Das Zeigen des Hitlergrußes sowie „Sieg-Heil-Rufe“ sind strafbar: Vor dem Amtsgericht musste sich gestern Jörg S. dafür verantworten. Der 43-jährige soll bei dem EM-Halbfinalspiel Deutschland – Türkei im Mai 2008 den deutschen Siegtreffer derart dumpf begleitet haben. Das Gericht sprach ihn frei. Wohl auch deshalb, weil die Belastungszeugen nicht koscher waren. Der Fall zeigt, wie schnell der Ruf eines unbescholtenen Menschen übers Internet ruiniert werden kann. Unbescholten war S. bis dahin: Er wirkt in einem Sportverein, ist dort im Vorstand und leitet die Abteilung Fußball. Der Verein engagiert sich gegen rechts und zeigt Flagge: „Sport frei gegen Extremismus“ heißt es seit wenigen Wochen sichtbar für alle auf einem Banner an einem Sportplatz in Weimar. S., verheiratet, ein erwachsener Sohn, lebt für seinen Verein und seinen Sport. Erst recht, nachdem ihn ein Schlaganfall aus dem Berufsleben schmiss und er heute von einer EU-Rente lebt. Unbescholten war S. bis zum 26. Juni 2008: Dann postete „Wieselflink“ anonym den Vorfall im Sportlerheim an die linke Internetplattform Indymedia, die S. mit vollem Namen und Foto, aber ohne Beweise an den virtuellen Pranger stellte. S. wurde durch die TLZ darüber informiert und ging in die Offensive. Er erstatte Anzeige wegen Verleumdung, worauf die Polizei ermittelte. Das Ergebnis: Der Verdacht gegen ihn, Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwendet zu haben, erhärtet sich. Im Dezember erhielt S. einen Strafbefehl von 70 Tagessätzen. Damit wäre er nicht vorbestraft gewesen. Hätte er ihn allerdings akzeptiert, wäre dies einem Schuldeingeständnis gleichgekommen, so dass man sich gestern vor Richterin Inez Gloski traf. 15 Zeugen waren geladen, um den Vorwurf aus Sicht des Staatsanwaltes Hannes Grünseisen und der Verteidigerin Marion Stricker zu beweisen oder zu entkräften. Die Belastungszeugen reichten nicht, sagte Gloski am Ende. Auch wenn unklar blieb, ob und wie oft S. „Sieg Heil“ gerufen habe, ob er in einem überfüllten Sportlerheim auf die Eckbank sprang und den rechten oder linken Arm zum verbotenen Gruß gezeigt habe, waren sich die Zeugen einig darin, dass S. aus der Rolle gefallen sei. Dass alle anderen im Zeugentand nichts gesehen und gehört haben wollen, änderte an der Meinung Grünseisen nichts. Er glaubte an die Schuld von S., hielt die Aussagen der Belastungszeugen für glaubwürdig und trotz der Unstimmigkeiten im Kern für überzeugend und forderte 60 Tagessätze zu je 20 Euro. Zumindest drei der vier Zeugen sind in Weimar keine Unbekannten: Sie gehören der Clique an, die als „Problemkinder“ in der Vergangenheit auf Krawall aus waren und denen Kontakte zur Neonazi-Szene nachgesagt werden. Der Erfinder des eingetragenen Labels, Christian P., 23, trat vor Gericht derart ungehobelt auf, dass ihm Gloski ein Ordnungsgeld androhen musste. „Ich konnte nicht glauben, dass S. das getan hat: das ist nicht seine Feldpostnummer“, sagte P. über S. Ein zweiter Zeuge hat den Spitznamen „Nazi“, ein dritter gab an, der Neonaziszene angehört zu haben. Jörg S. vermutete ein Racheakt. 2007 habe sein Verein den Problemkindern verboten, ein Fußballturnier zu veranstalten. Das Motiv indes wurde gestern nicht erörtert. Seit Dienstag jedenfalls ist Jörg S. wieder ein unbescholtener Bürger. Im Internet wird er immer noch vorgeführt.
Quelle: TLZ vom 13.5.2009: „Die falsche Feldpostnummer“ und https://de.indymedia.org/2008/06/220808.shtml?c=on#c510461