Blind. Taub. Stumm. (Teil III von IV)

3.2 Dunkles Abendland – das gesellschaftliche Klima der 1990er Jahre

Es sind Monate und Jahre der Unsicherheit, die die späten 80er und frühen 90er Jahre stark prägten, in denen die „Angst vor dem Abstieg nicht zur Solidarität mit anderen [führte], sondern sich in Abgrenzung und verschärften Konkurrenzverhalten“ (Heitmeyer 2020, S.133) zeigte. Monate und Jahre, in denen sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe radikalisierten. Alle drei befanden sich in ihrer Jugend, einer Phase, die „von der unselbstständigen Kindheit in das selbstständige Erwachsenenalter führt“ (Hurrelmann und Quenzel 2013, S.40) und starke persönliche Herausforderungen beinhaltet. Einen großen Einfluss haben hierbei die umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen und Kontakte, die das Zuwenden zu jugendlichen Subkulturen fördern. Es gilt folglich die gesellschaftlichen Zustände der 90er Jahre zu beschreiben, um den Einfluss auf die Sozialisation, Entwicklung und Radikalisierung der späteren Täter*innen zu untersuchen. 

Förster et al. (1993) sprechen von einer „Jugend Ost. Zwischen Hoffnung und Gewalt“, zur Beschreibung der ostdeutschen Nachwendezeit. Sie sprechen folglich von einem bestehenden multifaktoriellen Spannungsfeld, dass näher betrachtet werden muss. Hierbei liegt der Fokus besonders auf den Auswirkungen für junge Menschen.

Das Politbarometer erfasst seit 1977 unter anderem die politische Stimmung in Deutschland. Die Umfrageergebnisse können als repräsentativ angesehen werden. Analysiert man die Ergebnisse aus den Jahren 1991 und 1992 auf die Frage, ob die bestehenden Gesetze durch die Asylbewerber*innen ausgenutzt werden oder nicht, wird deutlich, dass ein Großteil der Befragten überzeugt ist, dass das deutsche Recht missbraucht werde. (vgl. Abbildung 2)

An dieser Befragung sind die wellenförmigen Bewegungen ebenfalls wieder zu erkennen. Kurze Zeit nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda erreichte die Zustimmung im Osten Deutschlands fast 80%, diese sank jedoch im weiteren Verlauf des Jahres leicht ab. In Folge von Rostock-Lichtenhagen stiegen die Zahlen bis auf 85% an, fielen aber nach dem Anschlag in Mölln um 2,5%. Der Brandanschlag in Mölln ist erneut als außergewöhnlich zu betonen, der den bisherigen Trend gebrochen hat. (vgl. POLITBAROMETER 1991/1992 zitiert nach Ohlemacher 1994, S. 230)

Jedoch muss bei der Betrachtung der Zahlen bedacht werden, dass nicht jede*r, der/die der Frage zustimmte, automatisch als rechtsextrem in Erscheinung tritt. Den Zusammenhang zwischen der hohen Zustimmung und den Angriffen durch Rechtsextreme bezeichnet Ohlemacher als eine „very loose connection“ (Ohlemacher 1994, S.231). Dennoch besteht eine mögliche Korrelation zwischen dem Mobilisierungspotential innerhalb der Bevölkerung und den ausgeführten Gewalttaten. Jedoch ist unbestritten, dass sich aus „dem Normalitätszuwachs in der Bevölkerung eine besondere Legitimation für einen nationalen Auftrag [ableitet], der in ihren Augen durch die institutionelle Gewalt des Staates nicht ausreichend gewährleistet ist“ (Heitmeyer 1992, S.210). Es ist die typische „Huhn-oder-Ei-Frage“, die nur schwer kausal zu belegen ist. Die Frage des Auslösers und des Effektes ist nicht zu beantworten.

Die Ursachfaktoren, die zu der Fremdenfeindlichkeit führten, sind jedoch erforscht und benannt.

Als Resultat der Wiedervereinigung ist eine Orientierungslosigkeit in Ostdeutschland festzustellen. Zum einen fielen bestehende Wertesysteme weg und die „jahrzehntelang gültige, auf unversöhnliche Gegnerschaft“ (Förster et al. 1993, S.16) ausgerichtete Weltordnung zerfiel. Zum anderen wurden die Versprechen der „blühenden Landschaften“ nicht eingehalten und die erarbeiteten Lebensleistungen der ehemaligen DDR-Bürger*innen nicht gewürdigt und anerkannt. Fehlende Anerkennung und das Ausbleiben der sozialen Integration und Sicherheit führten dazu, dass „die Geborgenheit der nationalen Volksgemeinschaft als Inbegriff einer hemmungslos rassistischen Staatsordnung und die Rückkehr zu vermeintlich besseren, sichereren und stabileren Verhältnissen“ (Quent 2018, S.145) als attraktive Alternative erschien. Eine negative Zukunftsaussicht ist also festzustellen. Heitmeyer stellte bereits 1992 fest, dass sich „für einen großen Teil der jüngeren Gesellschaft […] pessimistische Zukunftsaussichten mit einer Distanz zu Staat und politischen Großinstitutionen“ (Heitmeyer 1992, S.18) verbindet.

Förster et al. beschreiben den Untergang des SED-Regimes als „kalte Dusche, […] für viele ein Sturz in eine fremdartige, fürs erste unüberschaubare Lebenswelt“ (Förster et al. 1993, S.21f.).  Faktoren der drohenden oder bereits bestehenden Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, soziale Gegensätze, Deklassierung gegenüber westdeutschen Bürgern, der Rückgang der Solidarität, neue Ängste vor Gewalt und Ängste vor Überforderung in der neuen kapitalistischen Gesellschaft führten dazu, dass die neuen Möglichkeiten und Chancen nach der Wende nicht genutzt wurden, da die „Relativität und Austauschbarkeit offiziell-politischer Normen“ (Quent 2019, S.89) verdeutlicht wurde. (vgl. Abbildung 3)

Diese Zunahme „des sozialen Drucks führt zu einem weiteren Ansteigen des Angstniveaus und damit zur Festschreibung der Ausgangssituation“ (Heitmeyer 2020, S.133).

Heitmeyer (1992) sieht eine Risikogesellschaft nach Beck gegeben, die „soziale Risikolagen für Jugendliche und ökologische Risikolagen in der gesamten Gesellschaft umformen können in eine politische Risikogesellschaft, aus der heraus gewaltförmige Auseinandersetzungen erwachsen“ (Heitmeyer 1992, S.13). Quent (2018) geht jedoch von einer Dissonanzgesellschaft aus, in der die Menschen bestrebt sind, Dissonanzempfindungen zu reduzieren oder direkt bestmöglich zu beseitigen. Er sieht ein Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit der alltäglichen Erfahrungen, die „für die aufgeklärte Bürgerschaft permanente Dissonanzerfahrungen“ (Quent 2018, S.82) bedeuten.

An beiden Ansätzen der Gesellschaftsbeschreibung wird ein negatives und pessimistisches Bild gezeichnet. Eine Gesellschaft, die herausfordert und verunsichern kann.

Umso herausfordernder ist es für Jugendliche, in diesen Zeiten der „Distanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der neuen demokratischen Ordnung in Ostdeutschland […] begünstigt durch die fehlende Kohärenz offizieller Deutungen der Autoritäten“ (Quent 2019, S.89) und der „Gefährdung oder gar Zerstörung berechenbar erscheinender eigener zukünftiger Lebenspläne“ (Heitmeyer 1992, S.16) eine eigenständige Identität zu entwickeln. Aus der Selbstverwirklichung wurde eine Selbstbehauptung, die zur Folge hatte, dass es zu einem „tatsächlichen wie gedanklichen Verlust der Kontrolle über den eigenen sozial- und berufsbiographischen Verlauf“ (Heitmeyer 1992, S.18) kam. Deutlich wird dieser in einer Untersuchung Heitmeyers 1988, die feststellte, dass sich 77,5% der Befragten der Aussage:

„In diesen Zeiten ist alles so unsicher geworden, daß man auf alles gefaßt sein muß.“ (Heitmeyer 1988 zitiert nach: Heitmeyer 1992, S.18)

zustimmten.

Der Schluss, dass Ängste, Unzufriedenheit und Arbeitslosigkeit als Ursachen für Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Entwicklungen verantwortlich sind, ist falsch. Vielmehr sind es persönliche Haltungen und Positionen, die stark die politische Orientierung prägen und beeinflussen. So sind beispielsweise Linke ebenso von Arbeitslosigkeit bedroht, sehen dabei aber keine Schuld bei Ausländern und verknüpfen diese nicht mit ihrer negativen Situation. 

Es braucht folglich einen Blick auf die Entstehung von rechter Gewalt und rechten politischen Positionen, um ein genaueres Verständnis zu erlangen und den Entstehungsprozess des NSU weiter verstehen zu können. 

Ausgangspunkt für die Radikalisierung und Meinungsbildung ist die Annahme, dass „Einheimische das Gefühl haben, dass ihre Macht und Privilegien […] in Gefahr sein könnten“ (Quent 2018, S.155) und, „diese [fremde Gruppe der Ausländer, d. Verf.] wird als Bedrohung konstruiert, gegen die es sich zu verteidigen gelte“ (ebd., S.152).

Gesellschaftliche, ökonomische und soziale Faktoren besitzen somit einen großen Einfluss auf das Denken und Handeln, ebenso auf die Gefühle der Verunsicherung und Angst, die als Hauptursache für Gewalt betrachtet werden. Ohnmachtsgefühle gehen mit der Angst einher. Diese Wahrnehmung zu betäuben, verleitet zur Gewalt, die als subjektiv sinnhaft angesehen wird, denn

  • „sie schafft Eindeutigkeit in unklaren und unübersichtlichen Situationen;
  • sie ist eine zumindest augenblicklich wirkende (Selbst)-Demonstration der Überwindung von Ohnmacht;
  • sie garantiert Fremdwahrnehmung […];
  • sie schafft zumindest kurzfristige partielle Solidarität bzw. erweist sie sich als klar erkennbarer Prüfstein für Solidarität;
  • sie erweist sich […] als erfolgreiches Handlungsmodell;
  • sie verspricht Rückgewinnung von körperlicher Sinnlichkeit […].“ (Heitmeyer 1992, S.26)

 Dass subjektiv sinnhafte Gewalt als Mittel eingesetzt wurde, um der eigenen Ohnmacht zu entkommen, eigene Privilegien zu schützen und andere Menschen, die als minderwertig betrachtet werden, abzuwerten wird deutlich, betrachtet man die Entwicklung von rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten. Ein starker Anstieg „des kleinteiligen Massenterrors in der wiedervereinigten Republik“ (Bergmann und Leggewie 2010, S.304) in den 90er Jahren ist klar erkennbar. (vgl. Abbildungen 4 und 5)

Dies geschah aus der „Überzeugung, […] der ‚höherwertigen‘ Gruppe nicht nur Vorrechte und Privilegien innezuhaben, sondern geradezu in der Pflicht zu stehen, die als ‚natürlich‘ minderwertig Betrachteten zu marginalisieren, zu vertreiben oder umzubringen, um nicht die vermeintliche Höherwertigkeit der Eigengruppe durch ‚Vermischung‘ zu gefährden“ (Quent 2018, S.152).

Oft sind es jedoch keine bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Pläne im Zuge einer rational-choice-Tat, noch spontane ad-hoc-Entscheidungen. Es scheint einen Mittelweg geben zu müssen. Bergmann und Leggewie beschreiben diesen als Konflikt „zwischen Vorsatz und Okkasion“ (Bergmann und Leggewie 2010, S.308), der jedoch erst dadurch entstehen kann, dass sich die Täter*innen „in einen Zustand versetzen, aus dem sich Idee und Ausführung der Tat wie von selbst ergaben und der sie zur extremen Tat befähigte.“ (ebd., S.310) Diese Annahme sieht auch der 2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages und zitiert das Bundesamt für Verfassungsschutz von 1995, das davon ausgeht, dass „auf Dauer angelegte strukturierte Gruppen, die zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele schwere Straftaten wie Brand- und Sprengstoffanschläge oder Tötungsdelikte begehen“ (Deutscher Bundestag 2013, S.224) nicht existieren.

Um es mit „Waving the Guns“ in ihrem Song „Endlich wird wieder getreten“ zusammenzufassen, lässt sich sagen, dass „Flüchtlinge das falsche Ziel berechtigter Wut sind“, denn „subjektive ökonomische und soziale Benachteiligungsgefühle können die Anfälligkeit gegenüber rechtsextremen sowie gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen“ (Quent 2018, S.153) steigern, und Menschen nach Nützlichkeit, Effizienz und Verwertbarkeit einordnen und bewerten. Die Wut und Gewalt wirken als „‘produktive‘ Verarbeitung individueller Anerkennungsdefizite“ (Sitzer und Heitmeyer 2007, S.9).

Gerade im Jugendalter sind rechtsextremistische Entwicklungen stark zu beobachten. Ein Großteil der Jugendlichen besitzt ein nationalistisches Weltbild, was von patriotischen bis zum gefestigten nationalsozialistischen Meinungsspektrum reicht. (vgl. Abbildung 6)

In der Lebensphase der Jugend ist der Protest und die Möglichkeit zur Provokation ein fast alltäglicher Begleiter, der die „gesellschaftlichen Normen und Rollenvorschriften, über die in einer Kultur eine breite Übereinstimmung besteht“ (Hurrelmann und Quenzel 2013, S. 28) herausfordern möchte. Es kann somit als „Protest gegen die alten und neuen ‚Herren im Haus‘“ (Quent 2018, S.151) verstanden werden, als ein Widerspruch gegen die „offiziellen Versprechungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ (ebd.).

Es ist Quent zuzustimmen, wenn er schlussfolgert:

„Aus der Orientierungslosigkeit in Ostdeutschland in Folge der Vereinigung suchten unterschiedliche und miteinander konkurrierende Akteur_innen einen Ausweg. Insbesondere viele Jugendliche schlossen sich der rechtsextremen Bewegung an, die im Zusammenhang mit der Migrationsdebatte […] auf dem Vormarsch war und klare Freund-Feind-Deutungen anbot. Es kam vielerorts zu progromartigen Ausschreitungen, zu Anschlägen, zu Konfrontationsgewalt mit Linken und der Polizei. Aus diesem Bodensatz entstand der NSU.“ (ebd., S.145)

Das Grundgesetz schrieb den Schutz vor Diskriminierung vor, die Verfassungsnorm ist klar antifaschistisch und antirassistisch. Die Demokratie besteht aus der „Unantastbarkeit der Überzeugung, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, über die Mehrheiten nicht verfügen können.“ (Deutscher Bundestag 2013, S.IV) Die Verfassungswirklichkeit und die gesellschaftliche Akzeptanz stehen diesem entgegen und erzeugen eine Diskrepanz. (vgl. Heitmeyer 1992, S.19)

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sprach am 08. Oktober 1992 im Deutschen Bundestag und sagte:

„Ich schäme mich. Ich schäme mich, Deutscher zu sein. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, das eine Mauer der Gewalt, der Gefühllosigkeit, der Selbstsucht um sich baut. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen Beifall klatschen, wenn Menschen angegriffen, verletzt, vertrieben werden. Ich schäme mich, Mitbürger von Feiglingen zu sein, die Frauen und Kinder schlagen und drangsalieren, die Jagd auf jene Menschen machen, die bei uns Zuflucht und Hilfe suchen oder anders sind. […] Es gibt keine Entschuldigung für das, was heute in Deutschland geschieht und was wir heute in Deutschland dulden. Weder der mühsame Prozess der Wiedervereinigung noch unsere schmerzliche Ernüchterung, weder Arbeitslosigkeit noch soziale Nöte rechtfertigen die aktive und passive Fremdenfeindlichkeit. Weder die unbewältigte Vergangenheit noch die Deformierung aus 60 Jahren Diktatur dürfen als Entschuldigung dafür dienen, daß Menschen wie Tiere über Menschen herfallen.“ (Deutscher Bundestag 1992, S.9404)

Man kann sagen, dass die Entstehung des NSU durch die gesellschaftliche Stimmung und „ein Klima der Straffreiheit“ (Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ 2017) in den 90er Jahren gefördert und befeuert wurde. Es herrschte ein breiter Konsens, der Rassismus legitimierte, Taten und Täter motivierte und das Gefühl des „backing of popular opinion“ (Ohlemacher 1994, S.233) zu besitzen und dies als „legitimation of their choice of violent means“ (ebd.) zu nutzen. Sei es durch das Werfen von Steinen und Brandsätzen oder dem johlenden und jubelnden Applaus der Zuschauer, Unterstützer, Legitimierer.

4 Von der Winzerclique zur Terrorzelle – Sozialisation als Handlungsvoraussetzung

Die Gesellschaft als Lebensort zu betrachten ist nicht ausreichend. Es braucht den Bezug auf das Individuum und dessen einzigartige Sozialisation, den „Prozess der Aneignung von und Auseinandersetzung mit den sozialen und dinglich-materiellen Lebensbedingungen in einem spezifischen historisch-gesellschaftlichen Kontext, in dessen Verlauf sich der Mensch zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet“ (Sitzer und Heitmeyer 2007, S.6).

Der Frage, wie es zu Taten kam, wird nun im direkten System der Täter*innen nachgegangen. Hierfür benötigt es eines theoretischen Einstieges, an der die Sozialisation der Täter des NSU betrachtet wird. Welche Faktoren lagen auf dieser Ebene vor, die den NSU beförderten und entstehen ließen?

Sowohl Rieker (2007) als auch Möller und Schuhmacher (2007) nennen verschiedene Sozialisationsbereiche, die von besonderer Bedeutung sind. (vgl. Abbildung 7) Beide Ansätze sehen einen hohen Einfluss der Familie und der Peer-Groups als wichtige Sozialisationsinstanz. Diese beiden werden im Weiteren detaillierter betrachtet.

4.1 Sozialisationsbereich Familie

Diesen familienbezogenen Ansatz haben bereits 1993 „Die Ärzte“ aufgegriffen und musikalisch verarbeitet. Ihre Texte stehen im Folgenden ergänzend zu den Aussagen. 

Rieker betont, dass Jugendliche mit einer fremdenfeindlichen Grundhaltung häufig Defizite in sozialen Beziehungen und deren emotionaler Qualität besitzen, entstanden durch spärliche Zuwendung (Warum hast du Angst vorm Streicheln), Erfahrungen von Zurückweisung (Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit) und fehlender Gefühlsthematisierung (Weil du Probleme hast, die keinen interessieren) in der Kindheit. Als weitere Gründe für den Einfluss der Familie auf den rechten Sozialisationsprozess sieht er die Glorifizierung des Nationalsozialismus und der Kriegsjahre durch ältere Generationen, bei denen „die Ablehnung von Migranten und sozialen Minderheiten als […] salonfähig“ (Rieker 2007, S.37) gilt. Somit werden undemokratische und gewalttätige Handlungen vorgelebt und als normal angesehen. Jedoch ist auch ein gegenteiliges Verhalten zu beobachten. Eine Ablehnung der elterlichen Prinzipien kann als rebellischer und widerständiger Akt empfunden werden, die Annahme einer gänzlich anderen politischen Sichtweise als Orientierung ist üblich. Auffällig ist ebenso, dass Rechtsextreme oft „nicht in vollständigen Familien aufgewachsen“ (ebd., S.32) sind. Ein daraus entstehendes Patchwork-Leben, besonders mit Stiefvätern, „wird gerade von männlichen Jugendlichen als konfliktreich und belastet beschrieben“ (ebd.). Herrschen im System der Familie viele Konflikte und kann keine Kompensation (Du hast nie gelernt dich zu artikulieren) gefunden werden, steigt die „männliche Dominanz, Durchsetzungsfähigkeit und Gewaltbereitschaft“ (ebd., S.33) an. Die Universität Hildesheim konnte 1995 feststellen, dass diese Kindheitsbelastungen bei vielen Befragten mit fremdenfeindlichen Orientierungen nicht gelöst, thematisiert und verarbeitet wurden. Rieker schlussfolgert also, dass „nicht nur explizit politische Äußerungen und Stellungnahmen, sondern auch die familiäre Praxis oder der Umgang mit Verschiedenheit […] als vorpolitische Modelle sozialen Handelns fungieren“ (ebd., S.34).

Mit den Ärzten gesagt, ist diese familiäre Vernachlässigung nur ein „Schrei nach Liebe“ und die Sehnsucht nach Zärtlichkeit.     

Möller und Schuhmacher führen ergänzend noch die „Dominanz des Vaters über die Mutter, eine gewisse erzieherische Härte, mehr aber noch Kommunikationsarmut und emotionale Leere“ (Möller und Schuhmacher 2007, S.20) ein. Daraus kann die Offenheit für rechtes Gedankengut gefördert werden. Ebenso gelten ältere Geschwister als „politische und kulturelle Orientierung [mit] einem maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung“ (ebd.), die als Einstieg in entsprechende Cliquen und Peergroups dienen können. Es ist also die Kombination „der emotionalen Beziehung zu Vater und Mutter mit den politischen Einstellungen und ethnischen Vorurteilen der Eltern, [die] die Entwicklung von fremdenfeindlichen Einstellungen fördern, während jeder Faktor für sich allein keinen Einfluss hat“ (Sitzer und Heitmeyer 2007, S.7).

Für die Betrachtung der Radikalisierung der Täter*innen gilt es also die Familienverhältnisse zu analysieren und deren Bedeutung im individuellen Fall zu beurteilen.

4.2 Sozialisationsbereich Peer-Group

Aus dem „Gefühl mangelnder Unterstützung und fehlenden sozialen Anschlusses“ (Möller und Schuhmacher 2007, S.20) heraus, suchen Jugendliche Peer-Groups, Gleichgesinnte und Cliquen, die Halt und Anerkennung bieten. Jugendliche aus Familien mit „einem negativen Familienklima [verbringen] mehr Zeit in der Peer-Group“ (Rieker 2007, S.36). Es existieren Gefühle der Kameradschaft und Brüderlichkeit, Selbstwertgefühl durch die Abwertung anderer und Zugehörigkeit. Es sind Wahrnehmungen mit einer Kompensationsfunktion. Laut Rieker „entsprechen die Orientierungen in der Peer-Group weitgehend denen in der Familie, etwa in Hinblick auf Gewalt“ (ebd., S.37), Sitzer und Heitmeyer kommen hingegen zu dem Schluss, dass gerade „Gruppen mit abweichenden Norm- und Wertvorstellungen“ (Sitzer und Heitmeyer 2007, S.8) attraktiv sind. Aus diesen positiven Gefühlen kann eine „stimulierende und enthemmende Gemengelage, die rechtsextremistische Gewalttaten motivieren“ (ebd., S.9), entstehen. Welcher Art von Peer-Group ausgewählt wird, ist nicht vorherbestimmt, vielmehr ist es „also eine Frage der Gelegenheit [und] systematischen Zufällen“ (Quent 2019, S.174).

Wie kamen die Täter*innen in ihre Gruppe zusammen? Was brachte sie in den Winzerclub? Dieser Frage ist nachzugehen, um den Prozess der Radikalisierung zu verstehen.

4.3 Radikalisierungskarrieren

Von heute auf morgen wird niemand ein*e Rechtsextremist*in. Er vollzieht einen Prozess des Einstieges und der Radikalisierung, der vielfältig beeinflusst wird und durch die eigene Verarbeitung von Sozialisation, Erfahrungen und Entscheidungen geprägt ist.

Zur Analyse des Entstehungsprozesses des NSU müssen also die Radikalisierungsgeschichten und „die individuellen Merkmale der Anfälligkeit für rechtsextreme Einstellungs- und Handlungsweisen“ (Quent 2019, S.292) der Täter*innen in ihrer Heimatstadt Jena betrachtet werden.   

In den 90er Jahren hatte sich Jena durch die Fankultur des FC Carl Zeiss, Skinhead-Angriffe gegen Migranten und Linke und offene rechte Festlichkeiten als „eine Hochburg der Neonazis“ (Thüringer Landtag 2014, S.162) etabliert und war von erheblichem Alltagsterror geprägt. Der jugendliche Rechtsextremismus in Jena besaß wenig politische Strahlkraft, war jedoch von einer „hohen Integrations- und Provokationskraft“ (Quent 2019, S.181) geprägt. Ziel war es, „die Vorherrschaft in begrenzten Räumen (etwa im Stadtteil Winzerla) gegenüber politischen Gegnern zu erkämpfen und zu sichern“ (ebd.). Der „Winzerclub“ war seit 1991 Anlaufstelle für die rechtsextreme Szene und somit auch für Mundlos und Zschäpe, die damals ein Paar waren und die Renovierung unterstützen. Es wurde das pädagogische Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit genutzt, dass durch die damalige Bundesjugendministerin Angela Merkel als „staatliche Antwort auf den erstarkenden Rechtsextremismus“ (ebd.) ausgegeben wurde und „faktisch Freizeitangebote und Vernetzungsmöglichkeiten“ (Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ 2017, S.11) schaffte, um dem „Bedürfnis nach Freizeitgestaltung“ (Quent 2019, S.192) nachzukommen. Aus diesem Freizeittreff entwickelte sich der „Nukleus der rechtsextremen Bewegung in Jena“ (ebd., S.182) und die Hochburg des Rechtsextremismus innerhalb Jenas. Die anfängliche „heterogene Nachbarschaftsclique mit Skins und ‚normalen‘ Jugendlichen“ (ebd.) trat mit immer stärkeren Straf- und Gewalttaten auf und fand durch die Unsicherheiten der Wiedervereinigung „im interventionsanfälligen Gründungsstadium [der Gruppe] günstige Entwicklungschancen“ (ebd., S.182f.). Mundlos radikalisierte sich weiter und fand sein Feindbild in linken Jugendlichen, auf die militant „Jagd gemacht“ wurde. Er habe zu diesem Zweck Reizgaspistolen besessen.

Böhnhardt gehörte anfänglich zu einer Clique aus Jena-Lobeda und fiel seit 1991 durch Straftaten auf. Er kam in Kontakt mit der Clique im Winzerklub und knüpfte auch bei Gefängnisaufenthalten weitere Kontakte mit ideologisierten Rechtsextremen, die „Einfluss auf die Fortentwicklung der Gruppenkultur“ (ebd., S.192) hatten. Ab 1992/1993 hat für das Selbstverständnis der Gruppe die Bedeutung der rechtsextremen Ideologie zugenommen. 1994 ist eine politische Professionalisierung und Radikalisierung zu erkennen, die sich durch einen gesteigerten Organisationsgrad zeigte, aus der die Bewegung „Anti-Antifa Ostthüringen“ und später der „Thüringer Heimatschutz“ entstand. (vgl. ebd., S.186)

An dieser Winzerclique werden viele gruppensoziologische Punkte deutlich:

  • Die soziale Herkunft, der Stadtteil, entschied und gab zufällig vor, welchen Gruppen man zugehören konnte.
  • Neue Mitglieder akzeptierten und tolerierten die Gruppenkultur, Ansichten und Meinungen.
  • Der fortschreitende Radikalisierungsprozess führte zu einer höheren Gewaltbereitschaft der gesamten Gruppe.
  • Durch die rassistischen Angriffe in anderen deutschen Städten entstand ein Gefühl der Legitimation der Ausrichtung der Gruppe.
  • Die akzeptierende Jugendarbeit schaffte Legitimation durch das zur Verfügung stellen von Räumen und das unkritische Arbeiten.

Aus diesen Aspekten entstand eine rechte Szene, die in dieser Phase strukturell-festigend und ideologisch-legitimierend agierte und radikalisierte, den Formierungsprozess des NSU also beförderte und in einer gewissen Form ausbildete. Durch die überregionale Vernetzung, das Ausprobieren von Handlungsräumen und Grenzen, dem Sammeln von operativen Erfahrungen und der fortschreitenden ideologischen Festigung konnte aus einer kleinen Clique eine mordende Terrorzelle entstehen. (vgl. ebd., S.192f.)

Die Anfälligkeit Böhnhardts, Zschäpes und Mundlos für diese Gruppen und Cliquen ist durch individuelle biografische Erfahrungen zu verstehen.

Uwe Böhnhardt ist 1977 geboren und ist durch den Tod seines Bruders, der wichtigsten Bezugsperson, traumatisiert. Seine Mutter wird als dominant beschrieben. Quent sieht es als gegeben an, dass „das elterliche Misstrauen [gegen die Staatgewalt] die Wahrnehmung repressiver Maßnahmen als Unrecht und willkürliche Repression bei Uwe Böhnhardt bestärkt [und] die eigene Schuld negiert“ (ebd., S.300) habe. In einem Urteil des Amtsgerichts Jena 1997 wurden ihm Entwicklungs- und Reifedefizite zugeschrieben. Nach mehreren Schulverweisen, Heim- und Gefängnisaufenthalten besuchte er eine Schule in Jena-Winzerla. Den Winzerklub musste er auf seinem Schulweg passieren und lernte so die Clique kennen. Sein nachschulisches Leben ist von Arbeitslosigkeiten und Gefängnisstrafen geprägt. Im Zuge der Jugendhaft 1993 sei er missbraucht worden. Seit 1995 ist eine politische Motivation zu erkennen. Durch seine Gewaltbegeisterung und Gefängniserfahrungen verschafft er sich Respekt innerhalb der rechten Szene und gilt bald als Kern der Winzerclique und später des Thüringer Heimatschutzes. Er sah in der Ideologie der „Verachtung des Lebens und der Rechtfertigung des Unrechts“ (ebd., S.301) einen Erklärungspunkt „für sein Scheitern auf dem schulischen Bildungsweg und für seine Arbeitslosigkeit, die ihn jedoch ca. 700 DM monatliche Arbeitslosenhilfe“ (ebd., S.300) brachte.

Uwe Mundlos kann als das ideologischer Anführer verstanden werden, der durch die „intergenerationale Weitergabe durch seinen Großvater“ (ebd., S.305) eine Begeisterung für den Nationalsozialismus entwickelte. Sein Bruder ist an den Rollstuhl angewiesen, Mundlos musste somit stets Rücksicht nehmen und oft zurückstecken. Die Familie lebte in einer nicht behindertengerechten Wohnung, eine neue wurde ihnen nicht zugeteilt, wodurch sich die Unzufriedenheit mit dem SED-Staat bei Mundlos und dessen Vater steigerte. Durch den späteren Umzug in den Stadtteil Winzerla kamen erste Kontakte in den Winzerklub und zu Zschäpe zustande, die seine Freundin wurde. Seit 1991 ist er als politischer Gewalttäter bekannt, der sich „von seinem Begrüßungsgeld ein Butterfly-Messer“ (ebd., S.304) kaufte. Er gehörte fortan zu einer ideologisch gefestigten und gebildeten Elite der Bewegung, die „politische Aktionen auf einem höheren Organisations- und Gewaltniveau“ (ebd., S.305) realisieren wollten.

Beate Zschäpe, Jahrgang 1975, lebte in einer unsicheren Familie mit einer hohen Konfliktbelastung, einer alleinerziehenden, alkoholabhängigen Mutter, die mindestens fünf Jahre arbeitslos war. Aus diesen Gründen verbrachte Zschäpe viel Zeit bei ihrer Großmutter. Die Unsicherheit zeigt sich darin, dass sie bis zu ihrem 16. Lebensjahr sechsmal umzog. Sie selbst sagte in einer Vernehmung aus, dass nicht ihre Mutter, sondern die beiden Uwes ihre Familie gewesen seien. Ein weiterer wichtiger biografischer Aspekt ist die politische Orientierung der Mutter, die linke Ansichten vertrat und sich somit noch stärkere Konfliktsituationen ergaben. Aus dem Winzerklub heraus, war Zschäpe 1994 „die einzige Frau, die fest zur Kameradschaft Jena gehörte“ (ebd.) und augenscheinlich ein hohes Vertrauen und Ansehen genoss. Seit 1991 ist sie polizeibekannt, erst durch Diebstähle und Einbrüche, später durch politische Straftaten.

Alle drei Biografien weisen typische Sozialisationsbedingungen auf, die eine Zuwendung hin zu radikalen Gedanken und Meinungen beförderten. Quent (2019) stellt dies methodisch dar und klassifiziert verschiedene Radikalisierungstypen. (vgl. Abbildung 8)

Es wird deutlich, dass die unterschiedlichen Ursprünge und Auslöser für den Prozess der Radikalisierung, „den polarisierenden Gruppenprozess der Winzerclique gegenseitig verstärkten“ (ebd., S.315) und in der weiteren Entwicklung auf das Ziel der „Radikalisierung und politischen Gewalt“, genauer auf Morde und Überfälle, hinausliefen.

Das sind Traditionen von Schweigen und Gewalt

Wann ziehen wir uns endlich den Stachel aus dem Fleisch?

(Zugezogen Maskulin – Tanz auf dem Vulkan)