Der erste Schlag traf direkt unter dem linken Wangenknochen und Reiner G. ging augenblicklich zu Boden. Es folgten Tritte mit Springerstiefeln in die Rippen. Irgendwie konnte sich der 22jährige aufrappeln und losrennen. Jemand griff nach seiner Jacke. Er wand sich heraus und rannte weiter. Um sein Leben. Auf der Straße zerschellten Bierflaschen und -gläser neben ihm. Drei Verfolger hatte er schön abgeschüttelt. Er rannte weiter bis zur Friedhofmauer am Poseckschen Garten. Dann der Sprung über die Mauer und das Versteck an der Grabstätte. Durchatmen, nachsehen, ob alles in Ordnung ist, warten, bis das Zittern aufhört. Als er sicher sein kann, dass die Luft rein ist, schleicht sich der 22jährige zu seinem Auto und fährt zur Polizei. Er steht unter Schock. Die Aufnahme der Anzeige geht ihm viel zu schleppend, zumal er sich ist, dass die Schläger noch auf der Party sind. Dann geht er ins Krankenhaus. Gehirnerschütterung und schwere Rippenprellungen, sagt der Notarzt. Gegen sechs Uhr ist Reiner G. zu Hause. Später erfährt er, dass seine drei Freunde sich durch die Küche in der Mensa in Sicherheit bringen konnten. Es war die Zwiebelmarktparty. Als er wieder aufstehen konnte, ging Reiner G. zur TLZ. „Solche Dinge dürfen nicht verschwiegen werden“, sagt er, obwohl der Schock über das Erlebte immer noch tief sitzt. Mehrere hundert Menschen standen daneben, als der Schlägertrupp über Reiner G. und seine Freunde herfiel. Nicht einer hat geholfen oder die Polizei gerufen, die in dieser Zwiebelmarktnacht in großer Zahl durch die Innenstadt patrouillierte. „Je mehr Menschen bei Gewalttaten zusehen, desto weniger schreiten ein“, sagt Ralf Kirsten, Weimars Polizeichef. Das Phänomen nenne sich Delegierung von Verantwortung. Zeugenaussagen? Alle haben Angst nach der Gerichtsverhandlung die nächsten Opfer zu sein. Die Polizei war zuerst misstrauisch, weil die Verletzungen rein äußerlich nicht zu erkennen waren. Die Übelkeit der ersten Tage ist weg, die Kopfschmerzen lassen langsam nach. „Wie soll das weitergehen?“ fragt Reiner G. „In wenigen Monaten ist Weimar Europäische Kulturstadt, und hier werden wahllos Menschen auf offener Straße oder mitten in der Menschenmenge brutal zusammengeschlagen.“ Viele, denen es ähnlich erging, wagen keine Anzeige, wie er weiß. Und er ist sich sicher: Je mehr Menschen sich das gefallen lassen, desto schlimmer wird es. Darum besteht er auf die Anzeige wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Raub. Die Jacke hat er zurück, doch das Portemonnaie ist weg. „Unglaublich, wie zielstrebig die vorgegangen sind. Die haben sich welche ausgesucht, von denen sie wohl glaubten, dass sie schwächer sind, und haben losgelegt. Ich dachte, nach einem Schlag und den ersten Tritten hören die auf. Ich glaube, das habe ich nur überlebt, weil ich um mein Leben gerannt bin.“
Quelle: TLZ vom 20.10.1998: „Ich bin um mein Leben gerannt“