göttingen dreht sich zur Zeit alles um das „Iduna“-Zentrum. Ein Hochhauskomplex mit 700 Bewohner*innen, der als „sozialer Brennpunkt“ gilt. Erbaut wurde das Zentrum in den 70er Jahren und galt zunächst als Modellprojekt, mit Wohnraum für Studierende und Familien. Doch die Verantwortlichen verloren recht schnell das Interesse an dem Gebäude, das Umfeld fing an zu verfallen. In den 1990er Jahren wurden hier Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien untergebracht. Mittlerweile leben im Komplex viele migrantische Bewohner*innen, Geflüchtete und andere Menschen mit wenig Einkommen. Diese Wohnungen werden besonders gern an Empfänger*innen von Transferleistungen vermietet. So bekommen die Besitzer*innen auch für kleine und heruntergekommene Wohnungen gutes Geld von den Behörden, ohne sich um Verbesserungen kümmern zu müssen.

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Hinter Gittern

Als die Stadt Göttingen einen Hochhauskomplex an der Groner Landstraße 9 abriegelte, war das Virus nur der vorgeschobene Grund. Von Stefan Walfort

Hauptsache, dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) schmeckt seine Currywurst. Möge sie von Tönnies sein, hofft man als Bewohner des Hochhauses, das der Göttinger Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) nach Bekanntwerden von etwa 100 positiv ausgefallenen Tests auf das neuartige Coronavirus unter Vollquarantäne stellte.

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Solidarität mit den Bewohner_innen der Groner Landstraße 9

Göttinger_innen werden seit Wochen in Presse und „sozialen“ Medien mit Dreck beworfen. Natürlich trifft es nicht die Mitte der Gesellschaft, sondern jene, von denen man davon ausgeht, dass sie sich nicht wehren können.

Vor ein paar Wochen gab es einen größeren Corona-Ausbruch in einem Haus, das in Göttingen als „sozialer Brennpunkt“ gilt. Wir hatten die Darstellungen der Stadt und die mangelhafte journalistische Qualität der Berichterstattung sowie deren Folgen kritisiert. Nun hat es die Bewohner_innen der Groner Landstraße 9 getroffen.

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Frankfurter Jugendamt entzieht Sexarbeiterin mit Roma-Hintergrund ihr neugeborenes Kind

Doña Carmen e.V. protestiert gegen institutionellen Rassismus
 

Frau S., eine seit zwei Jahren in Frankfurt lebende und tätige rumänische Sexarbeiterin mit Roma-Hintergrund hat am 22.06.2020 in der Frankfurter Uni-Klinik ihre Tochter A. zur Welt gebracht – und das Kind umgehend vom Jugendamt abgenommen bekommen!

Doña Carmen wirft der Stadt Frankfurt diesbezüglich institutionellen Rassismus vor und fordert die sofortige Rückgabe des Kindes an die Kindsmutter. Offenbar reichen die Merkmale „Sexarbeiterin / Migrantin / Roma“ heute wieder aus, rechtliche Verpflichtungen außer Acht zu lassen und mit erschreckender Rücksichtlosigkeit und Kaltblütigkeit gegen Menschen vorzugehen, die man aus diesem Land lieber heute als morgen herausgedrängt sieht.

Was ist passiert?

Frau S. geht seit zwei Jahren in Frankfurt der Prostitution nach. Sie ist als Sexarbeiterin, als solche registriert und hat den entsprechenden obligatorischen Hurenpass. Sie zahlt täglich (!) ihre Steuern nach dem von den Finanzbehörden ohne gesetzliche Grundlage seit Jahren betriebenen so genannten „Düsseldorfer Verfahren“.

Aufgrund des seit nunmehr drei Monaten geltenden behördlichen Verbots des Betriebs von Prostitutionsstätten wegen der Corona-Krise hat Frau S. vorübergehend Unterkunft in einem einfachen Hotel nehmen müssen. Die Kosten dafür hat sie über fast drei Monate hinweg aus ihren Ersparnissen bestritten.

Erst am 2. Juni 2020, als ihre Ersparnisse aufgebraucht waren, wandte sich Frau S. an Doña Carmen e. V. und stellte mit Unterstützung von Doña Carmen einen ALG-II-Antrag, der auch die Übernahme der Mietkosten vorsah.

Doch entgegen den gesetzlichen Vorgaben des von der Bundesregierung beschlossenen vereinfachten ALG-II-Verfahrens, „schnell und unbürokratisch“ zu handeln, verlangte das Frankfurter Jobcenter erst am 5. Juni 2020 und anschließend nochmal am 15. Juni 2020, weitere Unterlagen nachzureichen. Geld floss in dieser Zeit nicht. Die Corona-Maxime „erst zustimmen, dann prüfen“, wie sie in anderen ALG-II-Verfahren anstandslos praktiziert wird, wurde hier nicht angewandt.

Zudem hat das Jobcenter Frau S. aufgefordert, sich wegen einer preisgünstigen Unterkunft mit der Abteilung „Besondere Dienste 3“ in Verbindung zu setzen, was mit Unterstützung von Doña Carmen auch geschah. Am 18. Juni 2020 beantragte Frau S. einen Vorschuss vom Jobcenter, worauf sie allerdings bis heute keine Antwort erhielt.

Als Frau S. am 22. Juni 2020 in der Frankfurter Uniklinik eine gesunde Tochter zur Welt brachte, wurde ihr das Neugeborene unmittelbar nach der Geburt auf Drängen des Frankfurter Jugendamts angeblich wegen „dringender Gefahr für das Wohl des Kindes“ (Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII) abgenommen.

Als Gründe für die seitens des Jugendamts vorgenommene „Anordnung des sofortigen Vollzugs“ wurde kurz und knapp „unklare Wohnverhältnisse und finanzielle Situation der Kindesmutter“ angeführt.

Doch niemand vom Jugendamt hielt es für nötig, die Wohnung der Mutter aufzusuchen und in Augenschein zu nehmen. Niemand vom Jugendamt setzte sich mit dem Jobcenter in Verbindung, um sich im Benehmen mit dem Jobcenter um die schon vor drei Wochen beantragte Finanzierung der Wohnung zu bemühen, worauf die Frau einen Rechtsanspruch hat. Anstatt seiner gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen und Frau S. und ihrem Neugeborenen eine kostengünstige Unterkunft in einer Mutter-Kind-Einrichtung zuzuweisen, hielt es das Jugendamt stattdessen für angebracht, der verzweifelten Mutter ihr neugeborenes Kind abzunehmen, es in eine Kinderklinik bringen zu lassen und der Mutter zu verdeutlichen, man würde ihr ein Ticket nach Rumänien geben, dann könne sie ihr Kind wiederbekommen.

Die Behauptung der Frankfurter Jugendbehörde, ein „milderes gleich geeignetes Mittel kommt vorliegend nicht in Betracht“, kann vor diesem Hintergrund nur als bequeme und billige Rechtfertigung für die eigene Untätigkeit zugunsten der Mutter angesehen werden. Mehr noch: Das gegen die Mutter gerichtete Zusammenspiel von Krankenhaus, Jobcenter und Jugendamt steht für einen institutionalisierten Rassismus, der sich bezeichnenderweise gegen eine migrantische Sexarbeiterin mit Roma-Hintergrund richtet.

Die rassistische Diskriminierung von Angehörigen der Roma kennt man aus der Zeit des Nationalsozialismus. Die Stadt Frankfurt wäre gut beraten, ein kritisches Augenmerk auf derartige Praktiken zu richten und auszuschließen, dass sich ein solcher Umgang mit Roma-Frauen kein weiteres Mal wiederholt.

Doña Carmen e.V. fordert die sofortige Herausgabe des Kindes an seine Mutter und die umgehende Zurverfügungstellung einer angemessenen Unterkunft für Frau S.

Das Jobcenter hat umgehend das der Frau zustehende ALG II auszuzahlen!

Dem Rassismus keine Chance!

Doña Carmen e.V., Pressemitteilung, 25. Juni 2020

Quelle: Frankfurter Info

Stand: 06.07.2020

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Hetze gegen Roma nach Corona-Ausbruch in Berlin: „Als ob die Menschen ein Verbrechen begangen hätten“

Seitdem über Corona-Fälle berichtet wurde, sehen sich Roma in einem Berliner Wohnblock rassistischen Anfeindungen ausgesetzt. Der Prokurist der Wohnungsgesellschaft ärgert sich über die Stigmatisierung der Betroffenen.

DOMRADIO.DE: Bringen Sie uns kurz auf den Stand der Dinge. Was genau ist in der Harzer Straße los? Steht da nun der ganze Wohnblock unter Quarantäne, wie berichtet wurde?

Benjamin Marx (Prokurist der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft): Die Berichterstattung über die Harzer Straße ist fremdbestimmt. Man hat hier eine ganz andere Wahrnehmung. Die Häuser selber, die Wohnblocks, stehen nicht unter Quarantäne. Unter Quarantäne stehen lediglich die Haushalte, in denen Menschen positiv auf Corona getestet wurden.

DOMRADIO.DE: Was ärgert Sie genau daran, wie die Boulevardpresse über die Corona-Fälle in der Harzer Straße schreibt?

Marx: Die Boulevardpresse hat hier etwas entdeckt und denkt, man kann die Menschen mit dem Thema stigmatisieren. Die Menschen hier sind in Quarantäne. Sie können nicht einmal mehr ihre Fenster öffnen. Denn wenn sie ihre Fenster öffnen, dann werden sie sofort von Journalisten mit Fragen konfrontiert. Es ist extrem schwierig. Es ist so, als ob die Menschen ein Verbrechen begangen hätten. Sie sind schlicht an einem Virus erkrankt, sonst nichts.

Erstaunlich ist auch, dass man gerade darüber spricht. Wir haben hier 57 positive Testergebnisse in 137 Wohnungen. In Berlin gibt es etliche tausend positive Testergebnisse, über die kein Mensch spricht.

DOMRADIO.DE: Das ist das Schüren alter Klischees: Roma gleich schmutzig, gleich krank und daran sind sie auch noch selber schuld?

Marx: Ja, das ist tatsächlich so. Der „Cicero“ (politische Magazin, Anm d. Red.) hat ganz aktuell einen Aufmacher über „Roma-Bashing“ gemacht. Weil man keinen Müll an den Häusern gefunden hat, wurden sie von einer öffentlichen Grünanlage, an der sich Müll gestapelt hat, fotografiert.

DOMRADIO.DE: Sie haben mit den Betroffenen gesprochen. Wie geht es den Menschen, wie gehen sie mit der Situation um?

Marx: Die Menschen sind total verunsichert, weil auch in der Pressekonferenz des Bezirksamts davon gesprochen wurde, dass man ja auch mit Hundertschaften diese Quarantäne durchsetzen kann. Dinge, die absolut nicht notwendig sind. Die Menschen gehen ganz verantwortlich damit um. Ich war mit dem Bezirksbürgermeister, Martin Hikel, vor Ort gewesen. Da standen alle Bewohner vorbildlich in einem Mindestabstand von zwei Metern zueinander, alle trugen eine Maske. Herr Hikel hat sich für die Kommunikation mit den Menschen ganz formal entschuldigt.

DOMRADIO.DE: Meinen Sie, dass es schon etwas gebracht hat, dass Sie auch Kommunalpolitiker wie den Bezirksbürgermeister getroffen haben? 

Marx: Ja, das hat eine Menge Entspannung gebracht. Es wurde ja auch berichet, dass die Roma angeblich Eier oder Tomaten geworfen haben. Ich kann verstehen, dass man aus Verärgerung so etwas macht. Aber man soll bitte keine Bilder liefern, die andere erwarten.

DOMRADIO.DE: Was zeigt dieser Fall über den Umgang der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit den Roma an sich?

Marx: Ja, das zeigt, dass die Roma einfach nicht dazu gehören. Man bezeichnet sie auch als Community. Und man sagt, die leben ja alle unter sich, und von daher können wir mit unserer Lockerung auch weiter umgehen und im Grunde kann man hier einen Zaun drumherum setzen. So ist auch der ganze Bereich unter Quarantäne gestellt worden, nach dem Motto: Wir stellen lieber den ganzen Block unter Quarantäne ehe wir irgendeine Schule schließen müssen.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

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Mahnmal für ermordete Sinti und Roma: Eine gesellschaftliche Baustelle

Mehr als 500 Menschen demonstrierten in Berlin gegen Baupläne der Bahn, die das Mahnmal für Sinti und Roma einschränken könnten.

Als sich der Demozug in Bewegung setzt, wird sichtbar, wer alles gekommen ist, um gemeinsam mit den Selbstorganisationen der Sinti*zze und Rom*nja zu demonstrieren. Ihr Protest richtet sich am Samstag gegen Baupläne von Bundesregierung und Bahn, die den Tunnel für eine neue S-Bahn-Trasse ausgerechnet unter dem Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Tiergarten entlang führen möchten. Die Initiativen befürchten daher, dass das Mahnmal im Zuge der Bauarbeiten gesperrt oder sogar teilweise abgebaut werden könnte.

Und sie sind mit dieser Sorge nicht allein: Während der Auftaktkundgebung hatten sich bereits laufend Demo-Teilnehmer*innen rechts und links vom Lautsprecherwagen dazugesellt. Und wie bei einem Fächer, der das ganze Bild erst im aufgespannten Zustand zeigt, reihen sich nun, als es losgeht, Einzelpersonen und als Gruppen erkennbare Teilnehmer*innen hinter dem Lautsprecherwagen ein, bald zieht sich der Zug vom Mahnmal bis zum Brandenburger Tor: Mehr als 500 Menschen sind gekommen – vor einer Woche, bei der ersten Kundgebung, die mehr Aufmerksamkeit auf die Baupläne und das Mahnmal lenken wollte, waren es rund 50 Menschen gewesen. Continue reading Mahnmal für ermordete Sinti und Roma: Eine gesellschaftliche Baustelle

Unser Denkmal ist euer Mahnmal!

Das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas ist in Gefahr. Die Deutsche Bahn will den Ort des Gedenkens durch den Bau einer S-Bahn zerstören. Das darf nicht sein. Das Denkmal ist unsere Erinnerung, es darf nicht beschädigt werden! Ebenso muss der Wald um das Mahnmal herum erhalten bleiben. Der Wald ist Teil des Mahnmals und symbolisiert einen Schutzort für die Menschen, die sich vor Verfolgung verstecken mussten. Wir leben in einer Zeit, in der der Rechtsruck sich durch Politik, Institutionen, Medien und durch die Köpfe vieler Menschen zieht. Es ist die Pflicht der kulturellen und politischen Einrichtungen, der Bewegungen und Initiativen und aller Menschen, das Mahnmal zu schützen.

Es wird viele Aktionen geben. Wir werden nicht schweigen. Wir rufen Alle auf, sich zu erheben. Schützt das Mahnmal! Das Mahnmal muss bleiben! Continue reading Unser Denkmal ist euer Mahnmal!

„Unser Dorf ist rechts“

In Heidelberg und Ulm laufen aktuell mehrere Gerichtsverfahren wegen Straftaten, bei denen eine rassistische Motivation vorliegt. An ihnen wird deutlich, welches Ausmaß rechte Gewalt in Baden-Württemberg hat.

Sechs junge Männer müssen sich aktuell vor dem Landgericht Heidelberg verantworten, weil sie bei einem Junggesellenabschied im September 2018 auf türkisch- und portugiesischstämmige Gäste einer Eisdiele in Wiesloch (Rhein-Neckar-Kreis) eingeschlagen haben sollen. Mehrere Besucher des Eiscafés erlitten bei dem brutalen Angriff Prellungen und Hautabschürfungen, einem Vater wurde eine Bierflasche auf dem Kopf zerschlagen. Laut Zeugen sollen die Angeklagten „Heil Hitler“ gerufen und den Hitler-Gruß gezeigt haben. Aufgrund von Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie stand zunächst nur die eine Hälfte der Angeklagten – drei Brüder – vor Gericht. Sie haben die Tat gestanden, den politischen Hintergrund der Tat leugnen sie jedoch. Demnach wären die rechten Parolen von den anderen drei Verdächtigten gerufen worden, die erst in ein paar Monaten vor dem Richter erscheinen müssen.

Unter den mutmaßlichen Tätern befindet sich auch ein Mann, der zum Zeitpunkt des Angriffs als Mechaniker bei der Polizei angestellt war. Der Polizeimitarbeiter ist nach Angaben des Innenministeriums mit sofortiger Wirkung freigestellt und von sämtlichen Aufgaben entbunden worden. Neben dieser Verbindung eines Angeklagten in den Polizeiapparat sollte vor allem alarmieren, dass die Medien nach der Tat meist über eine „Massenschlägerei“ berichtet haben. Bei den LeserInnen konnte so der Eindruck entstehen, dass ein Teil der Schuld auf Seiten der Opfer zu finden sei. Der erste Prozesstermin hat diese Darstellung eindeutig widerlegt. Trotzdem ist in der Berichterstattung des SWR noch immer die Rede von einer Schlägerei und nicht konsequent von einem rassistisch motivierten Angriff.

„Die denken alle so“

Ende Mai 2019 standen auf einer Wiese am Ortsrand von Erbach-Dellmensingen bei Ulm mehrere Wohnwagen, die von Roma-Familien bewohnt wurden. Gegen 23 Uhr ist aus einem Kleinwagen eine brennende Fackel auf einen Wohnwagen geschleudert worden, in dem eine junge Frau mit ihrem Kleinkind geschlafen hat. Die Insassen des Autos sollen dabei „Zigeuner, ihr seid hier nicht willkommen“ gerufen haben. Da die brennende Fackel ihr Ziel knapp verfehlte, wurde kein Schaden angerichtet. Wegen versuchten Mordes müssen sich für diese Tat seit vergangener Woche fünf junge Männer vor der Jugendkammer des Landgerichts Ulm verantworten.

Die Angeklagten, von denen vier weiterhin in Untersuchungshaft sitzen, sollen der Fanszene des Fußballvereins SSV Ulm 1846 angehören. Dort wurde vom Fanclub Donau Crew (DC08) bei einem Pokalspiel gegen den 1. FC Heidenheim ein Solidaritäts-Banner mit der Aufschrift „Eingesperrte immer bei uns, stark bleiben Jungs! DC08“ hochgehalten. Dieses Banner wurde kurz nach der Verhaftung der jungen Männer gezeigt, die für den Brandanschlag verantwortlich sind. Am ersten Verhandlungstag haben die Verdächtigen ihre Tat gestanden, den politischen Hintergrund jedoch relativiert. Ebenso unglaubwürdig wie diese Distanzierung von rechten und rassistischen Einstellungen wirkt auf die Beobachter des Prozesses auch die Behauptung, die Gruppe hätte ihre Fackel bewusst auf die Wiese geworfen, den Wohnwagen somit absichtlich verfehlt.

Als die Angeklagten mit Bildern aus ihren Handys konfrontiert werden, auf denen sie vor einer Flagge des deutschen Reiches den Hitlergruß zeigen, meint einer der jungen Männer, dass vergleichbare Aufnahmen bei jedem Zweiten im seinem Dorf zu finden seien. Laut Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg, haben die Täter bewusst das Ziel verfolgt, die Roma-Familien aus der Ortschaft zu vertreiben. Dabei habe die Dorfgemeinschaft eine zentrale Rolle gespielt: „Der Brandanschlag basiert auf pauschalen und platten Vorurteilen über Sinti und Roma, die in der Dorfgemeinschaft zirkulieren. In Erbach-Dellmensingen ist Antiziganismus in der Mitte der Gesellschaft verankert. Einer der Angeklagten hat offen gesagt: ‚Unser Dorf ist rechts. Die denken alle so.‘ Somit haben die jungen Leute im Grunde jene Erwartungshaltung umgesetzt, die von der Dorfgemeinschaft an sie gerichtet wurde.“

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert, dass antiziganistische Straftaten besser dokumentiert und verfolgt werden. So sei die Hemmschwelle, Sinti und Roma in Deutschland anzugreifen, sehr niedrig. Dennoch wird Antiziganismus – die Ablehnung von Sinti und Roma – erst seit drei Jahren als eigenständige Kategorie in der polizeilichen Statistik für politisch motivierte Kriminalität erfasst. Seitdem sind die Fallzahlen kontinuierlich angestiegen, Daniel Strauß weist jedoch auf ein großes Dunkelfeld hin. Um Vorurteile gegenüber Sinti und Roma abzubauen, bedarf es aus seiner Sicht einer intensiveren Verankerung des Themas im Lehrplan: „Neben dem nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma und dem gegenwärtigen Antiziganismus müssen an den Schulen auch die geschichtlichen und kulturellen Leistungen der Minderheit thematisiert werden, damit andere Bilder über Sinti und Roma entstehen. Die jungen Leute, die in Ulm vor Gericht stehen, haben die pauschalsten und plattesten Vorurteile im Kopf.“

Schüsse auf eine Gruppe nigerianischer Männer

Wegen gefährlicher Körperverletzung und unerlaubtem Besitz von Munition lief am vergangenen Freitag vor dem Amtsgericht Ulm ein weiteres Verfahren. Angeklagt war ein 51-jähriger Mann, der im August vergangenen Jahres vor dem Bürgerhaus Mitte in der Ulmer Schaffnerstraße ein Treffen nigerianischer Männer attackierte. Bis zu dieser Tat war er als Bote der Stadtverwaltung tätig. Bewaffnet hatte er sich laut Augenzeugen mit einem Schlagring, einem Messer und einer Druckluftpistole, mit der er auf einen Deutschen nigerianischer Herkunft geschossen hat. Der Betroffene, der von seinen Freunden Toy genannt wird, wurde dabei an der Schulter verletzt.

Schon zuvor war der mutmaßliche Täter vor Ort mit rassistischen Äußerungen und Drohungen gegen Migranten aufgefallen. Gegenüber einer Mitarbeiterin des Bürgerhauses hat er unter anderem mit einer Rockergang gedroht, wenn sich weiterhin migrantische Gruppen in den Räumlichkeiten des Gemeindezentrums treffen sollten. Für diese Taten wurde er zu 15 Monaten Haft auf Bewährung und 500 Euro Schmerzensgeld verurteilt. In die Urteilsfindung hat der Richter die politische Ausrichtung des Täters einbezogen, bei dem unter anderem eine Reichskriegsflagge und CDs von rechten Bands gefunden wurden. Obwohl der Täter nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, zeigt sich Toy mit der Entscheidung des Gerichts zufrieden. Angesichts seiner körperlichen Schäden hätte er sich jedoch ein deutlich höheres Schmerzensgeld gewünscht.

Da der Täter noch heute in unmittelbarer Nachbarschaft des Bürgerhauses wohnt, sorgen sich manche Nutzer vor weiteren Angriffen. Einige Teilnehmer der nigerianischen Gruppe haben die Gruppe sogar zwischenzeitlich verlassen, auch über räumliche Ausweichmöglichkeiten ist innerhalb der Gruppe diskutiert worden. Toy berichtet davon, dass er nach dem Vorfall große Angst gehabt habe, vor die Tür zu gehen. Trotzdem wolle er sich weiterhin im Bürgerhaus mit seinen Freunden treffen. „Wenn wir uns einen anderen Ort für unser Treffen suchen, hat der Täter sein Ziel erreicht“, meint er. Um dies zu verhindern, habe er sich mit seinen Freunden gegenseitig Mut gemacht, auch vom Bürgerhaus und antirassistischen Initiativen habe er viel Unterstützung erhalten.

Beobachtet wurde der Prozess von Mitgliedern der Initiative Schaffnerstraße, die sich für eine umfassende Aufklärung der Tat einsetzen. Sie kritisieren, dass die rassistische Tatmotivation in der ersten Pressemitteilung der Polizei nicht benannt wurde. Dort ist zunächst nur die Rede von einem Mann, der sich am Lärm durch eine Feier im Bürgerhaus gestört gefühlt habe. Diese Darstellungsweise wurde von einigen Medien zunächst ungeprüft wiedergegeben. Sowohl die rassistischen Äußerungen im Vorfeld der Tat wie auch der gezielte Angriff gegen Migranten sind darin nicht thematisiert worden. Aus einem Angriff, den die Betroffenen als rassistisch motiviert wahrnehmen, wurde demnach ein unpolitischer Streit über eine Ruhestörung.

Rassismus und rechte Gewalt klar benennen

Es sind häufig zivilgesellschaftliche Gruppen wie die Initiative Schaffnerstraße, die dafür sorgen, dass der politische Hintergrund in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Dabei gab es bei allen drei rassistischen Gewalttaten, die nun in Baden-Württemberg zu Gerichtsprozessen geführt haben, von Anfang an genügend Anzeichen für eine politische Tatmotivation.

Gut darauf geachtet wurde beim Brandanschlag in Erbach-Dellmensingen, bei dem Polizei und Medien von Beginn an auf die antiziganistische Motivation hingewiesen haben. Nur wenn die politische Dimension einer Tat im Gerichtsverfahren deutlich wird, können die Gerichte die rassistischen Beweggründe strafverschärfend in ihre Urteilsfindung einbeziehen – wie es laut Strafgesetzbuch bereits seit Jahren der Fall sein soll.

Quelle: Kontext Wochenzeitung

Stand: 20.06.2020

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Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert lückenlose Aufklärung von Polizeigewalt gegen eine Roma Familie in Freiburg

Am Dienstag, dem 28. April 2020, wurden in der Nähe von Freiburg bei einem Einsatz von Polizei- und Ordnungsamt Angehörige einer Roma Familie zum Teil schwer verletzt. Ein 48-jähriger Familienvater erlitt schwere Verletzungen durch Bisse eines Polizeihundes, zwei Frauen und ein weiterer Mann wurden durch Schläge verletzt. Der Polizeieinsatz erfolgte anlässlich einer Bagatelle, bei der es um eine Parkplatzfrage vor der Haustür der Geschädigten gegangen sein soll. Die beteiligten Beamten sollen von Beginn an aggressiv aufgetreten und die Situation vorsätzlich eskaliert haben, in dessen Verlauf ein Polizeihund auf den Mann gehetzt und seine Familienangehörigen mit Faustschlägen traktiert worden seien. Die Verletzungen wurden in einem Krankenhaus behandelt und dokumentiert. Continue reading Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert lückenlose Aufklärung von Polizeigewalt gegen eine Roma Familie in Freiburg