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Migration und Grenzen im globalen Kapitalismus …und darüber hinaus

 

Migration und Grenzen im globalen Kapitalismus

…und darüber hinaus

Text zur Dokumentation

Benjamin Rummel, 2021

kaffeeundkuchen.blackblogs.org

Inhalt

1. Einleitung

In dieser Dokumentation soll die ökonomische Dimension des sehr kontrovers diskutierten Themas „Migration und Grenzen“ behandelt werden.

Ich möchte einige globale Zusammenhänge stärker beleuchten. Welche Rolle spielen Grenzen im globalen Kapitalismus?

Und wie könnten die Grenzen dieser Welt – wie in der Europäischen Union – weicher werden? – oder gar wie zwischen West- und Ostdeutschland ganz verschwinden? Seid bereit!

Fragen darüber wie mit der Andersheit der anderen, die nicht ich und vielleicht nicht mal irgendein wir sind, umgegangen werden kann, werden hier nicht behandelt.

2. Kritische Theorie

Ich werde mich dem Thema aus der Perspektive der “Kritischen Theorie der Migrationsregime” annähern. Doch was bedeutet eigentlich Kritik und Kritische Theorie?

Kritische Theorie wird hier verstanden als entfaltetes Existenzialurteil über das heute Bestehende – also die aktuelle Organisation der Gesellschaft – gemessen am derzeit Möglichen. Im Hinblick auf die Verwirklichung der gesellschaftlichen Bedingungen, die der Freiheit und des Rechts des ganzen Individuums nach Glück zu streben zuträglich sind. Es geht also um das Projekt der Aufklärung (Georgi 2013: 42; Marcuse & Horkheimer 1937: 637).

Menschen sind soziale Wesen. Unser Bewusstsein darüber wer wir sind, ist stark davon geprägt wie wir in Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt treten. Erst in Gesellschaft können wir uns als Individuen begreifen und Freiheiten erlangen, die darüber hinausgehen allein und unabhängig im Wald zu verrecken (Jaeggi 2019: 207-209).

Die Verwirklichung der menschlichen Freiheit betrifft vor allem die Beziehungen der Menschen im Produktionsprozess sowie die Möglichkeiten, die aktive Teilnahme der Einzelnen an der politischen und ökonomischen Verwaltung des gesellschaftlichen Ganzen – das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen (Marcuse & Horkheimer 1937: 637).

Durch das Erkennen und Anerkennen des Notwendigen, Bitteren gar Hoffnungslosen als eben diesem, kann es in Sphäre der Vernunft und somit die der Freiheit gehoben werden (Marcuse & Horkheimer 1937: 633). Wie mit materiellen Erfordernissen umgegangen wird, ist niemals ausschließlich eine naturwissenschaftliche Frage. Die Entscheidungen über verschiedene Handlungsmöglichkeiten betreffen auch Ethische-Wertvorstellungen sowie wirtschaftliche und politische Interessen. Dies wird derzeit vor allem im Blick auf den Klimawandel und die Corona-Pandemie deutlich.

Kritik im Sinne der Kritischen Theorie, wie sie hier verstanden wird, bedeutet also nicht nur einzelne Lügen zu entlarven, sondern Widersprüche und ideologische Blockaden, die in den gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschrieben sind, aufzudecken und neue Möglichkeiten aufzuzeigen (Jaeggi 2011:491).

Es geht also darum die Art und Weise in den Blick zu nehmen, wie wir im 21. Jahrhundert auf dieser Erde zusammenleben.

Doch welche sozialen Institutionen und Strukturen prägen die heutigen wirtschaftlichen Beziehungen und andersherum? Wie verhalten sich Menschen im 21. Jahrhundert zu sich selbst zu anderen Menschen und der Natur? -Und… wer werden wir dabei sehr verehrtes Publikum?

Die Widersprüche des gesellschaftlichen Ganzen, des Allgemeinen, spiegeln sich auch in den besonderen Lebenswelten der Einzelnen wieder.

3. Politische Herrschaft

Auch im 21. Jahrhundert sind Individualrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und politische Mitbestimmung keineswegs selbstverständlich. Tatsächlich sind in der Vollversammlung der Vereinten Nationen neben 88 Demokratien 107 unfreie und autoritäre Staaten vertreten (Mützenich 2014: 391).

4. Ökonomische Herrschaftsverhältnisse

Im Kapitalismus werden wirtschaftliche Beziehungen generell durch den Wert, also Geld, vermittelt. Arbeitsprodukte, Grundstücke und auch Arbeitskraft werden zur tauschbaren Ware. Waren haben einen einzigartigen qualitativen Gebrauchswert und einen quantitativen Tauschwert, also einem Preis. Der Preis, der wenig über die Besonderheit einer Ware aussagt, ergibt sich aus ihren Produktionskosten und der nie ganz vorhersehbaren Nachfrage auf dem Markt (Wendl 2018: 35).

Auch Macht und Herrschaft werden im Kapitalismus nicht einfach durch direkte Gewalt, sondern verschleiert durch den Tausch und das Geld vermittelt. Wer mehr Geld hat, kann mehr von den Arbeitsprodukten anderer kaufen. Oder auch Arbeitskräfte anstellen und in der Arbeitszeit über sie verfügen. Da die meisten Menschen mehr oder weniger darauf angewiesen sind, dass sie oder Angehörige ihre Arbeitskraft verkaufen, gibt es oft ein starkes Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (Heinrich 2018: 87-89; Adorno 1969: 25).

4. Kapitalismus

Doch Kapitalismus ist nicht einfach eine Marktwirtschaft, in der verschiedene Waren-Produzenten ihre Arbeitsprodukte mittels Geld gegeneinander tauschen. Das wäre auch nur möglich in Gesellschaften mit sehr geringer Arbeitsteilung. Nach Karl Marx zeichnet sich der Kapitalismus durch die Vorherrschaft des ökonomischen Prinzips aus, dass Geld in die Hand genommen wird, um mehr Geld zu generieren. Kapitalistische Produktion ist also nicht in erster Linie darauf ausgerichtet, allgemeine Bedürfnisse wie die Versorgung aller Menschen mit Nahrungs- und Verhütungsmitteln sicherzustellen und die Umwelt zu schonen. Das Ziel von Investition ist, Profit zu erzielen (Marx 1972: 169f).

Unternehmen nehmen Kredite auf und kaufen mit diesem Geld Produktionsmittel, z. B. Computer, Maschinen oder natürliche Ressourcen. Außerdem stellen sie Arbeitskräfte ein. So sollen neue höherwertige Waren produziert und verkauft werden, um die Kosten zu decken, die Kredite zu bedienen und Profit zu erwirtschaften. Der Gewinn der Unternehmen beruht darauf, dass der Lohn der Arbeitskräfte nicht dem Wert entspricht, den sie durch ihre Arbeit neu geschaffen haben. Auch wenn der Lohn als fair empfunden wird, ist die Aneignung des Mehrwerts Ausbeutung (Marx 1972: 169f; Heinrich 2018: 78-80).

Im Kapitalismus stellt das äquivalente Tauschprinzip eine alles durchdringende Totalität dar, die ungeheure Antagonismen verschleiert und gar als normal und naturgegeben erscheinen lässt. Alle Dinge und auch Arbeitskraft werden zu tauschbaren Ware werden. Kapital ist für Marx bewegter Wert, der zwischen Warenform und Geldform wechselt uns sich dabei vermehrt. Dies drückte er in der Kapitalformel G-W-G’ also Geld-Ware-mehr Geld aus. Die Menschen, die diese gesellschaftliche Funktion des Kapitals ausführen, werden demnach auch als Kapitalisten und Kapitalistinnen bezeichnet und bilden die Kapitalistenklasse. Haushalte, die vor allem davon Leben, dass sie ihre Arbeitskraft verkaufen, werden hingegen als Arbeiterklasse gefasst. Diese groben Kategorien sagen nichts über die kulturellen Vorlieben oder moralischen Werte der Einzelnen aus, sondern ergeben sich aus ihrer Stellung zum gesellschaftlichen Produktionsprozess (Marx 1972: 169f; Heinrich 2018: 86-88; Adorno 1969: 13, 25).

4.1. Akkumulation

Neben dem Anreiz, höhere Profite zu erzielen, drängt die Konkurrenz um Marktanteile die Kapitalisten zur Akkumulation. Das heißt, dass ein Teil des Gewinns zur Ausweitung der Produktion in neue Produktionsstätten und arbeitssparende Technik investiert wird. Technischer fortschritt führt im Kapitalismus nicht unbedingt zu mehr Freizeit, sondern birgt die Gefahr der Arbeitslosigkeit und der Überflüssigkeit des Menschen (Luxemburg 1923: 9; Heinrich 2018: 83, 122-125; Adorno 2019: 11f).

Auf dem Markt gilt: Grow or Die – nur kleine Unternehmen in wenig profitablen Nischen entgehen diesem Wachstumsimperativ. Der Monopolkapitalismus ist in der freien Konkurrenz schon angelegt (Magdoff & Foster 2011: 43).

4.2. Rolle des Staates

Kapitalistisches wirtschaften floriert am besten wenn ein Staat Vertragssicherheit, Eigentumsrechte und ein stabiles Geld garantieren kann. Wie Kapitalismus ohne Rechtsstaat aussieht wird in den Machenschaften krimineller Familienclans, Drogenkartelle oder Warlords sichtbar (Harvey 2003: 92).

Um handlungsfähig zu sein sind Staaten meist auf die Besteuerung von Unternehmen angewiesen. Gleichzeitig ist der (National-) Staat oder auch die Europäische Union die Ebene auf der der Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital eingeht und Klassenkomprimisse ausgehandelt werden. Dabei spielt die Regulation von Migration auf verschiedene Weise eine Rolle (Georgi 2016: 196).

5. Migrationsregime

Unternehmen wünschen sich günstige, gut Ausgebildete und disziplinierte Arbeitskräfte und eine Reserve an flexibel einsetzbaren Arbeitslosen. So kann beispielsweise in einer Situation des Mangels an Arbeitskräften oder zukünftigen Kunden Einwanderung die Wirtschaft ankurbeln und dem Profitinteresse einiger Kapitalfraktionen dienen (Georgi 2016: 196).

Arbeiterinnen und Arbeiter wollen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihre Arbeitszeit und -kraft zu möglichst guten Bedingungen verkaufen. Sie haben also generell ein Interesse an guten Löhnen, sozialer Absicherung und konkreter Mitgestaltung des Arbeitsprozesses z. B. durch Gewerkschaften und Betriebsräte (Georgi 2016: 196).

Je nach historischer Situation können migrantische Arbeitskräfte als Konkurrenz wahrgenommen. Oft ist es jedoch so, dass Migrantinnen und Migranten auf dem Arbeitsmarkt schlechter gestellt sind. Dies liegt einerseits an Sprachbarrieren, aber auch an der rechtlichen Lage. Wird eine Arbeitserlaubnis erteilt? Werden Qualifikationen, wenn sie vorhanden sind anerkannt? Allerdings gibt es auch eine rassistischen Hierarchisierung der Arbeit. So werden tatsächlich oder scheinbar Zugewanderten eher Arbeiten zugewiesen, für die sich eingesessene Arbeitskräfte zu schade sind (Georgi 2016: 196-198).

Die Stabilität von Klassenherrschaft und Ausbeutung beruht darauf, dass auch die Beherrschten einen Vorteil darin sehen. Vor allem in westlichen Industriestaaten wurde nach der großen Depression Anfang des 20. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg die Märkte stark institutionell eingebettet. International durch die Etablierung des Bretton-Woods-System mit dem damals goldgedeckten Dollar als Leitwährung, festen Wechselkursen und Kapitalverkehrskontrollen und interventionistischer Fiskalpolitik konnten bis in die 1970er-Jahre zumindest in den kapitalistischen Zentren Wirtschaftskrisen abgewenden und ein stabiles Wachstum erreicht werden. Ich werde darauf zurückkommen. Auf nationaler Ebene wurden relativ stabile Klassenkompromisse gebildet, die die soziale Ungleichheit milderten (Georgi 2016: 198-200).

So wird Geld nicht nur innerhalb der arbeitenden Klasse durch die progressive Einkommensteuer umverteilt. Mit steigende Löhne und Steuern wird zumindest ein Teil des vom Kapital angeeigneten Mehrwert, also der Gewinne nach unten verteilt. Das Modell ist jedoch nicht nur territorial, sondern auch personell begrenzt. So könnte eine unregulierte Zuwanderung von Menschen, die nicht profitabel in die kapitalistische Wirtschaft integriert werden können, die Profitrate des Kapitals gegen null Senken lassen. Auch könnten die global gesehen wirtschaftlichen Privilegien der Arbeitenden in diesen Staaten gefährdet werden. Dieser durch die Struktur von Kapitalismus und Nationalstaaten bedingte Ausgrenzungsimperativ drückt sich oft in rassistischen Mustern aus. Ähnlich wie das patriarchale Geschlechterverhältnis kann auch Rassismus auch als Herrschaftsverhältnis verstanden werden, welches die Verteilung von Macht und Ressourcen strukturiert (Georgi 2016: 198-200).

Anders als Rassismus stellt Antisemitismus letztlich ein Welterklärungsversuch dar, der reale Gegebenheiten und Ereignisse mit Wahn vermischt. Dabei wird die Schuld an unbegreiflichen Gefahren und Leid, welches durch Wirtschaftskrisen oder Naturphänomenen ausgelöst wird, auf Juden oder eine allumfassende Verschwörungen projiziert. Deshalb ist Antisemitismus auf die Vernichtung von Menschen aus (Marz 2017: 261).

6. Herrschaft des “Automatischen Subjektes” – Eigendynamik des Kapitalismus

Nicht nur einzelne Kapitale, auch die gesamte kapitalistische Wirtschaft unterliegt einem ökologisch höchst bedenklichen Wachstumsimperativ. Schwinden die Aussichten auf Wirtschaftswachstum und somit die Möglichkeiten, Kapital gewinnbringend zu investieren oder schon produzierte Waren zu verkaufen, verlieren die Waren und das Kapital ihren Wert. Werden daraufhin viele Arbeitskräfte entlassen, sinken nicht nur die gezahlten Löhne, sondern auch die effektive Nachfrage, was die weitere Entwertung von Kapital und schließlich eine Wirtschaftskrise zur Folge haben kann. Da Unternehmen durch die Zwänge der Konkurrenz dazu getrieben werden, die Löhne zu drücken und gleichzeitig das Angebot auszuweiten, übersteigt immer wieder das Angebot die Nachfrage so sehr, dass Überakkumulationskrisen ausgelöst werden (Harvey 2003: 109-111).

In den kapitalistischen Zentren löste die Übersättigung der Märkte in den 1970er-Jahren eine Krise aus, die zu hoher Inflation (also der Entwertung von Geld) und Arbeitslosigkeit führte. Politische Forderung nach weiteren sozialdemokratischen Reformen, der Erhöhung der effektiven Nachfrage durch staatliche Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der weltweiten Arbeiterklasse oder gar die Überwindung des Kapitalismus zugunsten einer demokratischen Organisation der Produktion wurden von den herrschenden Klassen mit einer Intensivierung des Klassenkampfs von oben beantwortet. Durch neoliberale Reformen sollten der Markt liberalisiert und für das überschüssige Kapital neue profitable Anlagemöglichkeiten geschaffen werden. (Harvey 2005: 10-13)

Seit dem nahm die Bedeutung der Finanzmärkte an denen vor allem auf Gewinne durch zukünftige Ausbeutung spekuliert wird stark zu. Öffentliches Eigentum z.B. an Wohnraum und Land von Kleinbauern und Indigenen wurden enteignet und in die Kapitalverwertung eingebunden. Der Kapitalismus breitet sich auch in immer mehr Bereiche der Lebenswelt aus (Harvey 2003: 151-153).

Auf die ehemals kolonisierten Länder, deren Wirtschaft meist auf die Produktion von Rohstoffen ausgerichtet waren und die sich durch Auslandsverschuldung in neue Abhängigkeiten begeben haben, wurde von allem den USA zusammen mit dem Internationalen Währungsfond starker Druck ausgeübt, unabhängig von den lokalen Gegebenheiten ihr Märkte für Warenimporte und ausländische Direktinvestitionen zu öffnen. Gesättigte Märkte erschweren jedoch oft die Erhaltung oder Etablierung lokaler wirtschaftlicher Strukturen, da diese auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig sind. Auch sogenannte Entwicklungshilfe wird teilweise als Druckmittel für wirtschaftspolitische Interessen eingesetzt und sind an Bedingungen wie privilegierte Marktzugänge bis zum Kauf von Waren aus den Geberländern oder der Grenzsicherung geknüpft. So wurde zum Teil vor allem die Wirtschaft der Geberländer und die Abhängigkeit der Empfängerländer untermauert. Der Exportüberschuss eines Wirtschaftsraums ist die Auslandsverschuldung eines anderen (Harvey 2003: 152-155).

Jedoch konnten sich einige ehemals importabhängige Staaten zu Nettoexporteuren Entwickeln. So bedrohten Deutschland und Japan vom Marshallplan gestärkt, in letzter Zeit jedoch vor allem China, wo das schlimmste aus Kapitalismus und Sozialismus erfolgreich vereint wurde, die Hegemonie der USA (Harvey 2003: 154f).

Die immer wieder auftretenden verheerenden Krisen und Abwertungen von ganzen Regionen führen nicht etwa zur Destabilisierung des Kapitalismus, sondern schaffen immer wieder neue billige und profitable Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital. (Harvey 2003: 128).

Die Ungleichheit innerhalb und zwischen Regionen nahm seit den 1970er-Jahren stark zu (Harvey 2005: 16). In Deutschland besitzen 1 % fast 18 % des Vermögens, also Kapital welches Einkommen generiert. Weltweit ist es so, dass inzwischen die 8 reichsten Menschen mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Dies spiegelt sich auch in den Einkommen wieder (nevensuboticstiftung.de 2021).

Dieses Maß an Ungleichheit an Wohlstand und Macht hat nichts mit Leistungsgerechtigkeit zu tun und ist alles andere als normal. Tatsächlich handelt es sich um ein historisches Novum und eine Schande für die Menschheit (nevensuboticstiftung.de 2021). Extreme Armut ist keine Tragödie, sondern ein Verbrechen.

Die Politik des “freien Marktes” nützt vor allem dem Monopol- und Finanzkapital (Harvey 2003: 130, 153). In der neoliberalen Rhetorik bedeutet Freiheit sich als Vereinzelter den kalten Mechanismen des Marktes zu unterwerfen. Im Zweifelsfall wird das eigene Ich kreativ und flexibel zur Selbsterhaltung aufgeben (Küpper 2009: 131f). Die Kategorie des mündigen Bürger wird von der des bewussten Konsumenten abgelöst. Kunden und Kundinnen sind jedoch finanziell höchst ungleich ausgestattet, werden stetig mit Reklame manipuliert und stehen auch unter Konkurrenzdruck.

Die Idee des bewussten Konsums ist nichts anderes als die Entpolitisierung und Privatisierung der Lösung der Probleme der Welt. Das ist nicht nur eine Überlastung des Individuums sondern auch das Gegenteil von Demokratie.

Über die Freiheit die ökonomischen Umstände bewusst demokratisch zu beeinflussen und auszuhandeln – was, wo, unter welchen Bedingungen produziert und verteilt wird – über diese Freiheit müssen wir mehr reden.

7. Grenzen überwinden

Das vermeidbare Leid, das durch die andauernde Herrschaft von Menschen über Menschen und der Unterwerfung des gesellschaftlichen Ganzen unter die unbewusste Eigendynamik des Marktes verursacht wird, zeigt sich oft besonders deutlich an den Grenzen. In dem heutigen kapitalistischen und rassistischen Weltsystem sind Migrationspolitiken und Grenzen immer mit Gewalt, Entwürdigung und der Vererbung von Privilegien verbunden (Georgi 2013: 24).

Wie viele Menschen beim Versuch nach Europa zu gelangen im Mittelmeer ertrunken sind weiß keiner so genau.

Nimmt man das Christentum oder die Idee der Aufklärung ernst, das alle Menschen so unterschiedlich sie sein mögen, frei und gleich an Würde geboren sind, ist der Zustand der Welt eine Katastrophe (Benjamin 2010: 711).

Doch wie ließe sich die Situation an den Grenzen nachhaltig entschärfen?

Der Charakter von Grenzen wird durch ihre Rahmenbedingungen stark geprägt. Sie werden vor allem dann zu einem Faktor für Menschenrechtsverletzungen wenn auf beiden Seiten sehr unterschiedliche soziale, ökonomische und rechtliche Standards gelten (Rosado et al. 2016: 9).

Die Frage nach weicheren, gar offenen Grenzen und globaler Bewegungsfreiheit ist also die Frage nach einer global gerechteren und freieren Gesellschaft. – Um zu zeigen das dies, wenn es denn gewollt wäre, sehr wohl möglich und mittelfristig erreichbar ist ohne eine weitere Katastrophe auszulösen, möchte ich nun einige wirtschaftspolitische Ansätze präsentieren.

7.1. Politische Bedingungen

So gilt es weltweit Bestrebungen zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten und gegen Korruption zu unterstützen.

7.2. Wirtschaftliche Bedingungen

Sollen westliche Werte jedoch nicht nur als eine Phrase zur Durchsetzung von Kapitalinteressen erscheinen, muss die Dominanz des Kapitalismus gebrochen werden. Von Freiheit und Demokratie kann nur gesprochen werden, wenn demokratische Aushandlungsprozesse auf betrieblicher, staatlicher, gar globaler Ebene die wirtschaftliche Sphäre entscheidend beeinflussen. So können andere solidarischere und ökologisch nachhaltigere Wirtschaftsweisen etabliert werden. Armut, Krisen und starke ungleiche wirtschaftliche Entwicklungen vermieden und die Konkurrenz zwischen Staaten verringert werden.

Aber wie soll das gehen? Wenn das Kapital doch so viel Macht hat und die Arbeitskräfte nicht im Stande sind, sich global solidarisch zu organisieren? Neben Klassenkämpfen auch auf internationaler Ebene, liegt, wie schon Marx wusste, Transformationspotenzial in unserem Geld (Marx 1979: 621).

7.3. Modernes Geld und Emanzipation

Geld ist nicht nur eine Tauschware wie Gold, Kamele oder Bitcoin. Modernes Geld entsteht bei der Vergabe von Krediten und verschwindet bei deren Tilgung wieder. Geld kommt also nur durch Verschuldung in den Wirtschaftskreislauf (Ehnts 2020: 49). Die Vermögen der einen sind die Schulden der anderen. Verbuchen die privaten Haushalte und Unternehmen einer Volkswirtschaft Gewinne, muss sich entweder der Staat oder das Ausland verschulden. Möchte der Staat sich nicht verschulden oder gar sparen, also mehr Steuern einnehmen als Geld ausgeben, müssen sich private Haushalte, Unternehmen oder das Ausland verschulden. Das deutsche Wirtschaftsmodell ist derzeit darauf ausgelegt, das sich der Rest Europas verschuldet (Ehnts 2020: 172).

Staaten setzen die Rahmenbedingungen, unter welchen private Geschäftsbanken Kredite vergeben und dabei privat Geld schöpfen können (Hubert 2018: 65). Da Geschäftsbanken ein profitinteresse haben und wenn sie schlecht wirtschaften pleite gehen, verlangen sie Zinsen und vergeben Geld vor allem an kapitalistische gewinnorientierte Unternehmen. Wirtschaftliche Vorhaben die sich am Gemeinwohl orientieren und nicht auf Wachstum ausgerichtet sind haben deshalb weniger Chancen an Geld zu gelangen. Somit haben kapitalistisch agierende Akteure einen privilegierten Zugriff auf wirtschaftliche Ressourcen (Ament 2019: 5).

In der Mitte der heutigen Geldsysteme steht eine staatliche Zentralbank. Diese kann den Staaten technisch gesehen unbegrenzt viel Geld in eigener Währung zur Verfügung stellen (Gudehaus 2016: 3f).

Für Staaten die nicht in Fremdwährung verschuldet sind gilt dabei Folgendes. Solange Arbeitskraft und Produktionsmittel vorhanden sind die nicht vom privaten Sektor, also vor allem den Unternehmen beansprucht werden, lösen erhöhte öffentliche Geldschöpfung und erhöhte Staatsausgaben keine Preissteigerungen bzw. Inflation aus. Andernfalls werden Güter knapp und die Preise steigen (Kelton 2020: 62f).

Ist ein Staat jedoch, wie die meisten Länder des Südens in ausländischer Währung, vor allem Dollar aber auch Euro verschuldet, würde öffentliche Geldschöpfung durch die Zentralbank zu einer Abwertung der eigenen Währung und damit zur Verteuerung ausländischer Produkte führen (Kelton 2020: 62f).

Staaten und Staatsgebilde wie die Europäische Union die keine Schulden in Fremdwährung haben könnten durch öffentliche Geldschöpfung und gezielte Besteuerung Geld und wirtschaftliche Ressourcen aus kapitalistischen Produktionszusammenhängen lösen und anderen Wirtschaftsstrukturen stärken. So würde die Marktwirtschaft, die ja auch ihr Gutes hat, nicht mehr die Gesellschaft vor sich hertreiben, sondern nur noch eine Wirtschaftsweise neben vielen anderen sein (Ehnts 2017: 91).

Endlich unterliegt es keinem Zweifel, dass das Kreditsystem als ein mächtiger Hebel dienen wird während des Übergangs aus der kapitalistischen Produktionsweise in die Produktionsweise der assoziierten Arbeit; jedoch nur als ein Element im Zusammenhang mit anderen großen organischen Umwälzungen der Produktionsweise selbst.” (Marx 1979: 621)

Auch heute gibt es eine Vielzahl verschiedener Wirtschaftsformen, die nicht der Logik des Kapitalismus folgen, ihr gegenüber aber marginal sind. Einerseits natürlich der öffentliche Sektor – aber auch das Ehrenamt, Commons wie Wikipedia, Stiftungen, Kirchgemeinden, Foodkorps, Kleingartengenossenschaften, Sportvereine oder auch ernsthafte Umwelt- und Klimaschutzprojekte, die nur Kosten, aber keinerlei Einnahmen generieren.

Auf internationaler Ebene müssten vor allem die USA, deren Dollar gerade als Weltgeld fungiert, aber auch die Europäische Union sowie Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen und Exportüberschüssen, also auch China oder die Golfstaaten, entsprechende Gelder an Länder mit Außenhandelsdefiziten und Auslandsschulden bereitstellen, um deren Souveränität zu stärken. Um Abhängigkeiten und wirtschaftlichen Instabilitäten entgegenzuwirken, wäre es jedoch besser, tatsächlich ein richtiges Weltgeld einzuführen (Herr 2015: 252-254).

7.4. Kooperativer Handel

Zur globalen Angleichung des Lebensstandards sollten Länder des Südens eine Zeit lang einen moderaten Exportüberschuss und stark industrialisierten Länder einen moderaten Importüberschuss anstreben. Langfristig sollten die Außenhandelsbilanzen ausgeglichen sein und Staatsverschuldung in Fremdwährung vermieden werden. Dazu ist eine gewisse Internationale wirtschaftliche Kooperation und Absprache nötig (Herr 2015: 252-254).

8. Fazit

Eine Stärkung der Demokratie in der politischen und wirtschaftlichen Sphäre, die Etablierung nicht-kapitalistischer Wirtschaftsweisen durch öffentliche Geldschöpfung und gezielter Besteuerung kapitalistischer Unternehmen sowie ein kooperativer Internationaler Handel. Dies können mit Blick auf die Ökonomie wichtige Ansatzpunkte sein, zur weiteren Verwirklichung der individuellen Freiheit der Menschen nach Glück zu streben. So können Bedingungen geschaffen werden, in denen Grenzen dauerhaft geöffnet und vielleicht gar abgebaut werden können.

Tatsächlich sind diese Vorschläge alles andere als utopisch, sondern jetzt schon Teil des kapitalistischen Normalbetriebs. So setzen auch große Unternehmen nicht nur wegen dem Druck der Gewerkschaften, sondern auch um die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen und somit die Produktivität zu steigern auf partizipatorische Strukturen. Die Eigentumsverhältnisse werden dabei jedoch nicht angetastet. Verträge über den internationalen Handel, Import- und Exportbeschränkungen sowie zwischen staatliche Kreditvergabe werden schon heute nicht nur bilateral zwischen zwei Ländern, sondern auch multilateral in der Welthandelsorganisation und dem Internationalen Währungsfond ausgehandelt. Schon 1944 wurde in den Bretton-Woods Verhandlungen über ein Weltgeld diskutiert. Dieses Jahr ist eine globale Mindeststeuer für Unternehmen zumindest auf der Agenda. Und dass Zentralbanken Geld schöpfen, um öffentliche Ausgaben zu finanzieren, passiert nicht erst seit der Corona-Krise.

9. Ausklang

Die menschliche Existenz wird auf persönlicher, aber auch gesellschaftlicher Ebene immer von Widersprüchen und Problemen geprägt sein. Das streben nach vollkommener sozialer Harmonie führt, wie der faschistische und stalinistische Terror des 20. Jahrhunderts brutal zeigte, zu Konformitätsdruck, Zwang und Tod.

Gesellschaftliche Lebensformen können jedoch an ihrer Fähigkeit, auf Probleme zu reagieren, gemessen werden (Jäggi 2018: 64). Mit der Zunahme der weltweit grassierenden sozialen, ökologischen und ökonomischen Krisen und Ungerechtigkeiten wurden auch die Grenzen dieser Welt in den letzten Dekaden wieder undurchlässiger und tödlicher. Rassismus, Autoritarismus und Abschottungspolitik sind nicht nur, aber eben auch hässliche Symptome der Widersprüche und Krisen des globalen Kapitalismus (Georgi 2016: 198-200).

Eine andere Welt ist möglich.

 

 

 

 

 

 

10. Literaturverzeichnis

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11. Internetquellen

https://nevensuboticstiftung.de/blogs/absolute-armut-weltweit-auf-dem-ruckzug