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Hier unten findet ihr alle Reden, die wir auf verschiedenen Veranstaltungen gehalten haben.

Rede zum NSU-Anschlag auf der Keupstraße in Berlin

“Bizimde basimiza gelebilirdi” – Ich bin erstaunt, von den Reaktionen meiner Familie als ich sie auf den Terroranschlag in der Kölner Keupstraße ansprach. Überall sitzt der 09. Juni 2004 wie ein Dolch in unserem Rücken und tropft bei dem Versuch ihn rauszuziehen und zieht eine lange Spur mit sich. Der Fakt, dass sich die Generationen, die teilweise schon wieder in die Türkei zurückgegangen sind, immer noch mit Tränen in den Augen an diesen Tag erinnern, während in Deutschland weiter business as usual gemacht wird, zeigt: Unsere Lebensrealitäten – die Lebensrealitäten der Migrant*innen, der postmigrantischen Generation – wird nicht gesehen, geschweige denn ernstgenommen!

Ich spreche hier in Demut vor allen Anwohner*innen der Keupstraße und allen Überlebenden dieses Terroraktes des Nagelbombenanschlags am 9. Juni 2004. Ich spreche in Demut vor allen Menschen, die Opfer des NSU und die Opfer rechter und rassistischer Gewalt wurden. Erinnern heißt kämpfen! Kämpfen gegen Rassismus, der in diesem Land System hat!

Hamburg, Duisburg, Schwandorf, Lampertheim, Mölln, Solingen, Stuttgart, Lübeck, Rostock Lichtenhagen, Hoyerswerda, die Kölner Probsteigasse, München, Halle, Hanau etc. so viele Morde und Mordversuche können keine Einzelfälle sein, so viele Morde und Mordversuche haben uns gezeigt: Wir können uns im Kampf gegen Nazis auf Almanya nicht verlassen!

Nach erneuter Überprüfung ungeklärter Tötungsdelikte ermittelte man nun eine Zahl von 746 Fällen mit möglicher rechter Tatmotivation. In Anbetracht dieser Zahlen stellt sich die Frage, warum bei durchschnittlich neun von zehn Nazimorden der politische Hintergrund nicht ermittelt wurde? Und warum die vielen Mordopfer des NSU oder die Verletzten der Bombenattentate in der Keupstraße weder juristisch, medial, politisch oder behördlich als Opfer rassistischer Gewalt
gesehen wurden? Warum existiert bis heute kein Unrechtsbewusstsein über die Folgenlosigkeit permanenter Angriffe auf Migrant*nnen? Warum konnte der NSU jahrelang ungestört Migranten umbringen? Der NSU war nicht zu dritt und komm mir erst gar nicht mit NSU 2.0 wenn NSU 1.0 noch nicht Mal richtig beendet und aufgeklärt ist!

Vor 19 Jahren flogen hier auf der Keupstrasse über 800 glühend heiße Nägel mit über 770kmh durch die Gegend. Aber Innenministerium und Polizei waren sich einig: diese unmenschliche und kaltblütige Waffe kann nicht von Nazis kommen. Von Bundesinnenminister Otto Schily hieß es nur einen Tag später, dass ein rechtsextremistischer Anschlag auszuschließen sei und die Täter im kriminellen Milieu zu suchen seien. Übersetzt hieß das, es wurden keine Deutschen, sondern nur noch vermeintliche Ausländer verdächtigt. Migrantische junge Männer würden kriminalisiert und beschuldigt, Türen eingetreten, Telefonate abgehört. Selbst den Schwerverletzten entnahm die deutsche Polizei DNA-Proben und schüchterte sie ein, zu sprechen. Das offensichtliche Motiv dieser Tat wurde verschleiert und Hass, Misstrauen und Zwiespalt in die Gesellschaft gesät. Was mit der Bombe begann, wurde durch rassistische Polizeiermittlungen, Täter-Opfer-Umkehr, rassistische Berichterstattungen, und dem
Ausbleiben solidarischer Unterstützung der Kölner Öffentlichkeit zu einer zweiten Bombe für die Anwohnerinnen der Keupstraße und allen Migrantinnen in Deutschland. Warum schien es niemand zu stören, wenn die Opfer dieser Gewalt durch die Medien, die gewählten Volksvertreter*innen und die Ermittlungsbehörden selber zu Tätern erklärt und in Folge drangsaliert und kriminalisiert wurden?

Die Überlebenden und Angehörige brauchten nicht erst die Selbstenttarnung des NSU um das Motiv hinter diesen Taten zu erkennen. Warum hörte niemand auf die Stimmen der Migrant*innen, für die die Täter klar waren?  Deutschland muss aus dem Fiebertraum aufwachen, dass der NSU nur zu dritt wäre. Ich nenne es “Kollektives Gaslighting”, was unsere Leute seit den 70ern frisst.

Heuchlerei nenne ich es, wenn ihr jetzt mit ausgestrecktem Finger auf uns, die Ausländer zeigt und sagt wir sollen uns integrieren, wir integrieren uns nicht in euer System, wo Rassisten gedeckt und unterstützt werden und wir selbst als Opfer kriminalisiert werden! Ihr seid nicht unser Freund und Helfer, ihr seid nicht unsere Integrationsbeauftragten, ihr hört uns seit Jahrzehnten nicht zu, aber wir werden so lange laut sein bis es in eure Köpfe reingeht!

Heuchlerei nenne ich es, wenn von “linken Politiker*innen” Rassismus nur in den USA verortet wird, Die Forderung nach “Nie wieder” muss praktisch werden, schau nicht weg Almanya, leugne uns und den Rassismus den wir tagtäglich leben nicht, du warst und bist nicht unschuldig und du wirst dich noch jeden weiteren Tag schuldig machen, an dem du das nicht erkennst! Almanya, Du bist mitverantwortlich für NSU und ihre Morde, deine Hetze gegen uns können wir riechen. Solange -egal in welcher Form- von Integration gesprochen wird, solange wird es keine Empathie gegenüber uns geben können.

Heuchlerei nenne ich es auch, wenn die Stadt Köln in Vergangenheit mit Lichterketten an diesen Tag erinnern wollte: so wart es doch ihr die wie selbstverständlich die Täter unter den Bewohnern der Keupstraße selbst gedacht hat zu finden und somit die Hetze erst begonnen hat. Wir wollen uns als wertiger Teil dieser Gesellschaft fühlen dürfen, und das nicht nur, wenn wir Geld bringen und hier als Gäste in euren Fabriken 14 Stunden Schichten arbeiten sollten, sondern auch wenn unser Essen, unsere Musik, unsere Kunst, unsere Geschichten, unser Schmerz, unsere Meinungen und und unsere Stimmen wertgeschätzt und respektiert werden.

Der Herkezin Meydani als antirassistisches Mahnmal ist eine Erinnerung, die die Betroffenen selbst erkämpfen mussten. Es hängt an den Betroffenen, an diesen Tag zu erinnern, aufzuklären, Gerechtigkeit wiederherzustellen und politische Konsequenzen zu fordern. Dabei mussten sie sich gegen die neoliberalen Eigentümer des Geländes stellen, und die Kölner Politiker*innen und Verwaltungen zogen sich aus der Verantwortung. Nach dem Motto Geld regiert Köln, wurde nicht verstanden, dass dieses Mahnmal ein Geschenk für die ganze Stadt Köln ist und dass das öffentliches Interesse mehr wiegt als Privatinteressen der Gentrifizierer. Henriette Reker, auch Sie waren dabei, auch Sie standen nicht hinter uns und wir werden das nicht vergessen!

Wie auch momentan in Hanau, wo die Familienangehörigen immernoch darum kämpfen müssen, ein Denkmal für die Opfer des 19. Februars auf den Marktplatz stellen zu dürfen, wurde auch hier in Köln einem würdigen Ort des Gedenkens gegen Rassismus Steine in den Weg gelegt. Almanya, hör endlich auf, Steine in unsere Wege zu legen, die Betroffenen scheuen keine Kosten und Mühen, diesen Gedenkorten Leben zu verleihen, es ist unser Recht auch außerhalb vom Privaten – sichtbar für Alle – trauern zu können! Macht uns und unseren Schmerz nicht unsichtbar! Almanya, mach den Weg frei – wir übernehmen die Erinnerungsarbeit, die du anscheinend nicht schaffst! Du hast nicht geschafft, deine Kolonialgeschichte aufzuarbeiten, du hast nicht geschafft, den Nationalsozialismus aufzuarbeiten, du hast nicht geschafft, die GastarbeiterInnen Geschichte aufzuarbeiten, du hast nicht geschafft den NSU aufzuarbeiten, du versäumst jeden Tag dieses kalte Land für Alle ein wenig wärmer zu machen. Mach wenigstens den Weg frei und lass uns unsere eigenen Räume der Aufarbeitung schaffen!

Die Betroffenen von rassistischer Gewalt müssen die Erinnerung selbst organisieren und sind dabei auf solidarische Menschen in der Stadtgesellschaft angewiesen. Wir müssen die Erinnerungspolitik der Mehrheit in Frage stellen, wir müssen unsere eigene Geschichte schreiben und wir dürfen nicht vergessen, wer dabei hinter uns stand und wer nicht! Dieser Platz sagt: Vergesst nicht! Dieser Platz sagt: Kommt zusammen und redet darüber! Ich konnte durch die Erzählungen meiner Familie erkennen, dass wir mehr miteinander reden müssen, und will Migrantinnen der 2. oder 3. oder 4. Generation ermutigen, mit ihren Eltern und Großeltern über erlebten Rassismus in Deutschland zu sprechen. Wir als Migrantinnen in Deutschland, wir als Ausländer, dürfen nicht mehr unseren Schmerz in uns reinfressen und unterdrücken! Bei all unserem Hass Leid und Schmerz in unseren Herzen, will ich an unser Zusammenheitsgefühl erinnern. Wir – also auch die Migrantinnen und Migranten, die im Jahr des Nagelbombenanschags noch Babys oder noch nicht geboren waren – haben mit dem Herkezin Meydani endlich einen Ort, in dem wir unser Leid teilen können und wir uns alle Betroffen machen können, auch Menschen die in diesem Land vielleicht nicht von Rassismus – aber von vererbter Schuld betroffen sind.

Danke an die
Anwohner der Keupstrasse
Angehörige aller Opfer rassistischer Gewalt
Initiative »Herkesin Meydanı — Platz für Alle«
Initiative „Keupstraße ist überall“
Tribunal „NSU-Komplex auflösen“

Wir von Migrantifa Köln stehen in vollster Solidarität hinter euren Forderungen “Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und politische Konsequenzen”. Volle Solidarität mit den Anwohner*innen dieser Straße und antirassistischen Gedenkinitiativen.

Danke für das Durchhaltevermögen. Danke für die Schaffung dieses Raums. Danke für diesen neuen Treffpunkt, an dem ich mich – und ich glaube, da spreche ich auch für andere Kinder von Migrantinnen und Migranten – fühle, als könnte ich diesen Schmerz und Hass in mir mit jemandem teilen, der versteht! Diese Straße wurde lang genug von außen stigmatisiert, ich bin froh, dass wir uns diese Straße zurückgeholt haben und jetzt selbst die Macht haben, hier ein Miteinander zu schaffen! Dies ist ein Erfolg für den Kampf gegen Rassismus in Almanya!