Eine ihm melancholische Wut trieb Volkhard Knigge gestern auf den Ettersberg. Eigentlich hätte er am Mittwoch als Professor vor Studierenden in Jena stehen müssen – trotz des Gedenkens an die Progromnacht von 1938, die von den Nazis beschönigend als „Reichskristallnacht“ bezeichnet wurde. Dass in der medialen Wahrnehmung der Mauerfall von 1989 bis zum Vormittag dominierte, bereitet dem Leiter der Gedenkstätte Kummer. „Ich sehe mit Sorge, dass immer weniger Menschen der Opfer des 9. November 1938 gedenken.“ Traurigerweise passte eine Flugblatt-Aktion der Weimarer Neonazi-Szene ins Bild. Sie markiere eine neue Qualität, das das Progrom eben nicht verleugnet, sondern geschichtsverfälschen dargestellt werde. „Es stecken zu viele Lügen in diesen Zeilen, deswegen wollen wir uns präzise und genau erinnern“, sagte der Historiker Harry Stein am ehemaligen jüdischen Sonderlager. […] Der spätere Abend verlief bis Redaktionsschluss ruhig. Das lag auch an der Bereitschaftspolizei, die Präsenz zeigte. Es gehört nach wie vor zu den verstörenden Erkenntnissen, dass an Tagen wie dem 9. November so etwas offenbar nötig ist.
Quelle: TLZ vom 10.11.2005: „Die verblassende Erinnerung“